KÖNNEN GEFÜHLE VERKEHRT SEIN?



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e-journal Philosophie der Psychologie KÖNNEN GEFÜHLE VERKEHRT SEIN? von Bei so einer Frage muß zuerst geklärt werden, was die Begriffe "Gefühl" und "verkehrt" bedeuten. Solche Bedeutungsklärungen werden seit Wittgenstein dadurch vorgenommen, daß die Verwendungsweisen eines Begriffs in der Alltagssprache analysiert werden. Die Verwendungsweisen des Gefühlsbegriffs sind sehr zahlreich: man nennt Hunger, Vaterlandsliebe, Schmerz, Ekel, Enttäuschung, Haß, Kummer, Scham, Durst, Ehre, Wärme und noch vieles mehr unterschiedslos "Gefühle". In welchem Sinne könnte eines von diesen und ähnlichen Gefühlen verkehrt sein bzw. was könnte da "verkehrt" überhaupt heißen? Sind Gefühle nicht einfach vorhanden? Ist man ihnen nicht ausgeliefert? Es gibt eine Tradition, der zufolge Vernunft bzw. Verstand einerseits und Gefühle andererseits in Opposition zueinander stehen. Man sagt z.b., Gefühle seien im Unterschied zum Verstand subjektiv, relativ oder privat in dem Sinne, daß sie nur dem Subjekt, das sie hat, eigentlich bekannt sind, so daß es, wenn es will, sie anderen Subjekten zeigen oder auch verbergen kann. Oft wird auch gesagt, Gefühle seien irrational. Manchmal wird auch die scheinbar trennscharfe Opposition zwischen Kopf und Bauch verwendet. Alle diese Oppositionen sind nicht in dieser Striktheit akzeptabel. Um die Titelfrage beantworten zu können, muß der Begriff des Gefühls in seinen verschiedenen Verwendungsweisen analysiert werden. Dazu müssen mindestens vier Phänomenbereiche unterschieden werden, die umgangssprachlich alle mit dem Sammelbegriff "Gefühl" abgedeckt werden, aber nicht von derselben Art sind, sondern ganz verschieden, nämlich 1) Empfindungen, 2) Gefühle, 3) Emotionen und 4) Stimmungen. Da gibt es zunächst das, was wir Empfindungen nennen. Selbst dieses Wort wird mehrdeutig verwendet. Aber in der Regel so, daß die Empfindungen als Sinnesempfindungen bezeichnet werden, also von den menschlichen fünf Sinnen herstammen. Allerdings sprechen wir auch von Schmerzempfindungen. Jedoch kann man Empfindungen von Gefühlen dadurch unterscheiden, indem man sagt, daß Empfindungen dem bloßen Denken gleichen. Ich empfinde etwas z.b. als grün oder als warm. Wenn ich aber die grüne Wiese oder den warmen Stein auch noch als angenehm beurteile, dann ist es so, als ob ich einen Gedanken auch bejahte. Etwas als angenehm oder unangenehm zu fühlen gleicht also dem Bejahen oder Verneinen, ist also mehr als bloßes Denken, sondern analog einem Zustimmen oder Ablehnen. Freilich kommt die Empfindung des Warmen und das Gefühl des Angenehm-Warmen in der Realität nicht getrennt vor, sondern sie werden nur im Rahmen der begrifflichen Abstraktion getrennt. Darüber hinaus ist zu beachten, was für Gefühle und Empfindungen gilt: man muß sie fühlen bzw. empfinden, sonst hat man sie nicht. Man kann nicht etwas als angenehm warm empfinden bzw. fühlen und nichts davon wissen. Gefühle und Empfindungen stehen einem anderen Phänomenbereich gegenüber, den man Emotionen nennen könnte. Für Emotionen ist es notwendig, auf einen Sachverhalt (daß etwas der Fall ist) bezogen zu sein: "Ich fürchte mich davor, daß das und das der Fall ist", was für Empfindungen und Gefühle nicht zutrifft. Der andere Grund für die Unterscheidung beider Phänomenbereiche besteht darin, daß es mentale Zustände gibt, in denen man sein kann, ohne zu bemerken, daß man in ihnen ist. Man kann z.b. eitel, verärgert, neidisch, ängstlich oder vielleicht Seite 1 Juni 2005 http://www.jp.philo.at/texte/koehlerw2.pdf

