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Transkript:

Frank Dirkopf, Insa Härte!, Christine Kirchhoff, Lars Lippmann, Katharina Rothe (Hg.) Aktualität der Anfänge

» Psych oa na Lyse«KARL-JOSEF PAZZINI, (LAUS-DIET ER RATH, MARIANNE S CHULLER Editorial»Aus praktischen Gründen haben wir, auch für unsere Publikationen, die Gewohnheit angenommen, eine ärztliche Analyse von den Anwendungen der Analyse zu scheiden. Das ist nicht korrekt. In Wirklichkeit verläuft die Scheidungsgrenze zwischen der wissenschaftlichen Psychoanalyse und ihren Anwendungen auf medizinischem und nichtmedizinischem Gebiet.«(Sigmund Freud, Nachwort zur Laienana lyse, 1926, StA Erg. Bd., 348) Die Reihe >>Psychoanalyse<< stellt Anwendungen der Psychoanalyse dar, d.h. Arbeiten, die sich mit den Bildungen des Unbewußten beschäftigen, denen wir in der analytischen Kur, in kulturellen und gesellschaftlichen Erscheinungen, aber auch in den Theorien und Forschungsmethoden der Wissenschaften sowie in den Erfahrungsweisen und Darstellungsformen der Künste begegnen. Psychoanalytische Praxis und Theoriebildung stützen sich nicht allein auf die Erfahrungen der analytischen Kur. Sobald ein Psychoanalytiker aber versucht, sein eigenes Tun zu begreifen, begibt er sich in andere Gegenstandsbereiche und befragt andere Disziplinen und Wissensgebiete und ist damit auf die Arbeiten von Wissenschaftlern und Künstlern angewiesen. Insofern exportieren die Anwendungen der Psychoanalyse nicht lediglich nach Art einer Einbahnstraße die Erkenntnisse einer >fertigen< Psychoanalyse in andere Gebiete, Disziplinen und Bereiche, sondern sie wendet sich auch an diese und wendet diese auf sich zurück. Ohne den eingehenden Blick auf die Naturwissenschaften, Kulturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Mythologien, Literatur und bildenden Künste konnte die Psychoanalyse weder erfunden noch von Freud und seinen Schülern ausgebaut werden. Ein Forum dafür war die 1912 gegründete Zeitschrift und Buchreihe >>Imago«, die sich der Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur und die Geisteswissenschaften gewidmet hat; später nannte sie sich allgemeiner >>Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen«. Die dort erschienenen Arbeiten sollten andere Disziplinen befruchten, der psychoanalytischen Forschung neue Gebiete erschließen, aber auch in jenen anderen Bereichen Modelle und Darstellungsmöglichkeiten für die psychoanalytische Forschung ausfindig machen. In der Hoffung auf ein ähnlich gelagertes Interesse von der anderen Seite her, also in der Hoffnung, daß >>Kulturhistoriker, Religionspsychologen, Sprachforscher usw. sich dazu verstehen werden, das ihnen zur Verfügung gestellte neue Forschungsmittel selbst zu handhaben«(freud,

