ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH Und er wunderte sich über ihren Unglauben Predigt von Pfarrer Ralph Müller gehalten am 21. April 2013 Schriftlesung: Matthäus 13,53-58; Lukas 4,16-30 Predigttext: Markus 6,1-6 Und er ging weg von dort. Und er kommt in seine Vaterstadt, und seine Jünger folgten ihm. Und als es Sabbat geworden war, begann er, in der Synagoge zu lehren. Und viele, die zuhörten, waren überwältigt und sagten: Woher hat der das, und was für eine Weisheit ist das, die ihm gegeben ist? Und solche Wunder geschehen durch seine Hände! Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria, der Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon, und leben nicht seine Schwestern hier bei uns? Und sie nahmen Anstoss an ihm. Und Jesus sagt zu ihnen: Nirgends gilt ein Prophet so wenig wie in seiner Vaterstadt und bei seinen Verwandten und in seiner Familie. Und er konnte dort kein einziges Wunder tun, ausser dass er einigen Kranken die Hand auflegte und sie heilte. Und er wunderte sich über ihren Unglauben. Dann zog er in den umliegenden Dörfern umher und lehrte. Liebe Gemeinde Haben Sie die Unterschiede in den gelesenen Bibeltexten bemerkt? Es wäre heute am einfachsten, wenn Sie alle drei Texte auf einem Blatt Papier vor sich hätten! Im Markus-Evangelium heisst es: Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria? Während wir im Matthäus-Evangelium lesen: Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Die Juden hätten niemals gesagt, dass
2 Jesus der Sohn der Maria ist. Bei Markus klingt etwas an, das Lukas und Matthäus nicht aufgenommen haben. Man geht davon aus, dass das Markus-Evangelium das älteste der drei Evangelien ist. Matthäus und Lukas haben die Grundstruktur von Markus übernommen, schrieben vieles von ihm ab und ergänzten mit ihrem eigenen Wissen und dem, was sie gehört haben. Matthäus und Lukas bezeichnen Jesus als den Sohn von Josef, des Zimmermanns. Bei Markus steht: der Sohn der Maria. Im jüdischen Hintergrund ist jedoch der Mann als Oberhaupt der Familie entscheidend und nicht die Frau! Klingt es nicht etwas abwertend, weil Jesus der Sohn der Maria ist, man den Vater gar nicht recht kennt und der Heilige Geist beteiligt sein soll? Gibt Markus vielleicht die Stimmung und die argwöhnischen Stimmen wieder? Was Jesus in der Synagoge gesagt hat, beschreiben Markus und Matthäus nicht. Es schien ihnen nicht so wichtig zu sein. Zum Glück haben wir noch das Lukas-Evangelium. Es zitiert einen Text aus dem Propheten Jesaja: Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen das Evangelium zu verkündigen. Er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit und Blinden das Augenlicht zu verkündigen, Geknechtete in die Freiheit zu entlassen, zu verkünden ein Gnadenjahr des Herrn Jesaja 58,6; 61,1-2. Diese Stellen zitierte auch Jesus und hat die Leute damit wütend gemacht. Warum wurden die Menschen so wütend? Bevor ich jeweils eine Predigt schreibe, suche ich im Internet, was andere Prediger zu einer Bibelstelle gesagt haben. Das Internet ist voll von Predigten! Aber zu dieser Bibelstelle fand ich keine einzige! Warum wird über diesen Text nicht gesprochen? Ich denke, dass man Schwierigkeiten hat, diesen Vers zu verstehen: Ausgerechnet in seiner
3 Heimatstadt gilt Jesus nichts, man will ihn nicht hören und er wird sogar abgelehnt. Ich komme aus Basel und predige in Zürich. Warum bin ich nicht in meiner Heimatstadt Pfarrer? Habe ich innerlich auch Angst, dass man mich dort ablehnen würde? Aber wir sind doch alles Schweizer und so ein grosser Unterschied ist zwischen Basel und Zürich ja auch nicht! Aber glaubt man einem Menschen, der einem vertraut ist und den man gut kennt nicht weniger als einem Fremden? Glauben Sie einem Menschen, der aus dem gleichen Haus wie Sie kommt? Stellen Sie sich vor, ich hätte als Kind im gleichen Haus wie Sie gewohnt und wäre neben Ihnen aufgewachsen. Sie erlebten mich in meiner Schulzeit und meiner Lehre als Schreiner. Jeden Abend kam ich mit meinem Motorrad und dem dreckigen Gwändli voll Sägemehl wieder nach