Ergebnisse aus der ELSID-Studie zum strukturierten Behandlungsprogramm (DMP) Diabetes mellitus Typ 2 Pressegespräch Berlin, 12.08.2008 Prof. Dr. med. Joachim Szecsenyi, Dipl. Soz. Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Heidelberg
Fallbeispiel Fr. Müller, eine 64 jährige, kräftig gebaute Diabetikerin, erscheint Dienstag morgen wegen akuter Rückenschmerzen in der Praxis Dr. Jedermann. Nach Abklärung der Akutsymptomatik erkundigt dieser sich nach den Blutzucker-Werten seiner Patientin und erhält von ihr die Antwort, alles wäre in Ordnung, sie esse ganz normal und würde sich wohl fühlen. In der Patientenakte sind weder aktuelle Laborwerte zu finden, noch ein Befund des Augenarztes. Sie war das letzte mal vor 7 Monaten in der Sprechstunde, zwischendurch hat sie sich einmal ein Wiederholungsrezept ihrer Medikamente abgeholt. Da Fr. Müller keinen Diabetikerpass dabei hat, veranlasst Dr. Jedermann eine Blutentnahme und misst den Blutdruck. Die am Abend erhaltenen Laborwerte zeigen einen Langzeit-Blutzuckerwert von 8,7%. Dr. Jedermann beabsichtigt, sich beim nächsten Besuch der Patientin intensiver mit deren Diabetes zu beschäftigen... ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 2
Disease-Management Programme Sektor-übergreifende Versorgungsform, die sich an Patientengruppen mit bestimmten Erkrankungen richtet. Ziele: bessere Strukturierung, bessere Kooperation zwischen Versorgungsebenen (Hausarzt, Fachspezialist) Einsatz Evidenz-basierter Leitlinien mehr Eigeninitiative von Patienten ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 3
Wichtige Elemente DMP ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 4
Die Kernfrage... Führt die Einführung von DMP als Breitenprogramm in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu Unterschieden gegenüber der bisherigen Regelversorgung? Bei Patienten und Leistungserbringern In Strukturen, Verhalten und medizinischen Abläufen (Prozessen) und Ergebnissen Bei den Kosten Falls es Unterschiede gibt: Sind diese eher zufällig, oder sind sie systematisch (kausal) ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 5
ELSID-Diabetes mellitus Evaluation of a Large Scale Implementation of Disease Management Programmes Diabetes mellitus Typ 2 (sog. Altersdiabetes ) Zwei Studienteile A. Teilnahme am DMP im Vergleich zu Nicht- Teilnahme an DMP (Regelversorgung) 422 Praxen, 11.079 Patienten B. optimierte Umsetzung von DMP im Vergleich zur Routineumsetzung Joos et al:the ELSID diabetes study: rationale, design and conduct a study protocol [ISRCTN08471887]. BMC Public Health 2005 ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 6
Teilnehmer und Datengrundlage Versicherte einer Krankenkasse (AOK) 2 Bundesländer (Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz) DMP-Dokumentationdaten, Routinedaten der AOK (Verordnungen, Hospitalisierungen, Kosten, Inanspruchnahme, Sterblichkeit, etc. etc.) Patientenbefragungen ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 7
Besonderheiten Studie aus der Wissenschaft initiiert, und von der Wissenschaft nach internationalen Standards umgesetzt (sog. Investigator Initiated Trial ) Rolle des Sponsors (hier: AOK) klar geregelt, kein Einfluss auf Ergebnisse und Publikationen Planung, Datenmanagement, Durchführung und Auswertung ausschließlich durch beteiligte Wissenschaftler Vorab-Registrierung in einem internationalen Studienregister Vorab-Veröffentlichung des Studienprotokolls Publikationspflicht (auch bei negativem Ergebnis) ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 8
Im Fokus heute... Nutzen für Patienten: Sterblichkeit (Mortalität) und Überleben Behandlungsqualität (wie von Patienten erlebt) ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 9
Studienpopulation In die Studie eingeschlossen wurden Patienten mit Diabetes mellitus, die zu Beginn über 50 Jahre alt waren, und die antidiabetisch medikamentös behandelt wurden. Teil A: Teilnahme am DMP im Vergleich zu Nicht-Teilnahme an DMP (Regelversorgung) % weiblich Durchnittl. Alter DMP (n=2.300) 59,3 70,5 Nicht-DMP (n=8.779) 61,1 72,8 ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 10
