Matthias Mühling ZUR EINFÜHRUNG. Annegret Hoberg ALFRED KUBIN UND DER BLAUE REITER Phantastisches und Seelisches verbinden

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Transkript:

6 Matthias Mühling ZUR EINFÜHRUNG 10 Annegret Hoberg ALFRED KUBIN UND DER BLAUE REITER Phantastisches und Seelisches verbinden 50 Daniel Oggenfuss AUS MEINER WERKSTATT Zeichenutensilien und Technik in Kubins Frühwerk 58 66 78 98 108 130 148 166 176 186 194 196 202 206 210 214 220 234 242 254 270 272 276 280 286 294 300 304 Matthias Mühling und Annegret Hoberg DAS KUBIN-ARCHIV IM LENBACHHAUS TAFELTEIL Alfred Kubin Die Anfänge Alfred Kubin Das Frühwerk 1899 1904 Alfred Kubin Kleisterfarben- und Temperabilder 1905 1908 Alfred Kubin Die Andere Seite 1909 Alfred Kubin Sansara und Blauer Reiter Wassily Kandinsky Gabriele Münter Paul Klee Franz Marc Alexej von Jawlensky Marianne von Werefkin Eugen von Kahler August Macke Heinrich Campendonk DREI MAPPENWERKE ALFRED KUBINS Hans von Weber-Mappe 1903 Sansara Ein Cyklus ohne Ende 1911 Der Prophet Daniel 1918 BRIEFWECHSEL ALFRED KUBINS MIT DEN KÜNSTLERN UND KÜNSTLERINNEN DES BLAUEN REITER Wassily Kandinsky Alfred Kubin Franz Marc Alfred Kubin Maria Marc Alfred Kubin Marianne von Werefkin Alfred Kubin Gabriele Münter Alfred Kubin Paul Klee Alfred Kubin Biographie Alfred Kubins Liste der ausgestellten Werke Verzeichnis der veröffentlichten Briefwechsel Alfred Kubins Impressum