Hause. Zehn Jahre später gehen Sie an Ihrem Wohnort in die Kirche und ich predige Ihnen das Evangelium. Wie ist das für Sie? Was würde Ihnen durch den Kopf gehen? Vielleicht hätten Sie auch Mühe dem jungen Mann, den Sie als Lehrling kannten, zuzuhören? Was hindert Sie seine Worte anzunehmen? Denken Sie, dass nur ein einfacher Zimmermann spricht? Heute könnte man auf dem zweiten Bildungsweg noch die Matura machen und an der Universität studieren. Zur Zeit Jesus war das nicht so. Deshalb war ein Grund der Ablehnung bestimmt seine Herkunft. Früher wechselte man seinen Beruf nicht: einmal Zimmermann immer Zimmermann! Ein Handwerker konnte nicht Priester werden. Gehörte man in der Zeit des Neuen Testamentes nicht zum Stand der Leviten, konnte man nicht Priester werden. Es war nicht möglich bei einem Lehrer zu lernen, wenn man familiär kein Pharisäer war, denn erst dann durfte man das Wort in der Synagoge auslegen. So konnte man es
4 sich nicht vorstellen, dass ein Zimmermann, dessen Hintergrund man kennt, in der Synagoge predigt. Dem sollen die Leute jetzt zuhören und glauben? Aber Jesus hat die Menschen mit seiner Botschaft berührt. Das steht in allen Evangelien: sie waren verwundert, was und wie er reden konnte, und staunten über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund kamen. Es war ein Staunen da. Ich nehme es vorweg: Jesus staunte am Schluss auch über den Unglauben der Menschen! Die Zuhörer spürten, dass er in Vollmacht redete. Aber warum wurde er abgelehnt? Die Worte, die er zitierte, stammen aus Jesaja 58 und 61. Jesus sagt: Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen das Evangelium zu verkündigen. Er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit und Blinden das Augenlicht zu verkündigen, Geknechtete in die Freiheit zu entlassen, zu verkünden ein Gnadenjahr des Herrn. Diese Worte haben die Menschen rasend gemacht. Weshalb? Können Sie verstehen, weshalb die Menschen so wütend wurden? Ich hatte lange Mühe, es zu verstehen! Bis ich begriff, dass Jesus die Menschen an einem wunden Punkt getroffen hatte. Jesus hat die Menschen in ihrer Sabbatruhe gestört! Man muss sich das einmal vorstellen: Die Leute kommen am Samstag schön angezogen in die Synagoge und wollen hören was sie schon immer gehört haben. Sie wollen eine Bestätigung, dass zwischen Himmel und Erde, zwischen ihnen und Gott alles in Ordnung ist! Sie sind Sünder, denen Gott vergibt; geben eine Kollekte, tun etwas für andere und gehen dann zufrieden ihrem Tagesgeschehen wieder nach. In diesen Worten von Jesaja steckt nicht nur sozialer Zündstoff. Es steht nicht nur die klare Botschaft, dass das Christentum für die Ärmsten der Armen da ist und wir all unser Geld verschenken
5 sollen, damit die Welt gerechter wird. Es geschieht etwas Ungeheuerliches: Jesus kommt aus dem alltäglichen Geschehen und tritt auf als Gottes Sohn! Deshalb geschieht etwas ver-rücktes, die Realität wird verschoben. Es bedeutet, dass Gott plötzlich aus dem Alltäglichen erscheint und das nicht nur für eine Stunde am Sabbat. Jesus, der Gewöhnliche, der Alltägliche, erscheint plötzlich als göttlicher Bote und Prophet. Mit diesem Gedanken hatten die Leute von damals sehr Mühe. Ich wage zu behaupten, dass es uns genau gleich gehen würde, wenn unser Nachbar plötzlich als Gottes Sohn auftreten würde. Obwohl wir seit der Reformation gelernt haben, dass alle, wie die Worte Paulus sagen, einen täglichen Gottesdienst feiern sollen und das Priestertum aller Gläubigen leben. Aber es passte den Leuten von damals nicht, dass ein ganz normaler Mensch so eine tiefe Gottesbeziehung hatte. Es passte ihnen nicht, dass er einen so starken Glauben und ein grosses Vertrauen zeigte und es mit Vollmacht offen weiter sagte. Das ist das aussergewöhnliche an dieser Bibelstelle, die versteckte Botschaft, weshalb die Leute so wütend wurden. Sie wollten nicht, dass Gott alltäglich zu ihnen kam. Denn dann mussten sie viel sorgsamer in ihrem Alltag leben und wahrnehmen, was um sie herum geschieht. Was geschieht am Montag, wenn ich nach dem Wochenende einem armen Menschen begegne, der da liegt und meiner Hilfe bedarf? Ich muss sofort handeln, weil Gott mir in diesem Menschen erscheint. Diese Teilung der Welt versuchte Jesus aufzuheben: Das Ungewöhnliche kommt ins Gewöhnliche, das Gewöhnliche wird ungewöhnlich. Jesus will durchbrechen, wo wir es uns so wohlig eingerichtet haben! Er will uns zeigen, dass Gott jede Minute zu uns kommt, auch im ganz banalen