Frage der Laienanalyse, StA Erg. Bd., 339), wurde um 1920 sogar eine spezielle Art von Lehranalyse«eingerichtet denn:»wenn die Vertreter der verschiedenen Geisteswissenschaften die Psychoanalyse erlernen sollen, um deren Methoden und Gesichtspunkte auf ihr Material anzuwenden, so reicht es nicht aus, daß sie sich an die Ergebnisse halten, die in der analytischen Literatur niedergelegt sind. Sie werden die Analyse verstehen lernen müssen auf dem einzigen Weg, der dazu offen steht, indem sie sich selbst einer Analyse unterziehen.«(freud, ebd.) Für Freud war klar, daß die Erforschung des Einzelmenschen eine Frage der Sozialpsychologie ist, denn >>im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht«(Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1921, G W Bd. XIII, 73). Ihn interessierte auch, auf welche Fragen überlieferte und zeitgenössische Kulturphänomene wohl eine Antwort darstellen und wie derartige Kultursymptome sich bilden, oder welcher Illusionen Menschenwesen fähig sind, und auch, welche organisierten (neuen und alten) Bedrohungs- und Heilsphantasmen ihnen von Religion und Massenmedien aufgedrängt werden. Er befaßte sich also einerseits mit den Mechanismen und Funktionen, vermittels derer Kulturelles im Psychismus wirkt, und andererseits mit dem inneren Funktionieren kultureller Gebilde und Prozesse. (Zu letzterem gehören die Motive, die Ökonomien und die Überlieferungswege kultureller Vorgänge, die ja auch Bildungen des Unbewußten sind: kulturelle Zensur, Reaktionsbildungen, Symptombildungen, Regressionen, Sublimierungen usw.) Zugleich erkannte er, daß >>manche Äußerungen und Eigenschaften des Über-Ichs [...]leichter bei seinem Verhalten in der Kulturgemeinschaft als beim Einzelnen<< zu erkennen sind. Aufgrund der zumeist unbewußten Natur der >>Aggressionen des Über-Ichs << seien die zur Gewissensangst >>gehörigen seelischen Vorgänge uns von der Seite der Masse vertrauter, dem Bewußtsein zugänglicher [...] als sie es beim Einzelmenschen werden können<< (Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930, GW Bd. XIV, 502). Einige wesentliche Elemente seiner Theorie sind für Freud vorzugsweise als >>Spiegelung<< in kulturellen Erscheinungen beobachtbar. So zeigten manche >>der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich < sich viel deutlicher im Bereich der Religionen. Diese Strategie, etwas allein theoretisch Erschlossenes dort erkennbar zu machen, wo es sich wie >>auf einer weiteren Bühne wiederholt<< (Freud, Nachschrift 1935, GW Bd. XVI, 32), verfolgt Freud auch mit seinem Versuch, >>einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker<< (so der Untertitel von >>Totem und Tabu<<) herauszuarbeiten. Freuds wissenschaftliches Projekt einer Erschließung des >uner-

kennbaren< Unbewußten - Vorgänge, Inhalte, psychische Gebiete und Strukturen ist die Darstellung dessen, was er das»reale<< nennt. Diesem Realen, das >>immer >unerkennbar< bleiben<< (Freud, Abriß der Psychoanalyse, 1940, GW Bd. XVII, 126) wird, begegnet der Psychoanalytiker in erster Linie in Gestalt des Symptoms. Er kann in seiner Forschung nicht auf Versuche anderer Wissenschaften und Künste verzichten, das unerkennbare Reale zu erfassen und darzustellen. Freud wird dabei notwendigerweise selbst zu einem psychoanalytischen Kulturforscher und zu einem wissenschaftlichen Dichter, der seine Theorie der Urhorde»unseren Mythus<< und die Triebe»unsere Mythologie<< nannte. Jacques Lacan hat sich u.a. von der surrealistischen Bewegung inspirieren lassen, und seine Lehre entsteht aus der Verbindung der klinischen Beobachtung, des Studiums des Freudsch en Textes, der kritischen Würdigung der zeitgenössischen psychoanalytischen Literatur im Durchgang durch die Philosophie, linguistische Theorien, Ethnologie, Literatur und Mathematik (Topologie). Der Begegnung der Psychoanalyse mit anderen Wissenschaften und Künsten eignet ein Moment der Nicht-Verfügbarkeit. des Nicht Verfügens, ein Moment. das Verschiebungen und Veränderungen mit sich bringt. Dadurch entstehen auch in der Psychoanalyse Spielräume für neue Konfigurierungen. In diesem Sinne geht es in der Schriftenreihe um den Stoffwechsel zwischen Psychoanalyse, den Wissenschaften und den Künsten. Nicht nur die psychoanalytische Forschung, sondern auch die psychoanalytische Kur ist von Sigmund Freud als >>Kulturarbeit<< verstanden worden: sie wirke der >>Asozialität des Neurotikers«, der >>Kulturfeindschaft < der Menschen und insofern der Barbarei entgegen.

