2 Verhaltensauffälligkeiten im Kindergartenalter



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2 Verhaltensauffälligkeiten im Kindergartenalter Sorgen über Verhaltens- oder Erziehungsprobleme sind bei Eltern von Kindergartenkindern relativ weit verbreitet. Dazu gehören zum Beispiel Probleme, die sich daraus ergeben, dass ein Kind nicht zuhört, wenn es aufgefordert wird oder nicht ruhig ist. Lösel et al. (2005) berichten aus einer Elternbefragung mit 675 Kindergartenkindern, dass über 50 % der Mütter über Erziehungs- und Verhaltensauffälligkeiten klagen, wie Gespräche unterbrechen oder nur nach Androhung von Strafe zu gehorchen. Solche Probleme treten schon sehr früh auf, wobei bei vielen Kindern dies nur über einen begrenzten Zeitraum beobachtet wird. Einige Kinder zeigen schwerwiegendere Symptome, zum Beispiel Bewegungsstereotypien oder massive Probleme bei der sozialen Kontaktaufnahme. Solche Probleme fallen deutlich auf und sind eher Zeichen einer schwerwiegenderen Entwicklungsabweichung. Einzelne Verhaltensauffälligkeiten machen noch keine Verhaltensstörung aus. Nicht jedes Kind, das ein anderes schlägt, hat eine Störung des Sozialverhaltens, und viele Kinder zeigen Ängste, ohne eine Angststörung aufzuweisen. Mit dem Begriff Störung wird in der Klinischen Kinderpsychologie eher ein ganzes Bündel von problematischen Verhaltensweisen bezeichnet, die über einen längeren Zeitraum auftreten. Die daraus resultierenden Probleme sind für ein Kind dann so stark ausgeprägt, dass eine normale Entwicklung gefährdet erscheint. Zur Beurteilung, ob eine klinisch bedeutsame Verhaltensstörung vorliegt, müssen das Alter und der Entwicklungsstand eines Kindes berücksichtigt werden. Manche Verhaltensabweichungen treten bei Kindern vorübergehend auf, zum Beispiel das Fremdeln, das viele Kinder im zweiten Lebensjahr zeigen bei einem solchen Verhalten handelt es sich um eine normale, zeitlich begrenzte Angst. Ebenso tritt aggressives Verhalten (wie Schlagen oder Treten) bis zum dritten Lebensjahr bei vielen Kindern gehäuft auf. Verhaltensauffälligkeiten von Kindern kann man grob in zwei Bereiche einteilen: Kinder, die laut, ungeschickt oder aggressiv auftreten und so den Sozialkontakt mit anderen ungünstig gestalten, weisen externalisierendes Verhalten auf. Kinder, die nie auf andere zugehen, sich selbst zurückziehen, passiv oder stark an vertraute Personen (an die Mutter) anklammern, zeigen internalisierende Probleme. Das externalisierende Verhalten umfasst Wutausbrüche, unruhiges oder aggressives Verhalten; dazu zählt auch die Aufmerksamkeitsstörung (ADS) und die Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Diese Störungen (ADS/ADHS) werden nicht näher erläutert, da es sich um neurobiologisch verursachte Störungen handelt (Barkley, 2005; Döpfner, 2002), die eine gezielte Behandlung nötig machen. Es ist bekannt, dass bereits relativ viele junge Kinder Verhaltensauffälligkeiten aufweisen. Unabhängig von der Art der Auffälligkeit berichten Lavigne et al. (1996), dass rund 20 % der Kinder im Alter zwischen zwei und fünf Jahren davon betroffen sind. Schwerwiegende Auffälligkeiten wurden von 9 % der Kinder berichtet. Jungen waren immer häufiger davon betroffen als Mädchen. Dabei wurde ein deutlicher Anstieg der Probleme zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr beobachtet, aber kein Anstieg bei der Altersgruppe von drei bis fünf Jahren. Die häufigste Auffälligkeit war die Störung