auch verliebt sein, ohne es zu bemerken. Ganz sicher gilt diese Möglichkeit für die Eifersucht. Halten wir fest: Emotionen kann man haben, ohne zu bemerken, daß man sie hat. Dieser Umstand stellt ein wichtiges Unterscheidungskriterium zwischen Empfindungen und Gefühlen einerseits und den Emotionen andererseits dar. Anders gesagt: Wenn man nicht bemerkt, daß man in einem emotionalen Zustand ist, folgt daraus nicht, daß man nicht in diesem Zustand ist. Gefühle aber müssen gefühlt werden, und ebenso müssen Empfindungen empfunden werden. Wenn etwas für mich angenehm oder unangenehm ist, fühle ich es, und wenn mir etwas warm oder kalt vorkommt, empfinde ich es. Am Beispiel der Zahnschmerzen kann man nicht nur den realen Zusammenhang von z.b. stechender Empfindung und schrecklichem Gefühl erkennen, sondern auch die Unmöglichkeit, Zahnschmerzen zu haben, aber nichts davon zu wissen. Im übrigen sind Zahnschmerzen ein klassisches Beispiel für Erste-Person-Autorität etwa im Unterschied zur Eifersucht. Der Zahnarzt, der seinen Patienten ihre Zahnschmerzen ausreden wollte, wäre vermutlich bald pleite, weil er ihnen ihre Erste Autorität hinsichtlich der Erkenntnis ihrer Schmerzen zu rauben versuchte. Noch eine Unterscheidung zwischen Empfindungen und Emotionen ist wichtig. Empfindungen haben einen Ort in meinem Leib: Kopfschmerzen, Fußschmerzen. Auch Gefühle, wie z.b. das angenehme Wärmegefühl, können eine Stelle im beseelten Körper einnehmen. Hingegen sind Emotionen nicht in einem Leib lokalisiert. Mein Ehrgeiz oder mein Heimweh ist nicht in mir jedenfalls nicht im selben Sinn wie mein Zahnschmerz in mir ist. Man kann jemanden nicht im Ernst fragen, wo bzw. an welcher Stelle im Körper sein Ehrgeiz oder ihr Heimweh ist oder wo er sich verlassen fühlt. Und die Antwort: "im Herz" oder "in der Brust" stellt bestenfalls einen Witz dar. Diese Unmöglichkeit der Lokalisierung von Emotionen weist auf die Verbindung von Emotionen mit Denken bzw. mit Rationalität hin. Emotionen sind auch dann nicht lokalisierbar, wenn die Empfindungen, die sie verursachen, lokalisierbar sind. Wittgenstein schreibt z.b. in "Zettel", 486 über Freude: "Warum aber ist Freude nicht lokalisiert? Ist es, weil sie über den ganzen Körper verteilt ist? Auch dann ist sie nicht lokalisiert, wenn das Gefühl, das sie hervorruft, dies ist: wenn wir uns am Geruch einer Blume freuen. Die Freude äußert sich im Gesichtsausdruck, im Benehmen. (Aber wir sagen nicht, wir freuten uns im Gesicht.)" Von Empfindungen, Gefühlen und Emotionen müssen noch die Stimmungen unterschieden werden. Man könnte Stimmungen als ungerichtete Emotionen bezeichnen, aber auch als ein Bündel von Gefühlen und Emotionen. In jedem Fall gilt, daß Stimmungen nicht auf einen Sachverhalt, daß etwas der Fall ist, gerichtet sind. Stimmungen müssen auch nicht unbedingt von demjenigen bzw. derjenigen, die sich darin befindet, als erster Person