FRANK DIRKOPF, INSA HÄRTEL, (HRISTINE KIRCHHOFF, LARS LIPPMANN, KATHARINA ROTHE (HG. ) Aktualität der Anfänge. Freuds Brief an Fließ vom 6.12.1896 [ transcript]

Gedruckt mit Unterstützung der Universität Bremen. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen N ationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. zoo8 transcript Verlag, Bielefeld Die VeiWertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Der Abdruck des Briefes von Sigmund Freud an Wilhelm Fließ erfolgt mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages, Frankfurt am Main. Aus: Sigmund Freud. Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, hrsg. von Jeffrey Moussaieff Masson, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1986. Die Verwendung der Ausschnitte von Faksimiles von Freuds Handschrift erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Sigmund Freud Copyrights/Patersan Marsh Ltd., London. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Lars Lippmann und Frank Dirkopf Redaktionelle Mitarbeit: Sonja Witte Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-682-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www. transcript-verlag. de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: injo@transcript-verlag. de

INHALT Vorwort 9 Vorbemerkung INSA HÄRTEL 13 Post, Publikation, Politik Anstatt einer Einleitung FRANK DIRKOPF 19 Spuren lesen und schreiben - Zur»Sprache des Abwesenden < bei Freud ELFRIEDE LÖCHEL 39 Freud und Fließ zwischen Paranoia und Verführungstheorie UDO HOCK 59»Das hat doch etwas zu bedeuten?«- Von Überlebsein und Phasen C HRISTTNE KTRCHHOFF 77 Über Unvoreingenommenheit: Freuds widersprüchliche Forderung MICHAEL TuRNHEIM 95

Triebtransformation CHRISTOPH TÜRCKE 113»Ich habe nun ein recht entwurzeltes Gefühl«Die Phitippson-Bibel in den Kulissen des Briefes von Freud an Fließ vom 6. Dezember 1896. LILLIGAST 123 Lust, Zwang, Wiederholung DARU HUPPERT 145 Der verworfene Freund Über die Schwierigkeit, der Psychoanalyse (nicht) ein wissenschaftliches Fundament zu geben PETER SCHNEIDER 163 Brief an Wilhelm Fließ vom 06. 12. 1896 SIGMUND FREUD 173 Autorinnen und Autoren Herausgeberinnen und Herausgeber 185

VORWORT Anlässtich des 150. Geburtstages von Sigmund Freud haben wir im Dezember 2006 zu der Tagung»Erinnerungsspuren - Überlebsei aus den Anfängen der Psychoanalyse«an die Universität Bremen eingeladen, um einen Brief zu diskutieren, den Freud vor mittlerweile fast 111 Jahren, am 06.12.1896, an seinen damaligen Freund Wilhelm Fließ schrieb. Die Bewegung, von der der Brief handelt - Übersetzung, Verdrängung, Nachträglichkeit -, betrifft mindestens ebenso sehr auch seine eigene Rezeptionsgeschichte - er schien zunächst verloren, auch vergessen, wurde dann wiederentdeckt, neu gelesen und interpretiert. Daher bietet er sich an als Ausgangspunkt, das von Freud Entworfene dort und darüber hinaus zu verfolgen, sich auf die Spur all dessen zu begeben, was nachträglich hier seinen Ursprung zu haben scheint. Der titelgebende Hinweis auf die»aktualität der Anfänge«fungiert so zunächst als eine Begründung für unsere Vorgehensweise, einen einzigen frühen Brief Freuds zum Gegenstand einer Tagung und nun eines Bandes zu machen. Ein Plädoyer für eine»rückkehr«zu den Anfängen scheint es heute gar nicht mehr zu brauchen, eine solche ist aktuell, entspricht nicht mehr nur einem spezifischen Programm der Freud-Lektüre, sondern wird von verschiedensten Theorietraditionen - freilich im einzelnen auf ebenso verschiedene Weise - praktiziert. Insofern artikulieren und thematisieren die Beiträge nicht zuletzt auch die Zwiespältigkeit der zeitgenössischen Referenz auf den frühen Freud. Sie zeigen, dass und wie das im Brief Angesprochene auch heute noch wirkt. Den Beiträgen stehen zwei einleitende Texte voran. Insa Härte! begibt sich in einer assoziativen Annähenmg auf die Spur des Briefes. Frank Dirkopf geht - anstelle einer inhaltlichen Einführung - der Frage nach, wo und wie sich in der Textform des Briefes, seiner Geschichte und seinem Inhalt Probleme des Politischen auffinden lassen. Elfriede Löchel liest in ihrem Beitrag die Textform des Briefes als»privilegierten Ort des abwesenden Anderen«. Ausgehend davon, dass in Freuds Brief zwar vom Schreiben die Rede ist, nicht aber vom Lesen, untersucht sie, wie sich das Schreiben/Umschreiben zum Lesen psychischer 9

