Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen BDP e.v. Sektion Klinische Psychologie Kompendium der Tätigkeitsfeldbeschreibungen Herausgegeben von den Fachgruppen der Sektion Klinische Psychologie im BDP e.v. Vorstand der Sektion, 56566 Neuwied, Fassung von 2009 Diplom-Psychologinnen und Diplom-Psychologen im Bereich Geistige Behinderung BDP, Sektion Klinische Psychologie, Tätigkeitsfeldbeschreibung für Psychologen im Bereich Geistige Behinderung, Frühjahr 2009, Seite 1 von 9
Allgemeine Vorbemerkungen der Sektion Klinische Psychologie Mit der Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft und Beruf über bald 10 Jahrzehnte hat sich die berufliche Tätigkeit von Diplom-PsychologInnen in erheblichem Maße ausdifferenziert. Im Zuge der fortschreitenden Anwendung wissenschaftlicher psychologischer Kenntnisse haben sich auch in der Klinischen Psychologie weitere eigenständige Tätigkeitsfelder entwickelt, die im Folgenden näher beschrieben sind. Die verschiedenen Tätigkeitsmerkmale werden dabei innerhalb der jeweiligen Praxisfelder thematisch geordnet aufgeführt. Offen gelassen sind bei dieser Bestandaufnahme folgende zwei Gesichtspunkte: 1. Klinische PsychologInnen nehmen regelmäßig an Fort- und Weiterbildungen teil, die ihre individuelle Qualifikation sichern und/oder zu ihrer Höherqualifizierung führen. Die Teilnahme an Fort- und Weiterbildung ist Teil der Qualitätssicherung. 2. Diplom-PsychologInnen übernehmen auch Gesamtleitungsfunktionen, wie die Leitung von Einrichtungen, Verbänden und Ämtern. Insofern diese Aufgaben über das jeweilige psychologische Tätigkeitsfeld hinausgehen, finden sie hier keine weit explizierte Berücksichtigung. BDP, Sektion Klinische Psychologie, Tätigkeitsfeldbeschreibung für Psychologen im Bereich Geistige Behinderung, Frühjahr 2009, Seite 2 von 9
Tätigkeitsfeldbeschreibung für Diplom-Psychologinnen und Diplom-Psychologen im Bereich Geistige Behinderung 1 Vorbemerkungen Menschen mit geistiger Behinderung sind in besonderer Weise gefährdet, psychische Probleme zu entwickeln und benötigen dann auch an ihre Belange und Bedürfnisse angepasste psychologische Fachleistungen für Diagnostik, Beratung und Therapie. Diese richten sich nach Art, Umfang und Komplexität der Beeinträchtigungen und müssen Kontextfaktoren wie Lebenszusammenhänge und Bezugspersonen berücksichtigen. Dies gilt insbesondere, wenn neben einer geistigen Behinderung eine zusätzliche psychische und/oder körperliche Behinderung vorliegt. Psychische Probleme bei Menschen mit geistiger Behinderung können aus den behinderungsbedingt erschwerten individuellen Entwicklungsbedingungen und verminderten subjektiven und objektiven Ressourcen resultieren. Entwicklungsphasentypische Anforderungen (z. B. Einschulung, Pubertät, Ablösung vom Elternhaus oder Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand) oder allgemeine Lebensaufgaben (z. B. in Partnerschaft oder Arbeit) führen häufig zu behinderungsspezifisch akzentuierten Schwierigkeiten und Krisen. Dabei können die Verhaltensprobleme Ausdruck eingeschränkter kommunikativer Fähigkeiten, Ausdruck von Überforderung, Ausdruck spezifischer Konfliktbewältigungsmechanismen oder Ausdruck anderer Probleme wie zusätzlicher psychischer Störungen bzw. Erkrankungen sein. Sie bedürfen dann der fachkompetenten psychologischen Intervention. Bei Menschen mit geistiger Behinderung können alle Formen psychischer Störungen und Erkrankungen auftreten, die auch in der Allgemeinbevölkerung festzustellen sind. Menschen mit Behinderung tragen allerdings ein überdurchschnittlich hohes Risiko, psychisch zu erkranken - sogar unter günstigen Entwicklungsbedingungen. Außerdem gibt es bei Menschen mit geistiger Behinderung spezifische psychische Störungen, u. a. solche, die mit bestimmten genetischen Ursachen der Behinderung in Zusammenhang stehen. Eine besondere fachliche Herausforderung ergibt