ALFRED KUBIN UND DER BLAUE REITER Phantastisches und Seelisches verbinden Annegret Hoberg Der Blaue Reiter, jener bekannte Künstlerkreis um Wassily Kandinsky, Franz Marc, Gabriele Münter, August Macke und Paul Klee, bildete sich am 2. Dezember 1911 in München, als Kandinsky, Marc und Münter nach einem Streit aus der vorangehenden Gruppe der Neuen Künstlervereinigung München austraten und eine eigene Ausstellung organisierten. 1 In der Literatur zur Geschichte des Blauen Reiter wird Alfred Kubin häufig als eines der ersten Gründungsmitglieder mitgenannt, ohne dabei näher zu betrachten, in welcher Verbindung der bereits seit 1906 nicht mehr in München, sondern in ländlicher Zurückgezogenheit in Zwickledt in Oberösterreich lebende Zeichner mit der Künstlergruppe stand und welche Vorgeschichte persönlicher und künstlerischer Beziehungen die Kerngruppe des Blauen Reiter dazu bewog, noch am Tag ihres Austritts Kubin sofort durch einen Brief Gabriele Münters zum Mitmachen aufzufordern. 2 Lange war gänzlich in Vergessenheit geraten, dass der junge Österreicher Alfred Kubin, der 1898 im Alter von 21 Jahren nach München gekommen war und dort in den nächsten Jahren sein aufsehenerregendes Frühwerk mit den packenden Darstellungen psychischer Ängste und sexueller Zwangsvorstellungen schuf, bereits seit spätestens 1902 mit Wassily Kandinsky bekannt war. Im Januar 1904 zeigte dann die kleine Kunstvereinigung Phalanx, die Kandinsky zusammen mit anderen progressiven Künstlerpersönlichkeiten Schwabings 1901 gegründet hatte, in ihrer neunten und letzten Ausstellung in München eine umfangreiche Kollektion von Werken Alfred Kubins. Bevor also Kandinsky im Frühjahr 1904 München verließ, um mit Gabriele Münter für einige Jahre auf Reisen zu gehen und erst 1908 zurückzukehren, war er auf Kubin aufmerksam geworden und gab dem jungen Zeichner ein Forum, auf dem dieser mit 30 Blättern seines Frühwerks eine Retrospektive seines Schaffen aus den vergangenen drei Jahren zeigen konnte. Nach 1909 intensivierte sich ihre Beziehung, Kandinsky sowie Alexej von Jawlensky zogen Kubin als Mitglied der Neuen Künstlervereinigung München hinzu, zwei Jahre später schloss sich Kubin dem Blauer Reiter an, bis 1914 der Erste Weltkrieg allen gemeinsamen Plänen und Aktivitäten ein Ende setzte. Doch zunächst zur frühen Zeit Kubins in München, in der sein erster starker Auftritt die späteren Entwicklungen vorbereiten sollte. Das Frühwerk In München besuchte Kubin zunächst ein Jahr lang die private Zeichenklasse von Ludwig Schmid-Reutte, ab Mai 1899 für wenige Monate die Klasse von Nikolaus Gysis an der Akademie. 3 Doch wie zahlreiche andere Künstler der angehenden Avantgarde fühlte auch Kubin sich unbefriedigt vom Kopf- und Aktzeichnen im traditionellen Stil, zudem höchst verunsichert durch seinen Besuch in der Alten Pinakothek, wo er mit Abb. 1 Alfred Kubin, Der liebe Gott, um 1900 Tuschfeder 39,4 31 cm Leopold Museum, Wien den Bildern der alten Meister nach seiner eigenen Äußerung zum ersten Mal große Kunst sah. Zunehmend frustriert und orientierungslos, flüchtete er sich wiederholt in philosophische Lektüre, darunter Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Philipp Mainländer, und versuchte sich an ersten eigenen Texten, in deren Notizen zu Größenwahn und Selbstqual, sexuellen Nöten und dem ausgeprägten Vater-Sohn-Konflikt man Motive erkennen mag, die später in seinen Roman Die Andere Seite eingehen werden. 4 In dieser Phase entstehen feinlinige Zeichnungen, die in decouvrierender Symbolik eine Travestie herrschender gesellschaftlicher Kräfte von Religion, Staat oder Armee oder des Geschlechterverhältnisses zum Gegenstand haben. Der liebe Gott Abb. 1 etwa thront als eine Art riesiger Vogelscheuche über der Landschaft und wird damit als Fetisch demontiert. Gleichzeitig wird in der monumentalen Größe der Figur, zu der Prozessionszüge winziger Menschen pilgern, eine Übermacht erkennbar, der Kubin in ambivalenter Weise in den Ohnmachts- und Machtphantasien seines Frühwerks immer wieder huldigt, etwa auch in Kanonenfutter oder Das Kapital. Der naiv-karikaturhafte Stil enthüllt jedoch zugleich das Biedermeierliche und Vergangenheitssüchtige seiner Bilderwelt, zu dem sich der Künstler ebenfalls sein Leben lang bekennen wird. Solche Blätter waren es wohl, die ein Freund bei ihm sah, als Kubin wieder einmal krank zu Bett lag: Er sagte, daß sie ihn in manchem an Klingersche Radierungen erinnerten, welche er mir als Vorbilder auch sehr empfahl. So kam es, dass ich gleich nach meiner Genesung das Kupferstichkabinett aufsuchte und den radierten Zyklus über den Fund eines Handschuhs sah. Sah und vor Wonne zitterte. Hier bot sich mir eine ganz neue Kunst, die genügend Spielraum für den andeutenden Ausdruck aller nur möglichen Empfindungswelten gab. Noch vor den Blättern gelobte ich mir, mein Leben dem Schaffen solcher Dinge zu weihen. 5 Nachdem er sich in der Graphischen Sammlung in München Max Klingers Radierzyklus Paraphrase auf den Fund eines Handschuhs von 1881 angesehen hatte, besuchte er ein Varieté: Ich wurde traurig, obgleich mich ein sonderbares Wohlgefühl durchzuckte, und dachte wieder an die Klingerblätter, wobei ich überlegte, wie ich nun wohl arbeiten würde. 6 Darauf folgt die bekannte und viel zitierte Passage in Kubins Selbstbiographie mit seiner Schilderung, wie ihn ein ganzer Sturz von Visionen schwarz-weißer Bilder 7 überkam und er gleichsam einen halluzinatorischen Schub künstlerischer Imagination erlebte (siehe auch S. 79). Im fahl beleuchteten Grau- oder Braunweiß wie aus Traumrückständen werden in Kubins Werk jetzt Visionen von Dominanz und Ohnmacht, von Bedrohung und Untergang, von der Frau als dämonische Verführerin, aber auch als hilflos Gequälte und Verfolgte wie Momentaufnahmen aus der Dunkelkammer des Bewusstseins manifest. Besonders die Folterszenen und erotischen Darstellungen Kubins erregen bis heute Aufsehen und Empörung Abb. 2 5. Ein Hauptthema ist dabei die Dämonisierung der verführerischen, zugleich Tod und Verderben bringenden Frau. In den wiederkehrenden Bildern von Schwangeren wird die Frau zudem als Verdammte ihres geschlechtlichen Leibes dargestellt, oft in grausam-tödlicher Entstellung. Abermals erinnert Kubin in seinen verschiedenen autobiographischen Schriften daran, dass nur wenige Wochen, nachdem er die intensive schmerzhafte Erfahrung des Todes seiner Mutter machen mußte, der Knabe sein erstes sexuelles Erlebnis hatte: mit einer älteren schwangeren Frau. In unzähligen frühen Zeichnungen Kubins werden nackte schwangere Frauen gefoltert und bestraft. Sie sind Teil eines Frauenbildes, das sich zwischen Mutterideal und Verkommenheit bewegt, und das in vielem weit über die 10 11