AKTUALITÄT DER ANFÄNGE Texte verhält. Durch das Verfolgen der intertextuellen Bezüge des Wortes»Schrift«begibt sie sich auf die Spur der Schriftmetapher und des Schriftmodells in Freuds Werk, die sie auch vor dem Hintergrund des medialen Umbruchs im Zeitalter der Digitalisierung thematisiert. Dies mündet in der These, dass»schrift am Subjekt ansetze, mit diesem verwachsen sei, indem sie es auf einen nie einholbaren Anderen hin ausrichte und damit ins Verhältnis zum Abwesenden setze«. Udo Hock beschäftigt sich mit der Rolle, die Freuds Beziehung zu seinem wahnhaften Freund Fließ für die Anfänge der Psychoanalyse gespielt hat und entwickelt daran anschließend die These von der»paranoia als notwendige(r) Kehrseite der psychoanalytischen Theoriebildung«. Der zweite Teil seines Aufsatzes ist ein inhaltlicher Kommentar zum ersten Teil des Briefes, in dem er rekurrierend auf Laplanche das von Freud entworfene Modell des psychischen Apparates von fünf Seiten betrachtet: als diachrones und zugleich synchrones Modell, als semiotisches Modell, als Übersetzungsmodell, als sexuelles Modell und als Modell vom Anderen. Christine Kirchhof! fragt nach den Wunsch- und Abwehrdimensionen des Fließsehen Periodensystems. Mit dem sich dort artikulierenden Wunsch nach Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Lebens werde zugleich die verunsichernde Qualität des von Freud zuvor Entworfenen abgewehrt. Mit Hilfe von Adornos Überlegungen zur Kritik von Aberglauben und Okkultismus entwickelt sie anhand der Untersuchung eines Vortrages von Wolf Singer die These, dass heute die Neurokognitionswissenschaften den Platz und die Funktion des Fließsehen Periodensystems einnehmen. Michael Turnheim bezieht sich auf Freuds apodiktischen Satz im Brief,»Bewußtsein und Gedächtnis schließen sich nämlich aus«. Davon ausgehend, dass Freud mit der Annahme breche,»in uns«würden sich in der Welt bestehende Dinge»abbilden«, beschäftigt er sich mit der Figur (und der Dekonstruktion) der»unvoreingenommenheit der Wahrnehmung«bei Rilke, Heidegger, Heider, Husserl und Derrida. Die»Unmittelbarkeit der Wahrnehmung«sei das Begehren selbst. Christoph Tiircke kommt in seinen Überlegungen zum traumatischen Wiederholungszwang als»nervenzerrütter und Kulturstifter«zu der Einschätzung, dass die Schriftmetapher nicht überzustrapazieren sei: Nicht überall dort, wo gelesen werde, sei auch geschrieben worden. In seiner anschließenden»psychoarchäologischen«untersuchung geht es um die dem traumatischen Wiederholungszwang geschuldeten Triebtransformationen, welche die Vorzeit von Eros und Geist darstellten und somit erst das Herrschaftsgebiet des Lustprinzips konstituierten. 10