sich daraus, dass sich hier selbst "übliche" psychische Störungen wie z. B. Depressionen oder Zwangserkrankungen oft anders als bei nicht geistig behinderten PatientInnen äußern und deshalb sowohl schwieriger zu diagnostizieren als auch zu behandeln sind. 2 Allgemeines Die Bedeutung geistiger Behinderung ist nicht allein auf der Beschreibungsebene der individuellen Beeinträchtigung oder der individuellen Normabweichung zu erfassen, sondern muss immer auch auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Wertvorstellungen gesehen werden. In einer Gesellschaft, in der etwa der intellektuellen Leistungsfähigkeit und Produktivität ein herausragender Stellenwert beigemessen wird, werden z. B. Polaritäten zwischen Leistungsfähigen und Leistungsunfähigen geschaffen, wodurch das Phänomen geistige Behinderung besonders auffällt. Die Begegnung und Arbeit mit geistig behinderten Menschen beinhaltet daher immer auch die Notwendigkeit, über persönliche und gesellschaftliche Wertvorstellungen nachzudenken. Das Bemühen um gegenseitiges Verstehen, Verständigen und Akzeptieren bildet eine wesentliche Grundlage der psychologischen Arbeit im Bereich Geistige Behinderung. Verstehen heißt dabei vor allem, auch in ungewöhnlichem Verhalten des behinderten Menschen Bedeutung und Sinn zu erkennen und es als Form der Kommunikation zu begreifen. Auf der Basis solchen Verstehens wird es möglich, trotz unüblicher Verläufe eine Entwicklungslogik zu erkennen und Persönlichkeitsentfaltung psychologisch zu begleiten und zu unterstützen. Das unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe auch von Menschen mit Behinderungen schließt ein, dass sie besondere Unterstützung erhalten, um dieses Recht in die Wirklichkeit ihres Lebensalltags und in die tatsächliche Verwirklichung ihrer Wünsche und Bedürfnisse umsetzen zu können. Ein wichtiges Ziel psychologischer Tätigkeit im Bereich Geistige Behinderung besteht darin, individuelles Potential an Selbststeuerungskompetenz und Selbständigkeit so zu fördern, dass die Betroffenen von Fremdbestimmung so weit wie möglich unabhängig werden. Dazu kann auch die Einbeziehung unterschiedlicher Möglichkeiten Unterstützter Kommunikation gehören. BDP, Sektion Klinische Psychologie, Tätigkeitsfeldbeschreibung für Psychologen im Bereich Geistige Behinderung, Frühjahr 2009, Seite 3 von 9
Daneben gilt es, gerade in Zeiten erheblichen Kostendrucks in der Behindertenhilfe, die Notwendigkeit zuverlässiger, vertrauensvoller und stabiler Beziehungen zu berücksichtigen. Erst auf deren Basis kann empathisches Verstehen als Hilfe zur Identitätsfindung gelingen. Hier liefert das psychologisch-bindungstheoretische Wissen um die Bedeutung von Bindungsfähigkeit als Grundlage der Autonomieentwicklung entscheidende Hinweise zur Ausrichtung der Arbeit im Bereich Geistige Behinderung, um im jeweiligen Einzelfall die angemessene Balance zwischen Selbstbefähigung und Hilfebedarf zu finden. 3 Rahmenbedingungen Bei psychologischen Fachleistungen für Menschen mit geistiger Behinderung handelt es sich überwiegend um Leistungen, die inhaltlich der Zielsetzung und den Aufgaben der Eingliederungshilfe zuzuordnen sind. Diese können vorrangig in sogenannten Komplexeinrichtungen der Behindertenhilfe und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen angeboten werden, die über entsprechende Fachdienste verfügen. Nur ein kleiner Teil der psychologischen Angebote ist Psychotherapie als Leistung der Krankenversorgung nach SGB V. Aus verschiedenen Gründen hat die Personengruppe geistig behinderter Menschen keinen ausreichenden Zugang zu den Angeboten im gesundheitlichen Regelversorgungssystem. Trotz des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen von 27.04.2002, das Menschen mit Behinderung die gleichberechtigte und barrierefreie Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zusichert, sind vielfältige Barrieren