bemerkbar sein. Auch hier gilt wie bei den Emotionen, daß eine Person nicht die Erste-Person-Autorität hinsichtlich der Erkenntnis ihrer mentalen Zustände hat, sondern andere Personen eher oder schneller erkennen können, daß jemand in einer bestimmten Stimmung ist. Kehren wir wieder zu den Emotionen zurück. Emotionen müssen nicht mit ganz bestimmten Empfindungen oder Gefühlen einhergehen, und tun dies in der Regel auch nicht. Wir sprechen zwar manchmal von einem Gefühl der Eifersucht oder des Neids z.b., aber es gibt kein spezielles oder charakteristisches Gefühl, das ich fühlen muß, wenn ich eifersüchtig oder neidisch bin. Erst recht gilt dies für die Liebe. Ich kann jemanden lieben, aber mein Gefühl kann dabei zwischen dem Angenehmen und Unangenehmen hin- und herschwanken. Vermutlich werde ich irgend etwas fühlen, wenn ich liebe, ebenso wie wenn ich mich z.b. freue. Aber, wie Wittgenstein uns nahelegt, gibt es kein für Freude spezifisches Gefühl. Wenn das Sichfreuen z.b. nur darin bestünde, daß es ein angenehmes Gefühl beinhaltete, inwiefern unterschiede es sich dann z.b. von dem Gefühl der Seite 2

Wärme? Es unterscheidet sich aber davon, also muß es ein Unterscheidungsmerkmal geben, das das Wärmegefühl von der Emotion der Freude trennt, auch wenn mir, wie man so sagt, ganz warm ums Herz wird, wenn ich mich freue. Die Basis der Unterscheidung zwischen Gefühlen und Emotionen kann eigentlich nur darin liegen, daß Emotionen mit ganz bestimmten für die jeweiligen Emotionen spezifischen Überzeugungen und Wünschen verbunden sind, also mit ganz bestimmten geglaubten oder gewünschten Sachverhalten. Ich kann nicht neidisch auf eine Person sein, von der ich glaube, daß sie ein schönes Haus besitzt, wenn ich nicht wünschte, daß auch ich so ein Haus hätte. Ich kann nicht auf etwas stolz sein, wenn ich nicht glaubte, dasjenige zu besitzen oder das und das geleistet zu haben, worauf ich stolz bin. Ebenso kann ich nicht auf eine Person eifersüchtig sein, wenn die sie liebende Person mir gleichgültig ist. Das sind drei Beispiele, die zeigen, daß Emotionen mit ganz spezifischen Gedankeninhalten, d.h. Überzeugungen und Wünschen, verbunden sein müssen, um ganz bestimmte und nicht etwa andere Emotionen sein zu können. Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen. Ich kann z.b. nur vergangene und nicht zukünftige Zustände bereuen, wobei die vergangenen Zustände außerdem noch von mir durch meine Handlungsweise hervorgebracht worden sein müssen. Eine Ausnahme vom Erfordernis eines spezifischen Gedankeninhalts bei allen Emotionen scheint die Liebe zu sein. Für diesen emotionalen Zustand scheint es keine bestimmten Gedanken und vielleicht nicht einmal ganz bestimmte Wünsche geben zu müssen. (Vielleicht gilt dasselbe für den Haß.) Weil die Liebe in diesem Sinn auf keinen Sachverhalt bezogen ist, ähnelt sie den Stimmungen. Aber sie ist ihnen darin unähnlich, daß sie auf eine Person bezogen sein muß. Man kann nicht verliebt sein oder lieben, ohne zu wissen, in wen. Dasselbe würde gelten, wenn es ein besonderes Liebesgefühl gäbe, denn dann wäre es möglich, dieses Gefühl zu haben, so wie man etwas Warmes fühlen kann, ohne zu wissen, woher die Wärme stammt, also ohne zu wissen, wen man liebt. Daher sagt