6 Alltäglichen, das wir so gewohnt sind. Oft merken wir mitten im Alltagstrott gar nicht mehr, dass Gott zu uns kommen will. Dieses Wort aus Jesaja ist nicht nur für die Blinden ohne Augenlicht gemeint. Es geht Jesus um die Blinden, die vor der Realität ihres Lebens und ihres Unglaubens blind sind. Ihnen hat er einen Spiegel vorgehalten und gesagt, dass sie hineinschauen sollen. Die Unfreien, seid ihr selber. Ihr habt euch eingesperrt in dogmatische Korsetten, in denen ihr nur am Sabbat glaubt und feiert und nicht von Montag bis zum nächsten Freitagabend und all das tut, was Gott euch aufträgt. Wir können unseren reformatorischen Vätern danken, dass sie das in der Reformation aufgedeckt haben. Sie haben gesagt, dass der Gottesdienst von Sonntag bis Sonntag ist; und am Sonntag feiern wir speziell! Aber unser Auftrag ist, Gott jeden Tag am frühen Morgen zu suchen und ihm nachzufolgen, von morgens bis abends. Der Heilige Geist ist ein lebendiges Wesen, das im allergewöhnlichsten Moment, wie auch im ungewöhnlichsten, kommen kann. Seid wachsam! sagt Jesus. Schaut, was in eurem täglichen Leben geschieht und seid offen. Seid nicht Gewohnheits-Christen, macht es euch auf euren Sitzen nicht bequem und denkt, dass ihr schon alles gehört habt. Seid achtsam auf diesen Heiligen Geist, der immer wieder kommen will. Glauben Sie mir, wenn Sie sich für diesen Heiligen Geist öffnen, ist es sehr spannend, was jeden Tag mit Ihnen geschieht. Horchen Sie immer wieder, was Sie als nächstes tun sollen. Herr, welche Aufgabe sendest du mir? Darf ich jetzt einen Moment ruhen und über deine schöne Welt spazieren? Ich weiss, dass wir nicht alle die gleiche Fähigkeit haben, diesen Geist zu spüren. Aber wir haben doch die gleiche Gabe, uns dafür zu öffnen. Ich lade Sie ein, jeden Tag zu horchen, im Gebet still zu werden und zu fragen:
7 Was isch höt ob? (Was ist heute als nächstes dran?) Max Frisch nennt es so: Was sind die Forderungen des Tages? Was soll ich heute tun und was bringst du mir, Heiliger Geist, heute? Was willst du, Gott, dass ich heute für dich mache? Was willst du Jesus? Darauf sollen wir uns einlassen und dem nachgehen. Dann hören wir Dinge, die sonst der Lärm der Welt übertönt. Man hört Stimmen, die sagen, dass wir dieser Frau telefonieren sollen, weil wir wissen, dass es ihr nicht gut geht. Oder wir sollten jemandem etwas bringen und für diese Person da sein. Oder, dass wir uns ein wenig Ruhe gönnen sollen, weil wir zu erschöpft sind. Der Heilige Geist sagt zu uns: Werde ruhig und spüre wie Gott in dir wirkt. Im Gebet bist du wieder mit ihm verbunden. Weil der Prophet in das Gewohnte ungewohnt einbricht, zählt er im eigenen Land nichts. Jesus hat hier ein altes Sprichwort der damaligen Zeit erlebt und erfahren. Das Erstaunliche ist, dass Jesus über diesen Unglauben dennoch staunt. Das sagt viel. Auch er dachte, dass er anders ankommen werde und nahm an, dass sich die Menschen vermehrt öffnen werden. Aber, dass es nicht so einfach geschieht, erkennen wir in diesem Bibeltext. Es wird hier schon sichtbar, dass die Menschen heute Schwierigkeiten haben, noch irgendetwas Religiöses zu glauben. Es gehört zu dieser Welt. Wenn wir Jesus kennen und den Heiligen Geist wahrnehmen, sind wir berufen, entsprechend zu leben und Zeugnis abzugeben. Oft wundern wir uns über den Unglauben in dieser Welt. Ein Trost ist, dass auch Jesus das so erfahren hat. Was hat er dann gemacht? Er ist weitergezogen und hat weiter gelehrt. Dann zog er in den umliegenden Dörfern umher und lehrte. Folgen wir ihm nach! Amen. ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH Sekretariat St. Anna, Grundstrasse 11c, 8934 Knonau, Telefon 044 776 83 75