VORWORT Lilli Gast folgt einer»zunächst assoziativen«spur, die sie über den Topos des Todes in Freuds Brief zur Philippson-Bibel führt. Diese Bibel, die Freud von seinem Vater geschenkt bekam, stimme formal mit dem Freudschen Erinnerungsmodell, wie er es im Brief zu entwickeln begann, überein: Auch bei der Philippson-Bibel handle es sich um eine mehrfache Niederlegung von Erinnerungen in verschiedenen Arten von Zeichen. In ihrer Beschäftigung mit der Bedeutung des Todes des Vaters für Freud geht sie auf die Figur des Erwachens und des dialektischen Bildes bei Benjamin ein. Aktuelles und Gewesenes treten zusammen, konstituieren einander. Daru Hupperl geht es um die Erkundung der»eigenart der Lust«. Beginnend mit dem Verhältnis der infantilen Sexualität zur Sexualität der Erwachsenen, versucht er das»seltsame an der Lust«in ökonomischer Hinsicht zu umreißen und geht der Frage nach, was an der Lust diese unerträglich, ja»toxisch«machen kann. Da dieser Versuch einen Standpunkt jenseits des Lustprinzips benötige, führt seine Lektüre von der Zweizeitigkeit der Sexualität und der Nachträglichkeit, wie sie im Brief angedacht wird, über»jenseits des Lustprinzips«zum»Ökonomischen Problem des Masochismus«und damit zum Wiederholungszwang. Die Qualität der Lust hänge vom Mischverhältnis der Triebe ab, zwischen der kindlichen und der erwachsenen Sexualität herrsche ein quantitatives und qualitatives Missverhältnis. Peter Schneider thematisiert die Funktion für Freud, die Fließ mit seiner eigenwilligen Theorie für die Begründung der Psychoanalyse hatte. Er untersucht die Bedingungen für das Wegfallen und Wiederauftauchen des Fließ-Teils in der Editionsgeschichte des Briefes sowie die Umstände der Beendigung der Freundschaft mit Freud durch Fließ. Die Psychoanalyse bestimmt er als»fruchtbar misslingende Fehlleistung«eines»totalisierenden wissenschaftlichen Denkens«, an dem heute neben dem Unabgeschlossenen mehr noch das Singuläre anstößig wirkt. Die Lücke, die Fließ hinterlässt, müsse daher offen bleiben. Sigmund Freud thematisiert in seinem Brief an Wilhelm Fließ vom 06.12.1896, den wir abschließend abdrucken, schließlich vieles von dem, worauf sich die vorangehenden Beiträge beziehen. Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und ihr Engagement. Besonders bedanken wir uns bei Elfriede Löchel - die mit ihrem»forum für psychoanalytische Forschung«an der Universität Bremen einen Raum bietet, in dem Projekte wie dieses ihren Anfang nehmen können - für ihre Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung. Außerdem geht unser Dank als Herausgeberinnen und Herausgeber an diejenigen, die mit uns als»tagungsgruppe«11

AKTUALITÄT DER ANFÄNGE die Tagung und das Buch mitgeplant und organisiert haben: Dara du Guerny, Judith Hecke!, Torsten Jesuiter und Sonja Witte. Für die finanzielle Ermöglichung des Projekts bedanken wir uns bei der Hans-Böckler-Stiftung, der Universität Bremen, der Rosa-Luxemburg-Initiative Bremen sowie der Bremer Psychoanalytischen Vereinigung. Die Herausgeberinnen und Herausgeber 12

VORBEMERKUNG lnsahärtel An dieser Stelle erwartet Sie eine Vor-Bemerkung in Form einer assoziativen Annäherung an das Thema des Buches: Aktualität der Anfänge. Freud~ Briefan Fließ vom 06.12.1896. Was hat es damit auf sich? Es geht um einen Brief, mit Lacan gesprochen, ein >fliegendes Blatt<. Wenn ich Briefe lese, vor allem solche, die nicht an mich oder an die Öffentlichkeit gerichtet waren und dennoch zu lesen sind, frage ich mich manchmal: Wem gehört ein Brief? Denn: Sagt man, er gehört dem,»der ihn abgeschickt hat«, was heißt es dann, ihn zu übergeben, zu schicken? Denkt man hingegen,»daß er dem Ernpfarrger gehört, wie kommt's dann, daß man unter bestimmten Umständen seine Briefe der Person zurückgibt, die einen während eines Abschnitts der eigenen Existenz mit ihnen bombardiert hat?«(lacan 1954-55: 251). Am Anfang dieses Buches steht ein Brief, einer jener Briefe»aus den Anfangen der Psychoanalyse«(s. Freud 1950a), mit denen Freud gewissermaßen Fließ einen Lebensabschnitt lang >bombardierte< - und die er niemals zur Veröffentlichung vorgesehen hat.»ich möchte nichts davon zur Kenntnis der sogenannten Nachwelt kommen lassen [... ]«, schreibt er. 1 Ein Brief, der auf Um- und Fluchtwegen dennoch bei uns angekommen ist. Er kann vielleicht einiges von Über- und Rückgabe erzählen: Nach dem Tod ihres Mannes bittet Ida Fließ im Jahre 1928 Freud um die Übergabe von Fließ' Briefen, die Freud jedoch vernichtet hat bzw. nicht mehr auffinden kann. Die von Fließ bewahrten Briefe hingegen werden von seiner Witwe verkauft, sodann Marie Bonaparte 1936 zum Kauf angeboten, die zugreift, Freud davon berichtet, seinem Ansinnen, die Briefe zu vernichten, nicht nachgibt, sondern sie 1937/38 in Wien und dann 1940 in Paris deponiert, sie so vor den Nationalsozialisten rettet, sie schließlich nach London verschifft... so nimmt die Brief-Geschichte ihren Verlauf. 2 1 Freud an Marie Bonaparte am 3. Januar 1937 (zit. n. Masson 1985: XIX). 2 Vgl. Jones (1961 ). -»in den späten 40er Jahren wurden die Briefe von Marie Bonaparte an Anna Freud ausgehändigt, die sie abschreiben ließ und sie Emest Jones zur Auswertung flir seine monumentale Freud-Biographie 13