Verhaltensauffälligkeiten im Kindergartenalter 11 mit oppositionellem Trotzverhalten, die bei 16,8 % der Kinder vorlag. Andere Studien, die Kinder vor der Einschulung untersuchten, berichten davon, dass internalisierende Störungen bei 10 % bis 15 % aller Kinder auftreten (Egger & Angold, 2006). Treten bereits in dieser Altersgruppe mehrere Auffälligkeiten bei einem Kind gleichzeitig auf, dann liegt eine besonders ungünstige Entwicklungsprognose vor. Bei Kindern, mit denen eine Behandlung aufgesucht wird, treten bei knapp der Hälfte externalisierende und internalisierende Probleme gleichzeitig auf (Thomas & Guskin, 2001). Im Kindergartenalter treten vor allem oppositionell-aggressives Verhalten und sozial unsicheres Verhalten häufig auf. Diese beiden Störungsbereiche werden im Folgenden genauer dargestellt. 2.1 Oppositionell-aggressives Verhalten Das Hauptmerkmal des oppositionell-aggressiven Verhaltens ist ein Muster von trotzigem, ungehorsamem und feindseligem Verhalten, das besonders gegenüber den Eltern und nahestehenden Bezugspersonen auftritt. Solche Kinder zeigen häufig Wutausbrüche und widersprechen den Aufforderungen Erwachsener. Sie sind schnell ärgerlich und verärgern andere häufig und geben ihnen die Schuld für ihre Konflikte; schwerwiegenderes aggressives Verhalten fehlt jedoch. Dieses Verhaltensmuster tritt deutlich häufiger auf, als bei anderen Kindern gleichen Alters, und der Beginn liegt häufig vor dem Schuleintritt. Kinder mit oppositionell-aggressivem Verhalten entwickeln häufig zu Beginn des Grundschulalters schon massiv aggressives Verhalten (Loeber, Green, Lahey, Frick & McBurnett, 2000). Diese Kinder lügen oder brechen Versprechen, um Vorteile zu erhalten oder um Verpflichtungen zu vermeiden. Sie beginnen oft Auseinandersetzungen und zeigen körperlich-aggressives Verhalten gegen Gleichaltrige, Erwachsene oder Tiere. 2.1.1 Erscheinungsformen und Verlauf Kinder mit oppositionell-aggressivem Verhalten zeigen häufig auch weitere Auffälligkeiten. Durch das oppositionell-aggressive Verhalten treten besonders Kontaktschwierigkeiten mit Gleichaltrigen auf. Zunächst können aggressive Handlungen von unbeteiligten Gleichaltrigen sogar positiv bewertet werden. Dies berichten zum Beispiel Tapper und Boulton (2005) aus einer Verhaltensbeobachtung in einer Spielsituation. Demnach bekamen aggressive Kinder mehr Zustimmung für ihre Handlungen als ihre Opfer. Die anderen schlossen sich der Meinung des Aggressors an oder lachten über das Opfer. Diese Zustimmung zum aggressiven Verhalten verstärkt jedoch das Problemverhalten, weil es die Kinder motiviert, es häufiger zu zeigen. Weiter reagierten die meisten Opfer aggressiver Handlungen ebenfalls aggressiv, wodurch aggressives Verhalten wechselseitig zunimmt. Langfristig werden aggressive Kinder von ihren Kameraden jedoch abgelehnt (Dodge et al., 2003). Aggressive Kinder, die sich nur schwer an Spielregeln halten können oder

12 Kapitel 2 sehr leicht wütend werden, sind keine beliebten Spielpartner, da Spiele zum Beispiel nur schwer ohne Streit zu Ende gespielt werden können. Aggressive Kinder erhalten dadurch weniger Möglichkeiten, positives Sozialverhalten einzuüben. Das aggressive Verhalten wird hingegen weiter unterstützt; vielfach treten auch weitere Probleme auf (Gjone & Stevenson, 1997). Eine mögliche Folge davon ist, dass sich aggressive Kinder zusammenschließen, wodurch das Problemverhalten weiter verstärkt wird. Diese Kinder liefern sich selbst ein Modell für aggressives Verhalten. Ein solcher Zusammenschluss aggressiver Kinder zu einer Gruppe kann bereits im Kindergarten beobachtet werden (Perren & Alsaker, 2006). Eine relativ große Anzahl der oppositionell-aggressiven Kinder ist zudem von einer ADHS betroffen (Döpfner, 2002; Loeber et al., 2000). Beiden Auffälligkeiten gemeinsam ist die Impulsivität, die sich auf emotionaler Ebene in temperamentvollen Wutausbrüchen und einer geringen Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub zeigen kann. Das gemeinsame Auftreten von ADHS mit oppositionell-aggressivem Verhalten geht einher mit einer schweren und stabilen Problematik und einer schlechten Entwicklungsprognose. Ängstliches Verhalten tritt ebenfalls gehäuft bei Kindern mit oppositionell-aggressivem