immer noch weit verbreitet. Dies betrifft nicht nur die im Gesetz benannten baulichen und technischen Probleme, sondern aus Sicht der Menschen mit geistiger Behinderung insbesondere auch die personellen Hilfesysteme, wenn jemand aufgrund seiner kognitiven oder sozial-emotionalen Einschränkungen auf direkte Begleitung und personelle Unterstützung angewiesen ist. Die Erfahrung zeigt weiterhin, dass die Standardbedingungen der ambulanten Psychotherapie dem Personenkreis von Menschen mit geistiger Behinderung aufgrund der methodischen und zeitlichen Anforderungen oft nicht angemessen sind. Beispielsweise wird bei eingeschränkter Mitteilungs- und Reflexionsfähigkeit der Betreffenden das Einholen von Fremdauskünften notwendig, was einen erhöhten Aufwand bedingt, der von den Krankenkassen üblicherweise nicht übernommen wird. Deshalb sind spezialisierte Angebote für diese Zielgruppe und in diesem Handlungsfeld unentbehrlich, soweit die erforderlichen Dienstleistungen in anderen Strukturen (medizinisches Regelversorgungssystem, gemeindepsychiatrische Verbünde usw.) aus leistungsrechtlichen, fachlichen oder konzeptionellen Gründen nicht erbracht werden oder erbracht werden können. Die personelle Basis solcher Angebote an psychologischen Fachleistungen sind entsprechend qualifizierte und erfahrene Diplom-PsychologInnen in Kooperation mit anderen Berufsgruppen. Außerhalb von Einrichtungen der stationären Behindertenhilfe stehen diese Leistungen allerdings so gut wie gar nicht zur Verfügung. 4 Berufs- und Tätigkeitsrecht Diplom-PsychologInnen im Bereich Geistige Behinderung arbeiten nach den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Psychologie. Voraussetzung ist ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Psychologie. Die regelmäßige Teilnahme an Fort- und Weiterbildungen sichert die individuelle Qualifikation und/oder führt zu einer Höherqualifizierung. Diplom-PsychologInnen bzw. FachpsychologInnen für Klinische Psychologie (BDP) üben selbständig und eigenverantwortlich alle anfallenden psychologischen Tätigkeiten aus. Rechtsgrundlage für angestellte oder verbeamtete Diplom-PsychologInnen sind die tarif-, dienstund arbeitsrechtlichen Bestimmungen des jeweiligen Arbeitgebers. Die Fachaufsicht richtet sich nach der Aufgabenbeschreibung des Trägers (Arbeitsplatzbeschreibung, inkl. der Einstellungsvoraussetzungen) und kann nur von Personen wahrgenommen werden, die über eine entsprechende fachliche Qualifikation verfügen. Für die Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten gelten die gesetzlichen Vorgaben des Heilpraktikergesetzes und/oder die Regelungen des Psychotherapeutengesetzes, nach denen insbesondere Diplom-PsychologInnen mit der Zusatzqualifikation als Psychologische/r PsychotherapeutIn und /oder als Kinder- und Jugendlichen-PsychotherapeutIn arbeiten. BDP, Sektion Klinische Psychologie, Tätigkeitsfeldbeschreibung für Psychologen im Bereich Geistige Behinderung, Frühjahr 2009, Seite 4 von 9
Diplom-PsychologInnen beachten die Berufsordnung bzw. die berufsethischen Verpflichtungen für Psychologinnen und Psychologen, vor allem die ethischen Richtlinien des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.v. (BDP), der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.v. (DGPs). Diese verpflichten unter anderem zur ständigen Fortbildung, zur kollegialen Zusammenarbeit mit anderen Fachkräften, zur fortlaufenden Reflexion und Supervision ihrer Arbeit, zum Privatgeheimnisschutz (gemäß 203 Strafgesetzbuch) und zur beruflichen Verschwiegenheit, inkl. sorgfältiger Prüfung der expliziten oder impliziten Zustimmung Ratsuchender bei Aufhebungsnotwendigkeiten, zur klaren Abgrenzung der Verantwortlichkeiten mit und gegenüber dem Auftraggeber, dem Träger der Einrichtung sowie gegenüber den Ratsuchenden als einzelne Auftraggeber (besonders relevant bei ggf. psychologischen Stellungnahmen nach außen) sowie zur Ablehnung von Aufträgen, die den berufsethischen Richtlinien zuwiderlaufen. 