Sterblichkeitsraten im Vergleich Sterblichkeitsrate in der Regelversorgung: 18,8% (1.649 von 8.779) Sterblichkeitsrate im DMP: 10,9% (251 von 2.300) ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 11
Einschränkung: Patienten, die nicht im DMP sind, sind um 2,3 Jahre älter! Aber auch altersgewichteter Vergleich zeigt immer noch deutliche Unterschiede. Was passiert, wenn man auch Krankheitsschwere und Begleiterkrankungen berücksichtigt? ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 12
Bildung von Zwillingspärchen Zuordnung jedes Patienten im DMP zu einem Zwilling aus der Regelversorgung ohne DMP: Gleiches Alter, Geschlecht, Erkrankungen, Versichertenstatus, Pflegebedürftigkeit, etc. % weiblich durchnittl. Alter in Jahren DMP (n=1.927) 60,3 70,7 Nicht-DMP (n=1.927) 60,3 70,7 ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 13
Situation nach 2,5 Jahren Von den Patienten im DMP sind 9,5% (183 von 1.927) verstorben Von den Patienten in der Regelversorgung sind 12,3% (237 von 1.927) verstorben Statistisch signifikanter Unterschied Relevanter Unterschied: Im DMP leben 54 der 1.927 Patienten mehr Die Chance den Beobachtungszeitraum zu überleben, war für die Patienten, die im DMP sind, 1,34-fach höher, als für Patienten in der Regelversorgung (OR 1,34 [1,09; 1,64]). ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 14
Patientenbefragung 3.546 AOK-Versicherte kein besonderer Verweis auf DMP (Vermeidung von erwünschten Antworten) Auswertbare Fragebögen: 1.399 865 (61,8%) im DMP, Alter 70,2 J., 465 Frauen 534 (38,2%) nicht im DMP, Alter 70,5 J., 285 Frauen Behandlungsqualität: Wie erleben Patienten die Versorgung, wie werden sie eingebunden? Werden bestimmte Elemente der Versorgung, von denen man erwartet, dass sie für chronisch Kranke von Vorteil sind, umgesetzt? (Chronic Care Modell) Szecsenyi J et al:german Diabetes Disease Management Programs Are Appropriate for Restructuring Care According to the Chronic Care Model. Diabetes Care 2008; 31: 1150-1154 ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 15
Beispiel: In den letzten 6 Monaten wurde mir im Voraus erklärt, wie ich mit meiner Erkrankung auch in schwierigen Phasen umgehen kann. Umgang in schwierigen Phasen 60 55 50 45,9 Prozent 40 30 20 10 24,9 33,3 20 20,7 DMP Nicht-DMP n=1.295 p<0,001 0 So gut wie nie/meistens nicht Gelegentlich Antworten PACIC Meistens/fast immer ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 16
Schlussfolgerungen I Vergleich von DMP- Teilnehmern und Nicht-DMP- Teilnehmern zeigt relevante und signifikante Unterschiede auf Evidenzbasierte, am Nutzen für den Patienten ausgerichtete Versorgungselemente im Sinne des Chronic Care Modells werden von Hausarztpraxen im DMP - von Patienten wahrnehmbar stärker umgesetzt. Bessere Unterstützung von Selbstmanagement und Verhaltensänderungen Der informierte, aktive Patient und das pro-aktive Praxisteam Szecsenyi J et al:german Diabetes Disease Management Programs Are Appropriate for Restructuring Care According to the Chronic Care Model. Diabetes Care 2008; 31: 1150-1154 ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 17
Schlussfolgerungen II Im Beobachtungszeitraum von 2,5 Jahren überleben mehr Typ-2-Diabetiker,die im DMP eingeschrieben sind, als vergleichbare Versicherte, die in der Regelversorgung betreut werden. Mögl. Gründe: Kombination verschiedener Maßnahmen, die auf Patienten und Praxen wirken Betreuungseffekt Setzung von Prioritäten, frühzeitiges Erkennen von Problemen Bessere Kooperation zwischen Versorgungsebenen ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 18
Danke......an die beteiligten Patienten, Hausärzte und Praxisteams... an den AOK Bundesverband, die AOK Rheinland- Pfalz, die AOK Sachsen-Anhalt und die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen-Anhalt...an die beteiligten Wissenschaftler und das Projektmanagementteam Dr. A. Miksch, Dr. T. Rosemann, Dr. G. Laux, D. Ose, J. Trieschmann, A. Rölz, R. Kninider, Dr. B. Riens, Dr. P. Kaufmann-Kolle, Dr. M. Heiderhoff, B. Broge...an weitere Qualitätszirkelmoderatoren und Visitoren Dr. T. Kühlein, Dr. S. Ludt, Dr. I. Marx, P. Spamer-Rieter, A. Schay, C. Kirst, K. Mende ELSID-Diabetes-Studie, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg 2008 19