Verhalten auf. Die Kinder haben häufiger ein geringes Selbstwertgefühl, das vor dem Hintergrund der zumeist konfliktbelasteten Beziehungen zu den Eltern oder Gleichaltrigen und der daraus resultierenden Ablehnung erklärt werden kann. Die hohe Stabilität von oppositionell-aggressivem Verhalten kann bereits bei jungen Kindern beobachtet werden (Lavigne et al., 1998). Shaw, Giliom und Giovannelli (2000) konnten zeigen, dass 62 % der Kinder, die bereits mit zwei Jahren als verhaltensschwierig eingeschätzt wurden, auch noch im Alter von sechs Jahren deutlich auffällig waren. Im weiteren Entwicklungsverlauf legen die Kinder erworbenes Problemverhalten selten ab, sondern zeigen immer vielfältigere Probleme (Loeber et al., 2000). Das oppositionell-aggressive Verhalten tritt zunehmend massiver auf bis hin zu kriminell-gewalttätigem Verhalten im Jugendalter. 2.1.2 Ursachen Oppositionell-aggressives Verhalten ist durch biologische, psychologische und soziale Faktoren bedingt (Scheithauer & Petermann, 2002). Kein Faktor alleine kann das Problemverhalten hinreichend erklären. Zumeist liegen mehrere Faktoren bei einem Kind mit oppositionell-aggressivem Verhalten vor. Zu den biologischen Faktoren oppositionell-aggressiven Verhaltens zählen vor allem: das Geschlecht der Kinder, eine genetisch begründete Anfälligkeit, Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen und das Temperament des Kindes. Jungen zeigen häufiger oppositionell-aggressives Verhalten und sind vermehrt von Störungen mit oppositionell-aggressivem Verhalten betroffen. Bei Jungen wird die Häufig-

Verhaltensauffälligkeiten im Kindergartenalter 13 keit mit 6 % bis 16 % und bei Mädchen mit 2 % bis 9 % angegeben (Scheithauer & Petermann, 2002). Genetische Faktoren werden durch Familienstudien nahe gelegt, die eine familiäre Häufung aufzeigen. Die genetische Anfälligkeit kann dazu führen, dass ein Kind zum Beispiel einen höheren Bewegungsdrang zeigt, der sich auch durch aggressives Verhalten äußern kann (Ortiz & Raine, 2004). Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen können die Hirnentwicklung in einer sensiblen Phase beeinträchtigen und zu neuropsychologischen Auffälligkeiten führen, die mit aggressivem Verhalten in Verbindung stehen (Allen, Lewinsohn & Seeley, 1998; Fergusson, Woodward & Horwood, 1998). Bei Kindern, bei denen oppositionell-aggressives Verhalten früh auftritt, wirken verschiedene Faktoren zusammen. Die Kinder können bereits durch Schwangerschaftsoder Geburtskomplikationen beeinträchtigt sein, die im weiteren zu neuropsychologischen Defiziten führen. Nach Moffitt (1993) zeigen diese Kinder geringe Sprachfertigkeiten und eine niedrige Intelligenz. Ein schwieriges Temperament wird ebenfalls als früher Risikofaktor benannt (Eisenberg et al., 2000; s. u. Kapitel 3.4). Diese Kinder sind als Säuglinge eher unruhig, leicht erregbar und haben einen unregelmäßigen Rhythmus beim Schlafen oder Essen. Eltern von Kindern mit einem schwierigen Temperament stehen dadurch vor besonderen Herausforderungen, die bei mangelnden Kompetenzen oder weiteren Belastungen (wie Partnerschaftsprobleme, Arbeitslosigkeit) zur Überforderung der Eltern führen können. Das problematische Verhalten kann durch ein ungünstiges familiäres Milieu stabilisiert werden (Loeber, Burke, Lahey, Winters & Zera, 2000). Dies liegt vor, wenn die Eltern selbst von psychischen Störungen (wie Depression oder Alkoholabhängigkeit) oder von finanziellen Sorgen betroffen sind. Der Erziehungsstil der Eltern spielt dabei eine entscheidende Rolle. Sehr häufig wenden sie ein harsches oder inkonsistentes Erziehungsverhalten an, das auch körperliche Bestrafung und Misshandlung mit einschließen kann. Dagegen wird positives Verhalten des Kindes weniger beachtet. Dadurch haben es die Kinder schwerer, Regeln und Grenzen zu lernen und andauernde Eltern-Kind-Konflikte werden begünstigt (Petermann & Petermann, 2005). In diesem Kreislauf verstärken sich negatives Erziehungsverhalten der Eltern und die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes fortlaufend. Die Eltern regen kaum sozial kompetentes Verhalten an oder zeigen, wie Gefühle angemessen reguliert werden können. Entsprechend weisen die Kinder Defizite bei der Lösung sozialer Konflikte und dem Umgang mit Emotionen auf. Auf diese kindspezifischen Merkmale wird in den Kapiteln 3 und 4 ausführlicher eingegangen. 