5 Orte psychologischen Handelns im Bereich Geistige Behinderung Frühförderung Sozialpädiatrische Zentren psychologisch-psychotherapeutische Praxen heilpädagogische Zentren Sonder- und Integrationskindergärten Sonder- und Integrationsschulen Berufsausbildung Werkstätten für Menschen mit Behinderungen Wohnheime, stationär und ambulant betreute Wohnformen Allgemein-Krankenhäuser sowie Fach- und Rehabilitationskliniken neurologische, (kinder-)psychiatrische und andere ärztliche Praxen allgemeinpsychiatrische und forensische Kliniken Beratungsstellen Aus-, Fort- und Weiterbildung 6 Arbeitsfelder von Diplom-PsychologInnen im Bereich Geistige Behinderung 6.1 Psychologische Diagnostik Mittels psychologischer Diagnostik (einschließl. Assessment) werden entwicklungs-, intelligenz-, leistungs-, motivations-, neuro- und persönlichkeitspsychologische Fragestellungen geklärt. Hinzu kommt die Diagnostik im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen. Es werden dafür kenntnis-, fähigkeits-, funktions- und interaktionsdiagnostische Verfahren eingesetzt. Im Bereich der beruflichen Rehabilitation kommen eignungsdiagnostische Fragestellungen hinzu. Als Methoden werden standardisierte und behinderungsspezifisch modifizierte Test- und Beobachtungsverfahren eingesetzt sowie eigen- und fremdanamnestische Erhebungen und Fragebögen, personelle Interaktionen, teilnehmende Beobachtung und die Mitwirkung in interdisziplinären Settings. Psychologische Diagnostik dient der Planung von psychologischen Interventionen, der Unterstützung individueller Hilfebedarfsermittlung und Hilfeplanung, der Entwicklung individueller Lernund Förderprogramme, der Beratung der betroffenen Personen, der Beratung von Bezugspersonen bezüglich ihres Alltagshandelns (z. B. Angehörige, pädagogische MitarbeiterInnen, gesetzliche BetreuerInnen, LehrerInnen) oder der Berichterstattung gegenüber dem Kostenträger. BDP, Sektion Klinische Psychologie, Tätigkeitsfeldbeschreibung für Psychologen im Bereich Geistige Behinderung, Frühjahr 2009, Seite 5 von 9
6.2 Psychologische Interventionen 6.2.1 Psychologische Beratung Psychologische Beratung in Einzelgesprächen oder Gruppenangeboten unterstützt die Bewältigung persönlicher Problemlagen und Krisen, die Persönlichkeitsreifung, die Stärkung des Selbstbewusstseins, die emotionale Stabilität, die Verarbeitung von Krankheit und Behinderung, biografische und berufliche Um- und Neuorientierung usw. Beratung zielt darauf, individuelle Entwicklungspotentiale sowie dafür förderliche und hinderliche Bedingungen zu identifizieren, um diese Erkenntnisse in den Hilfeprozess einzubringen. Beraten werden die KlientInnen selbst, aber auch ihre Bezugspersonen (MitarbeiterInnen von Diensten und Einrichtungen, Angehörige und Freunde, gesetzliche BetreuerInnen u. a.). Psychologische Beratung von Bezugspersonen geschieht, um diesen die Perspektive der Menschen mit geistiger Behinderung und ihrer subjektiven Situation deutlicher zu vermitteln. Die Bezugspersonen werden z. B. dabei unterstützt, den kommunikativen Gehalt bestimmter Verhaltensweisen besser zu verstehen. Ziel von Beratung ist eine förderliche Lebensumfeld- und Beziehungsgestaltung. Die Beratung von Bezugspersonen bildet auch eine Grundlage für Planung und Koordination von Assistenz, Pflege und Förderung in den jeweiligen Lebenszusammenhängen von Menschen mit Behinderung (z. B. Elternhaus, Wohnheim, Tagesförderung, Werkstatt). 