Wittgenstein ("Zettel", 504): "Liebe ist kein Gefühl. Liebe wird erprobt, Schmerzen nicht. Man sagt nicht: 'Das war kein wahrer Schmerz, sonst hätte er nicht so schnell nachgelassen.' Ganz allgemein kann man Emotionen von Empfindungen und Gefühlen dadurch abgrenzen, daß man sagt: daß ein Gefühl weder notwendig noch hinreichend ist, um einzelne Emotionen voneinander zu unterscheiden. Es gibt kein spezielles Gefühl für Emotionen, das nur mit einer bestimmten Art von Emotion verbunden wäre und sonst mit keiner anderen. Deswegen sind Gefühle und Emotionen prinzipiell kombinierbar. Der Haß kann angenehm wie unangenehm sein, die Eifersucht schmerzlich oder anspornend; eine Enttäuschung kann mich wütend machen oder niedergeschlagen, manchmal erst das eine, dann das andere oder umgekehrt. Für die Unterscheidung der Emotionen voneinander sind Gefühle also unbrauchbar, weil Gefühle eben nicht den speziellen Gedankeninhalt von Emotionen bestimmen können. Denn dieser ist immer eine spezielle Kombination von bestimmten Überzeugungen und Wünschen, die man auch "Gründe" nennen könnte. Weil es nun immer eine spezifische Kombination von Überzeugungen und Wünschen sein muß, die eine Emotion von der anderen unterscheidet, steht jede Emotion in einem formalen Verhältnis zur Rationalität. So kann nicht nur das Haben von Emotionen, sondern auch das Zuschreiben von Emotionen als vernünftig oder unvernünftig bewertet werden oder anders gesagt: als richtig oder verkehrt. Da außerdem die Zuschreibungen von Emotionen in der Regel Bewertungen anderer Personen darstellen, etwa wenn ich jemanden z.b. als ehrgeizig bezeichne, müssen sie Seite 3

gerechtfertigt werden können. Und in der Regel versucht man auch vor sich selbst das Haben bestimmter Emotionen, wie z.b. einer Enttäuschung, zu begründen. Natürlich können Empfindungen wie z.b. Schmerzempfindungen nicht unvernünftig sein, ebensowenig wie das Gefühl, daß mir etwas angenehm warm ist. Emotionen hingegen können einer Situation, in der man sich befindet, angemessen oder unangemessen sein und in diesem Sinne vernünftig oder unvernünftig. Wenn wir nun diese Unterscheidungen zwischen Empfindung, Gefühl, Emotion und Stimmung beachten und auf die Frage zurückkommen, ob Gefühle verkehrt sein können, so lautet die einzig plausible Antwort: nur Emotionen können verkehrt sein! Emotionen können verkehrt sein, weil sie (1) auf falschen Gedanken beruhen, d.h. entweder auf falschen Überzeugungen oder falschen Bewertungen. Ich kann mich fürchten, weil ich glaube, der Hund vor mir habe es auf mich abgesehen, obwohl mein Glaube falsch ist; die Furcht war zwar da, aber, so könnte man sagen, es war verkehrt, mich zu fürchten, da ich doch hätte wissen müssen, daß bellende Hunde nicht beißen; ich kann traurig sein, weil ich glaube, eine geliebte Person habe mich verlassen, obwohl mein Glaube falsch ist; ich kann dankbar sein, weil ich glaube, daß man mir ein Geschenk gemacht hat und weil ich will, daß der Schenkende sich über meinen Dank freut, obwohl das Geschenk gar nicht für mich bestimmt war. Ich kann jemanden nicht leiden, weil ich glaube, er sei soundso, obwohl meine Bewertung falsch ist. Und ganz offensichtlich kann eine Liebe verkehrt sein, weil die Liebenden oder nur einer von