2.2 Sozial unsicheres Verhalten Kinder mit sozial unsicherem Verhalten können leicht übersehen und als unproblematisch wahrgenommen werden. Verglichen mit Kindern, die oppositionell-aggressives Verhalten zeigen und dadurch die Erzieherin häufig zum Eingreifen zwingen, führen diese Kinder ein Schattendasein. Sie initiieren seltener Kontakte zu Gleichaltrigen, sprechen wenig oder leise und vermeiden häufiger den direkten Blickkontakt zu anderen. Häufige

14 Kapitel 2 Ängste, die von Kindern berichtet werden, sind zum Beispiel alleine in einem Raum zu bleiben, zu einer Geburtstagsfeier zu gehen oder unbekannte Kinder oder Erwachsene zu treffen. Nach Petermann und Petermann (2006b) können aus solchen Auffälligkeiten folgende Störungen entstehen: Trennungsangst, soziale Ängste (soziale Phobie) und so genannte generalisierte Ängste. Das Hauptmerkmal der Störung mit Trennungsangst besteht in einer ausgeprägten Angst, sich von den Bezugspersonen zu trennen oder von ihnen getrennt zu werden. Kinder mit dieser Störung erleben starke Angst, wenn sie von ihren Eltern getrennt sind oder eine Trennung bevorsteht. Sie versuchen eine Trennung zu vermeiden und können mit Weinen, Jammern oder wütendem Verhalten dagegen protestieren. Es können auch körperliche Symptome wie Kopf- oder Bauchschmerzen auftreten. Die Angst ist deutlich ausgeprägter als bei Kindern gleichen Alters und damit von normalen Reaktionen auf Trennungen von Bezugspersonen zu unterscheiden. Die soziale Angst ist durch eine deutliche und anhaltende Angst vor sozialen Situationen und der Bewertung der eigenen Person charakterisiert. Die Kinder sind in neuen Situationen ängstlich zurückhaltend, haben häufig nur wenig Freunde und vermeiden Sozialkontakt. Die sozialen Beziehungen der Kinder sind, außer zu den wichtigen Bezugspersonen, deutlich beeinträchtigt. Die generalisierte Angststörung ist durch das Vorliegen von Ängsten und Sorgen über eine ganze Reihe von Gelegenheiten oder Aktivitäten gekennzeichnet. Die Kinder sind häufig ruhelos und nervös. Es können zudem Konzentrations- oder Schlafprobleme auftreten. 2.2.1 Erscheinungsformen und Verlauf Angststörungen in der Kindheit können zu massiven psychischen Störungen im Jugendalter (z. B. depressive Störungen) führen. Dabei wird von einem engen Zusammenhang zwischen Angst und depressiven Störungen ausgegangen: Wenn ein Kind zu lange Angst erlebt hat, gibt es irgendwann auf und wird wahrscheinlich depressiv (vgl. Zahn-Waxler, Klimes-Dougan & Slatterty, 2000). Bei jungen Kindern mit Angststörungen liegt häufiger auch oppositionell-aggressives Verhalten vor (Egger & Angold, 2006). Das oppositionell-aggressive Verhalten kann auftreten, weil ein Kind damit gegen die angstauslösende Situation protestiert und es so Sozialkontakte aktiv verweigert (Petermann & Petermann, 2006b). Auch Angststörungen können im Kindesalter relativ stabil auftreten und ein Risiko für weitere Angststörungen oder auch depressive Störungen darstellen (Keller et al., 1992). So kann eine Trennungsangst ein Vorläufer für eine weitere Angststörung sein (Petermann, Essau & Petermann, 2002). Keller et al. (1992) beobachteten bei unbehandelten Angststörungen (Trennungsangst, generalisierte Angststörung) eine durchschnittliche Dauer von vier Jahren, wobei 30 % der Kinder mit Symptomverbesserung einen Rückfall erlitten.