6.2.2 Psychologische Psychotherapie Psychologische Psychotherapie dient der Besserung und Heilung psychischer Störungen, der Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten sowie Lern- und Arbeitsstörungen. Allgemeine Therapiekonzepte und -verfahren müssen bei KlientInnen mit geistiger Behinderung zielgruppenspezifisch modifiziert oder ergänzt werden. Insbesondere bei Menschen mit mittelgradiger oder schwerer Behinderung müssen, auf der Basis des psychologischen Fachwissens, erfahrungs- und erlebnisorientierte Verfahren angewandt werden, die bisher nicht zu den Richtlinienverfahren gehören. Besonderes Augenmerk muss häufig der Einbeziehung des sozialen Umfelds gewidmet werden, insbesondere dann, wenn die in der psychotherapeutischen Interaktion gewonnenen Erkenntnisse und Entwicklungsfortschritte infolge der oft eingeschränkten Fähigkeiten zur Generalisierung bei den betreffenden Menschen mit geistiger Behinderung der nachhaltigen Unterstützung in einem abgestimmt handelnden Umfeld bedürfen. 6.2.3 Krisenintervention Psychologische Krisenintervention hat das Ziel, kritische Situationen - beispielsweise im Zusammenhang mit expansiven Verhaltensweisen - zu entspannen und dadurch restriktive Maßnahmen oder psychiatrische Klinikaufenthalte bei ambulant behandlungsfähigen psychischen Störungen zu vermeiden. Dabei werden psychotherapeutische Methoden bzw. entsprechend modifizierte oder entwickelte Verfahren eingesetzt. 6.2.4 Psychologische Trainingsverfahren Psychologische Trainingsverfahren - als Einzel- und als Gruppenverfahren - werden sowohl als neuropsychologisches Funktionstraining für beeinträchtigte kognitive oder mnestische Prozesse als auch zur Erweiterung verschiedener Kompetenzbereiche (z. B. Sozialverhalten) eingesetzt. 6.2.5 Psychoedukative Verfahren Mit psychoedukativen Verfahren werden im Hinblick auf bestimmte Störungsbilder und (vor allem chronische) Erkrankungen (z. B. Epilepsie, Diabetes, Enuresis, Sucht) Wissen und Bewältigungsstrategien an Betroffene und evtl. auch deren Bezugspersonen vermittelt. Auch hierbei können vorhandene Konzepte nur begrenzt übernommen werden, vielmehr bedürfen sie einer den Fähigkeiten der Menschen mit geistiger Behinderung angemessenen Anpassung. 6.2.6 Supervision und Coaching Die Fallsupervision gibt professionellen Helfern Gelegenheit, ihr berufliches Handeln zu reflektieren und geeignete Handlungsmaximen zu entwickeln. Die Teamsupervision dient der Bearbeitung von Beziehungskonflikten in Helfer-Teams sowie tätigkeitsbedingten Problemen wie Überforderung, Konflikten in der Institutionshierarchie u. ä. Coaching richtet sich an einzelne Personen, insbesondere in Leitungsfunktionen, zur Verbesserung ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit. BDP, Sektion Klinische Psychologie, Tätigkeitsfeldbeschreibung für Psychologen im Bereich Geistige Behinderung, Frühjahr 2009, Seite 6 von 9
6.3 Interdisziplinäre Zusammenarbeit, Vernetzung Verlässliche Kooperation und Kommunikation mit allen am Hilfeprozess Beteiligten ist die Voraussetzung für den erfolgreichen Beitrag psychologischer Fachleistungen. Interdisziplinäre Vernetzung profitiert in ihrer Qualität von zielgruppenspezifischen und feldspezifischen psychologischen Kenntnissen und Erfahrungen und fördert solche. Diplom-PsychologInnen übernehmen in einem Helfer-Netzwerk oft die zentralen Aufgaben der Koordination und Netzwerkpflege sowie der Aktivierung des interdisziplinären Austauschs. 6.4 Gutachten und Stellungnahmen Diplom-PsychologInnen erstellen Gutachten, Stellungnahmen und andere Berichte z.b. für Kostenträger, Gerichte und ggf. die eigenen Einrichtungen. Damit bieten sie die fachliche Grundlage z.b. für die Feststellung eines bestimmten Hilfebedarfs oder die Notwendigkeit besonderer Unterstützungsangebote für einen Menschen mit Behinderung bzw. deren Finanzierung. Innerhalb einer Einrichtung können psychologische Stellungnahmen auch Grundlage für Aufnahme- oder Umzugsentscheidungen sein. 6.5 Aus-, Fort- und Weiterbildung Fortbildungsangebote richten sich an alle am Hilfeprozess Beteiligten und Interessierten - zunehmend auch an die Menschen mit geistiger Behinderung selbst. Sie haben neben dem bildenden auch einen persönlichkeitsfördernden und präventiven