ihnen von falschen Annahmen ausgehen oder inkompatible Wünsche haben. Emotionen können verkehrt sein, weil sie (2) der Situation, in der sie vorkommen bzw. von einer Person gezeigt oder geäußert werden, unangemessen sind, indem sie z.b. übertrieben sind oder eine zu schwache Intensität haben oder gar die falsche Art von Emotion in der Situation darstellen. Es kann jemand zu lustig sein, indem er übertrieben oder bei einer ernsten Angelegenheit lacht; es kann jemand zu traurig angesichts eines kleinen Verlusts sein; es kann jemand bei der Beerdigung seines Feindes geradezu fröhlich sein, obwohl z.b. sein Fernbleiben angemessener wäre usw. Wir fordern daher in manchen Situationen die angemessenen Emotionen ein, indem wir z.b. sagen: "jemand solle sich schämen" oder "sie sollte dankbarer sein" oder "sei nicht so traurig". Wir erwarten nicht nur die den Situationen angemessenen Emotionen, sondern verlangen auch manchmal eine Begründung für das Haben bzw. das Zeigen von Emotionen, besonders natürlich für Emotionen, die sozial relevant sind, wie Wut, Zorn, Haß usw. Und wenn keine Gründe geliefert werden, kann das Haben einer Emotion als unberechtigt oder unbegründet, ja als irrational angesehen werden. Wenn ich wegen des Mobbings durch meinen Kollegen stinksauer bin, dann muß ich Gründe für meine Emotion liefern können. Wenn jemand keine Gründe für seinen Zorn oder seine Wut angeben kann, oder auch nicht für deren Intensität, wie wenn er z.b. außer sich vor Wut ist, dann könnte man sogar verlangen, er solle seine Emotionen zügeln oder damit aufhören, wütend oder zornig zu sein. Emotionen können verkehrt sein, weil ihr Gezeigtwerden für andere Menschen in irgendeinem Sinne schädlich ist oder weil es sogar unmoralisch sein kann, eine bestimmte Emotion in einer bestimmten Situation zu zeigen, wie z.b. Schadenfreude. Emotionen haben also viel mit Gründen und damit mit Rationalität zu tun. Emotionen können (3) verkehrt sein, weil sie selbstzerstörerisch sind. Beispiele hierfür wären vermutlich ein mehr oder weniger unbewußter Selbsthaß, übertriebener Ehrgeiz, Besitzgier, krankhafte Eifersucht, Minderwertigkeitsgefühle. Das gilt für Gefühle und Empfindungen nicht. Wohl aber für Stimmungen wie z.b. die Melancholie oder die manische Depression. In dieser Hinsicht bestünde das Verkehrtsein aber nicht in einem moralischen, sondern eher in einem medizinischen Problem. Seite 4

Emotionen können (4) in dem Sinne verkehrt sein, weil und wenn sie unaufrichtig, vorgetäuscht oder geheuchelt sind. Diese Möglichkeit besteht bekanntlich auch bei Empfindungen und Gefühlen. Ich zweifle, ob sie auch bei Stimmungen besteht. Denn ich kann mir nur schwer eine Situation vorstellen, in der jemand z.b. eine Depression vortäuscht, es sei denn man ist ein perfekter Schauspieler. Emotionen können (5) verkehrt sein, weil sie unmoralisch sind. Das beste Beispiel hierfür scheint mir die Intoleranz zu sein. Toleranz mag die am schwersten praktizierbare und erlernbare Tugend sein, aber diese Schwierigkeit rechtfertigt nicht das Haben oder Zeigen der Emotion der Intoleranz. Sie, ebenso wie der häufig damit einhergehende Nationalstolz, scheint mir ein Paradebeispiel für eine Emotion zu sein, die sozusagen in sich verkehrt ist. Seite 5