Verhaltensauffälligkeiten im Kindergartenalter 15 Die Stabilität der Angststörungen wird durch eine konstitutionelle Neigung unterstützt, die sich durch eine vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen zeigt (z. B. erhöhte Cortisolausschüttung). Die Kinder erleben in belastenden Situationen mehr Stress und können dadurch schlechter angemessene Bewältigungsstrategien erwerben. Das Fehlen angemessener Strategien trägt dazu bei, dass Ängste auch bis zum Erwachsenenalter beibehalten werden können (vgl. Hirschfeld-Becker & Biederman, 2002). Im Jugendalter fallen Kinder mit Angststörungen zudem häufiger durch Substanzkonsum oder -missbrauch auf. Aus längsschnittlichen Studien wird jedoch nahe gelegt, dass die Beziehung zwischen Angststörungen und Problemen durch Substanzkonsum besonders dann auftritt, wenn weitere Probleme wie eine ADHS oder depressive Symptome vorliegen (Biederman, Wilens & Faraone, 1997). Es wird angenommen, dass Jugendliche mit internalisierenden Problemen Substanzen konsumieren, um negative Gefühle wie Trauer oder Angst zu bewältigen oder abzumildern (vgl. Hussong & Hicks, 2003). 2.2.2 Ursachen Bei der Entstehung von Angststörungen wird ebenfalls von dem Zusammenwirken von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren ausgegangen. Zu den biologischen Faktoren zählen genetische Faktoren. Der genetische Einfluss wird durch Familien- und Adoptionsstudien aufgezeigt, die eine familiäre Häufung von Angststörungen berichten (Leonardo & Hen, 2006). Die genetische Anfälligkeit schlägt sich zum Beispiel in hormonellen Auffälligkeiten nieder. So kann bei ängstlichen Kindern eine erhöhte Konzentration des Stresshormons Cortisol festgestellt werden. Sozial unsichere und ängstliche Kinder zeigen oft schon früh ein charakteristisches Temperament (= gehemmtes Temperament; vgl. Biederman et al., 2001). Dieses ist gekennzeichnet durch eine Scheu vor unbekannten oder neuen Situationen und Personen. Kinder mit einem gehemmten Temperament haben ein erhöhtes Risiko dafür, eine Angststörung zu entwickeln. Ein weiteres Temperamentsmerkmal, das damit in Verbindung steht, ist die negative Emotionalität (Shaw, Keenan, Vondra, Delliquadri & Giovannelli, 1997). Negative Emotionalität beschreibt das häufige Erleben negativer Emotionen wie Trauer oder Wut und eine verminderte Fähigkeit, diese zu regulieren. Neben biologischen Faktoren sind Merkmale der Eltern-Kind-Beziehung und das Erziehungsverhalten der Eltern wichtig. Eine unsichere emotionale Bindung des Kindes an seine Eltern ist ebenfalls ein Risikofaktor für die Entwicklung von Angststörungen (Shamir-Essakow, Ungerer & Rapee, 2005). Dallaire und Weinraub (2005) berichten aus einer längsschnittlichen Studie, dass die Mutter-Kind-Bindung im Säuglingsalter und die mütterliche Sensitivität mit Trennungsangst der Kinder im Alter von sechs Jahren in Zusammenhang stehen. Besonders unsicher gebundene Kinder, deren Mütter selbst von Angststörungen betroffen waren, zeigten häufig Ängste. Da Eltern von Kindern mit Angststörungen ebenfalls oft von Angststörungen betroffen sind, kann man annehmen, dass die Kinder das ängstliche Verhalten durch soziale Lernmechanismen erwerben. Eltern mit Angststörungen sind ein prägnantes Modell für

16 Kapitel 2 Kinder, ebenfalls ängstliches Verhalten zu zeigen. Die Eltern setzen zudem nicht selten einen stark beschützenden und kontrollierenden Erziehungsstil ein (Caron, Weiss, Harris & Catron, 2006), durch den ein Kind nur wenig Möglichkeiten hat, selbstverantwortlich Problemlösefertigkeiten zu entwickeln und Selbstvertrauen aufzubauen (vgl. Petermann & Petermann, 2006b). Familiäre Belastungen, wie Ehe- oder Partnerschaftsprobleme, können zusätzlich sozial unsicheres Verhalten von Kindern und das Erziehungsverhalten von Eltern negativ beeinflussen. Auf Besonderheiten der emotionalen Entwicklung und sozialen Problemlösefertigkeiten wird in Kapitel 3 und 4 eingegangen.