AKTUALITÄT DER ANFÄNGE Wem gehört ein Brief? Wir, an der Stelle des Adressaten, lesen dieses >fliegende Blatt< aus dem schließlich ein-seitig veröffentlichten Briefwechsel zwischen Fließ und Freud - es ist bei uns angekommen; wir werden offenbar, nach 111 Jahren, von ihm angemfen. Dieses Buch fragt:»was will dieser Brief von uns?«denn dieser Brief gibt Rätsel auf. Was will er mir, wo liegt das Begehren? Suchen wir vielleicht durch die Lektüre ein sich in den Briefen artikulierendes Begehren Freuds zurückzuerhalten, insofern etwa Freuds Feder, mit Wegener gesprochen,»fließ gegenüber in besonderer Weise gelockert ist«? (Wegener 2004: 127). Suchen wir die Ränder eines Werkes, quasi das Subjektive im Sachlichen, insofern»das Sachliche«, wie es in einem anderen Brief Freuds von 1937 über den Briefwechsel heißt,»in diesem Falle auch recht persönlich«ist? Und:»bei der so intimen Natur unseres Verkehrs verbreiten sich diese Briefe natürlich über alles Mögliche [...]«. 3 - Was suchen wir an Möglichem? Was ist möglich mit diesem verbreiteten Brief?» [T]odmüde und geistig frisch«, wie es heißt, trägt Freud in dem Brief an Fließ vom 06.12.1896 versuchsweise»das letzte Stückehen Spekulation schlicht«vor (Freud 1985: 217) und schreibt sodann ebenso von annähernder Heiserkeit und Gipsen der Florentiner Statuen wie von Oberbau und Organgrundlage. Wir finden in diesem Brief ein mehrfach vorhandenes Gedächtnis, ein Umschrift erfahrendes Erinnerungsspurenmaterial, Übersetzungs-Versagung, gesonderte Niederschriften - und: weibliche Perioden. Wenn also zunächst von Nieder- oder Umschriften die Rede ist, dann klingt hier ein Sprach- bzw. Schriftbezug an, den wiedemm bestimmte, an- und aufregende - und in sich durchaus nicht konfliktfreie - Diskurse betonen. Nach Lacan etwa sind die Freud interessierenden Gedächtnisphänomene bei Freud stets Sprachphänomene; und mit den mehrfachen Registern wird Lacans»Mühle das Wasser«zugeführt (Lacan 1955-56: 186). überließ. 1980 vermachte Anna Freud die Originale der Library of Congress, wo sie für die Öffentlichkeit gesperrt sind«. 1950 erschien»in London (bei Imago Publishing Company) eine deutsche Ausgabe unter dem Titel Sigmund Freud, Aus den Anfangen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902 [... ]Als Herausgeber zeichneten Marie Bonaparte (Paris), Anna Freud (London) und Ernst Kris (New York).«In diese Edition wurden nicht alle verfügbaren Briefe und Papiere aufgenommen und auch Passagen ausgelassen. (In der Neuausgabe von 1985 wurden dann sämtliche Briefe ohne Streichungen abgedruckt) (Masson 1985: XXIIIf.). 3 Freud an Marie Bonaparte am I 0. Januar 1937 (zit. n. Masson 1985: XX). 14