21 22 21 DAS GROSSE MAUL, um 1903 Tuschfeder, Tinte, gespritzt, Bleistift, schwarze Kreide 24,7 32,3 cm 22 SAUGER, um 1901 Tuschfeder, Tinte, gespritzt, laviert 20,7 cm x 15,5 cm ALFRED KUBIN 91

29 30 29 TIEFSEE, 1906 Gouache 37,1 36,5 cm 30 VERPUPPTE WELT, 1906 Gouache 37,3 40 cm ALFRED KUBIN 103

50 48 48 DIE MÜHLE, 13,9 22,9 cm 49 DAMENBILDNIS (MELITTA LAMPENBOGEN), ca. 8,7 6,8 cm 50 DAS GEISTERPFERD, ca. 16 21,3 cm 51 FRAU GOLDSCHLÄGER MIT ROLLSTUHL, ca. 10,3 10 cm 52 REITER UND WANDERER VOR RUINE, Tuschfeder und Pinsel über Bleistift ca. 26,7 26 cm 49 51 ALFRED KUBIN 119 52

129 130 129 MANDRILL, 1913 Aquarell, Tempera, Bleistift 22,2 16,7 cm 130 GEBURT DER PFERDE, 1913 Farbholzschnitt 21,6 14,6 cm FRANZ MARC 193