Effekt. Diplom-PsychologInnen übernehmen Aufgaben bei der Ausbildung in der Behindertenhilfe, z. B. an Fachschulen für Heilerziehungspflege. Inhalte können allgemeine psychologische Themen wie Persönlichkeits- und Kommunikationstheorien oder Praxisbeispiele sowie ausgewählte Aspekte der Klinischen und Entwicklungspsychologie oder der Methodenlehre sein. 6.6 Leitungsaufgaben Diplom-PsychologInnen üben Leitungsfunktionen in Einrichtungen, Verbänden und Ämtern, Fachdiensten und Abteilungen aus. Dabei werden Fragen der Wirtschaftlichkeit, der Kostensicherung und des Marketings mit fachlichen Inhalten, insbesondere der Klinischen und Organisationspsychologie, verknüpft. In sozialpolitischen Gremien auf kommunaler und übergeordneter Ebene können Diplom-PsychologInnen mit leitender Position ihre Fachkenntnisse mit besonderem Nachdruck einbringen und auf eine angemessene Verbindung ökonomischer und sozialer Fragestellungen hinarbeiten 6.7 Konzeptionelle und organisatorische Tätigkeiten Diplom-PsychologInnen unterstützen Leitungskräfte durch fachliche Beratung. Zu den psychologischen Aufgaben gehören die Entwicklung und kontinuierliche Überarbeitung von Einzel- und Gesamtkonzeptionen, die Erstellung und Pflege von Dokumentationssystemen, die Entwicklung neuer Tätigkeitsfelder sowie die Erarbeitung und Durchführung neuer Leistungsangebote. Weitere Aufgaben sind Qualitätsentwicklung und -sicherung, Evaluation, Auswertung und Statistik sowie Mitwirkung bei der internen Organisations- und Personalentwicklung, insbesondere Auswahl der MitarbeiterInnen. Psychologisch-fachliche Aspekte werden dabei mit Fragen von langfristiger Wirtschaftlichkeit, Kostensicherung, Marketing und politischer Einflussnahme verbunden. 6.8 Öffentlichkeitsarbeit und Mitwirkung in sozialpolitischen Gremien Öffentlichkeitsarbeit bedeutet, die Arbeit im Bereich Geistige Behinderung nach außen zu vertreten und bekannt zu machen. Diplom-PsychologInnen bringen ihre Fachkompetenz ein mit dem Ziel besserer Akzeptanz von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft sowie größerer Transparenz und steigender Fachlichkeit der Behindertenhilfe. Das geschieht z. B. im Rahmen von Veröffentlichungen und Verlautbarungen, sozialen und kulturellen Veranstaltungen oder Tagungen zum fachlichen Austausch. Die sozialpolitische Mitwirkung bezieht sich u. a. auf die Teilnahme an psychosozialen Arbeitskreisen, Kontakte zu Behörden und Kostenträgern, zu Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie regionalen und überregionalen Interessenvereinigungen und Verbänden. BDP, Sektion Klinische Psychologie, Tätigkeitsfeldbeschreibung für Psychologen im Bereich Geistige Behinderung, Frühjahr 2009, Seite 7 von 9
6.9 Forschung Die Forschung und Veröffentlichung wissenschaftlicher Beiträge dient dazu, neue fundierte Erkenntnisse zu gewinnen und diese auch im Bereich Geistige Behinderung dem Fachpublikum nahe zu bringen. Sie fördert des weiteren den fachlichen Austausch und wissenschaftlich abgesicherten Fortschritt in Theoriebildung, Diagnostik, Interventionsmethodik und Therapie. Möglich sind die Arbeit in oder die Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen, psychologischen Fachbereichen an Hoch- und Fachhochschulen sowie forschend tätigen therapeutischen Ausbildungsinstituten. 6.10 Zukünftige Herausforderungen Die Lebenssituation behinderter Menschen verändert sich fortlaufend. Zunehmen werden weiterhin differenzierte Wohnformen, ambulante und innovative Betreuungssettings sowie gemeindeorientierte Wohn- und Betreuungsformen. Dadurch wird der Bedarf an psychologischen Fachleistungen vor allem in dezentralen Wohnformen und in ambulanten Betreuungssettings erheblich wachsen. Hier müssen geeignete Formen der Krisenintervention und der psychologischen Begleitung entwickelt werden. Auch zeichnet sich in den offeneren Wohnformen ein hoher Bedarf an Unterstützung bei bestimmten Problemfeldern ab, z. B. beim Umgang mit Suchtmitteln (bes. Alkohol und Nikotin) oder der Abgrenzung gegenüber Manipulationen, u. a. im sexuellen Bereich. Zunehmend notwendig werden in diesem Zusammenhang auch psychologische Fachbeiträge bei der interdisziplinären Entwicklung von spezieller Diagnostik, Konzepten und Hilfeangeboten für geistig behinderte Menschen, die gesetzeswidriges oder delinquentes Verhalten zeigen. Eine weitere Zukunftsaufgabe zur Verwirklichung der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung betrifft deren Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt. Für den Vermittlungsprozess könnten aus der psychologischen Fachlichkeit spezifische Dienstleistungen zur Diagnostik der Arbeitsfähigkeit und Einschätzung des sozial-emotionalen Fähigkeitsprofils, sowie zur Begleitung des Arbeitssuchenden und dessen Bezugspersonen entwickelt werden. Diplom-PsychologInnen können z. B. im Rahmen spezieller Servicestellen ein passgenaues Fallmanagement anbieten, das psychoedukative und Trainingsverfahren einschließt. Die Zunahme von KlientInnen der Eingliederungshilfe mit Migrationshintergrund (evtl. sogar mit Traumatisierungen im Kontext von Migration) ist eine neuartige Herausforderung. Auch im System der Behindertenhilfe wachsen die Anforderungen an interkulturelle Kompetenz. Sowohl bei der psychologischen Diagnostik als auch bei psychologischen Interventionen müssen migrantenspezifische Probleme (sprachliche Kompetenz, kulturell geprägte Verstehens- und Verhaltensweisen) berücksichtigt und ins Hilfesystem vermittelt werden. Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der Zunahme von behinderten Klienten in höherem Lebensalter. Psychologische Diagnostik und psychologische Interventionen müssen daran angepasst werden. Beratungsangebote für Angehörige und professionelle Begleiter gilt es zu erweitern, insbesondere auch wegen der Zunahme von Demenzerkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Ebenfalls erfordert der Übergang vom Erwerbsleben (WfbM) in den Ruhestand oft besondere psychologische Unterstützung. Schließlich entwickelt sich ein neues psychologisches Aufgabenfeld aus der zunehmenden Bedeutung des Ehrenamtes. Dazu gehören zum einen die Beratung der Ehrenamtlichen selbst und zum anderen die Begleitung des mitunter spannungsreichen Prozesses der Zusammenarbeit von ehrenamtlich Tätigen mit professionellen MitarbeiterInnen. Herbst 2007 und Frühjahr 2009, erarbeitet von Mitgliedern der Fachgruppe Geistige Behinderung. Quelle: Etliche Textbausteine sind mit Einverständnis der Verfasser einem Diskussionspapier vom 29.06.2006 für den Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e. V. (BeB) entnommen: Perspektiven psychologischer Fachleistungen für Menschen mit Behinderung. BDP, Sektion Klinische Psychologie, Tätigkeitsfeldbeschreibung für Psychologen im Bereich Geistige Behinderung, Frühjahr 2009, Seite 8 von 9
Impressum und Kontakt Fachgruppe Diplom-Psychologen im Bereich Geistige Behinderung Sektion Klinische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen BDP e.v. Leitung der Fachgruppe: Dipl.-Psych. Veronika Voß, Neinstedt, und Dipl.-Psych. Sabine Luttinger, Freiburg Kontakt über die Sektion Klinische Psychologie oder www.bdp-klinische-psychologie.de/fachgruppen V. i. S. d. P. und : Vorstand der Sektion Klinische Psychologie c/o Geschäftsstelle der Sektion Klinische Psychologie 56237 Nauort, Postfach 1113, Telefon 02601 / 911949, Fax 02601 / 911953 www.bdp-klinische-psychologie.de, info@bdp-klinische-psychologie.de Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V. (BDP) 10117 Berlin, Glinkastraße 5, Telefon 030 / 209149-0, Fax 030 / 20914966 www.bdp-verband.de, info@bdp-verband.org Stand: Frühjahr 2009 BDP, Sektion Klinische Psychologie, Tätigkeitsfeldbeschreibung für Psychologen im Bereich Geistige Behinderung, Frühjahr 2009, Seite 9 von 9