1 Brief von Marc an Kubin, 9. März 1913 2 Franz Marc, REH IM BLUMENGARTEN, 1913 Öl auf Leinwand 55,3 77,4 cm Kunsthalle Bremen 3 Das Haus von Franz und Maria Marc in Ried bei Kochel, Postkarte von Marc an Kubin, 4. Mai 1914 2 1 3 sendung abgeben würde. Für 400 nicht mehr wie zwei aber für 450, drei hervorragende Blätter. Ich komme in diesem Fall so entgegen da Sie ganz richtig sagen für die neuen Kunstbestrebungen ist es sehr gut wenn es einige vielseitige gute Sammlungen gibt. Herr Beffie hat meine zur Zeit in Holland ausgestellte Collection wohl gesehen. Durch den Händler werden da leider oft die Preise unnötigerweise in die Höhe gesetzt; von mir direkt wären sie für den Herrn um 25 % geringer. Schreiben Sie mir also bitte gelegentlich ob ich eine Auswahl an Herrn Beffie oder an Sie senden soll. Billiger könnte ich auf keinen Fall auch bei Abnahme von mehr Blättern nicht sein da ich an meinen guten Sachen selbst sehr Freude habe und daran hänge und andererseits durch günstige Verkäufe zur Zeit in keiner Notlage bin. Ich kam von meinem kurzen Pariseraufenthalt erkältet und krank zu Hause hier in unserer unentwegten Winterlandschaft an. und bin sehr froh hier wieder aus dem Trubel heraus zu sein. Der stärkste Eindruck neuer Kunst auf der ganzen Reise war ihrer in München bei M. Dietzel wo ich ein wunderbares Bild, ein Reh in einem reifen herrlichen Kranz von blumenartigen Farben von Ihnen sah. ein Reh mit blauem Hals und Kopf Ich war ganz betroffen im ersten Moment, so viele Möglichkeiten fühlte ich hier in Ihrem reifen Stil.* Wenn es auch immer schwerer wird so sind Sie lieber Marc doch wirklich auf prachtvoll sicherem Weg. Und in Paris erkannte ich dann das für uns eine Pariser Kunstfahrt wirklich nicht mehr nötig ist, wenn gleich die neuen Franzosen rein formal viel abgeklärter als wir sind, so sind sie dagegen an Kraft, Phantasie und Gefühl gegenüber den in Frage kommenden Deutschen und Slaven eher arm. Das Resumé war, dieser ganzen Reise* noch härter und fester am eigenen Ziel zu werden. Neue Anregungen habe ich keine gefunden Ich bin glücklich zu hören das das eigene Häuschen sich nun für Sie beide verwirklicht, Sie haben ja wirklich den Beweis erbracht allein auf dem Lande leben zu können. und werden sich sehr glücklich fühlen Hoffentlich vergessen Sie darüber nicht das Versprechen das Sie und Ihre liebe Frau mir gegeben, sich auch mein Nest einmal anzusehen ich lege einen Ansichtskarte bei. Auch ich würde gerne dann nach Kochel mal kommen. Nun leben Sie wohl und seien Sie beide herzlichst begrüsst von Ihrem Alf. Kubin * Der Vortrag den der serbische Dr. über die neue Kunst hielt ist mir in seiner Disposition durch Kandinsky bekannt geworden, ich fand ihn sehr gut glauben Sie dass er gedruckt wird???** * Kubin hat im Kunstsalon Max Marcs Gemälde Reh im Blumengarten von 1913 gesehen. ** Der serbische Kulturphilosoph Dimitrije Mitrinović (1887 1953) stand damals in Verbindung mit Kandinsky und hatte im Februar 1914 mehrere Vorträge in München gehalten, wie auch aus dem Briefwechsel zwischen Marc und Kandinsky hervorgeht. 17) Postkarte von Franz Marc an Alfred Kubin, 4. Mai 1914 Vorderseite: Foto der Villa in Ried Herrn Kunstmaler Alfred Kubin in Wernstein a/inn Ob. Österreich. [Poststempel] 4. Mai [1914] Lieber Kubin, hier unser Besitz! Seit 8 Tagen sind wir schon drin, nach allen Schrecknissen des Umzuges.* Wie geht es Ihnen? Wir fühlen uns sehr glücklich; mein Malen soll auch wieder neu beginnen, nach einer längeren Pause. Herzl. Ihr F. Marc. Gruß m. Frau * Am 25. April 1914 waren Franz und Maria Marc von ihrer kleinen Wohnung beim Schreinermeister Niggl in Sindelsdorf in das eigene Haus nach Ried umgezogen. 18) Brief von Alfred Kubin an Franz Marc, 10. Mai 1914 Zwickledt, Wernstein 10.V.1914 Mein lieber Marc Vor mir liegt die Karte mit der Marcburg und ich beglückwünsche Sie, denn ein wirkliches echtes, eigenes Zuhause ist einer der wenigen ganz grossen Erfüllungen die unser Leben uns schenken kann rechnet man da noch dazu dass Sie noch nicht alt sind eine liebe gute Frau haben, kein körperliches Leid haben und vor allen Dingen ein hochbegabter Künstler sind so muss man wohl gestehen dass Sie zur Zeit nicht übel dastehen wie man hierzulande sagt. Mir geht s in vielem ja ähnlich wie Ihnen, vor allen Dingen haben wir beide aber die Eigenschaft dass wir auch ohne die Stadtgaudi auskommen können und auf die Dauer (das entscheidet) haben das nicht sehr viele durchgeführt. Es muss ja einzig schön liegen das Häuschen, und aber erst wenn es ganz und gar von Ihnen so ordentlich durchwohnt ist vielleicht im nächsten Winter komme ich wahrhaftig einmal Ihren Glückshafen zu inspicieren Doch dürfen Sie nicht allzufest dort kleben bleiben denn auch ich hoffe Sie sammt Ihrer lieben Frau in unserer Gegend, die sich auch sehen lassen kann, einmal begrüssen zu können. Ich bin leider, nach einer reichen Schaffenszeit wieder mit meinen verfluchten Nerven und Blutarmut recht matt Ich nehme einstweilen Sanatogen besuche im Juni dann einen hygienischen Onkel[ ] der mit mir eine Kur machen wird. Klee schrieb grosse Dinge 260 261