Selbstverletzendes Verhalten / artifizielle Störung / Münchhausen-Syndrom



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Transkript:

Medizinische Fakultät Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Selbstverletzendes Verhalten / artifizielle Störung / Münchhausen-Syndrom Dr. med. Gottfried Maria Barth, M.A. Email: gottfried.barth@med.uni-tuebingen.de Telefon: +49-7071-29 8 65 33 Osianderstraße 16, D-72076 Tübingen, Germany http://www.medizin.uni-tuebingen.de/ppkj/ Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes und Jugendalter der Universitätsklinik Tübingen Barth 2008 1

Selbstverletzendes Verhalten Von was reden wir? Synonyme: Selbstdestruktion Selbstbestrafung Autoaggression Automutilation Selbstverstümmelung Masochistisches Verhalten dermatitis fatitia Para-Artefakte engl.: self-injury, SI, self-harm, self-mutilation, automutilation, selfinflicted violence Barth 2008 2

Aggressives Verhalten Aggressives Verhalten lässt sich in physische Aggression (schlagen, beißen, stoßen), verbale Aggression (schimpfen, Gerüchte verbreiten, lästern) oder in Rückzug (schmollen) unterteilen. Aggressive Handlungen haben meist die Intention, andere zu schädigen oder manipulieren zu wollen. Werden andere aus Versehen geschädigt, da das Kind so unruhig ist und sich selbst schwer kontrollieren kann, geht man eher von einer Hyperaktivität aus. Schon früh kann sich die Disposition zu aggressivem Verhalten zeigen. Barth 2008 3

Aggression: Fremdaggression oder Selbstaggression Barth 2008 4

Psychische Symptome bei Kindern und Jugendlichen Internalisierend Externalisierend bei Mädchen bei Jungen Barth 2008 5

Psychische Symptome (bzw. Diagnosen) bei Kindern und Jugendlichen Mädchen Jungen Internalisierend Externalisierend Anorexie Depression Selbstverletzungen Suizidales Verhalten Zwang Hysterie Sozialverhaltensstörung ADHD Borderline Barth 2008 6

Selbstverletzendes Verhalten Schmerz- und Gewaltanwendung gegen den eigenen Körper Häufig leichte, larvierte oder gedankliche Wendung gegen die eigene Person. Beschädigung/Deformation des eigenen Körpers mit den Kriterien: selbstzugefügt eigenaktiv direkt, unmittelbar, konkret soziokulturell nicht akzeptiert nicht direkt lebensbedrohlich nicht offenkundig suizidal oder parasuizidal funktional-absichtsvoll motiviert (bewußt oder unbewußt) oder Automatismus Indirekte Autoaggressionen: paraselbstschädigendes Verhalten : Suchtverhalten auch Magersucht selbstgefährdendes Verhalten gehäufte Unfälle Grobklassifizierung selbstschädigenden Verhaltens: dissozial - suicidal - depressiv Barth 2008 7

Differenzierung autoaggressiven Verhaltens: Automanipulation von Krankheiten: Absichtliches (d.h. nicht unbedingt freiwilliges), selbstinduziertes Herbeiführen einer Krankheit oder von Symptomen, weil Kranksein (Infirmität) als die einzig erträgliche Weise der Existenz erscheint. Münchhausen-Syndrom: Vorgetäuschte oder künstlich herbeigeführte Symptome zu einem nicht offensichtlichen Zweck: Krankenversorgung, Rente usw. Simulation: Vortäuschung somatischer oder psychischer Symptome zu bestimmtem Zweck, z.b. Haftentlassung, Arbeitsbefreiung Aggravation: Verstärkung geringer Symptome zu bestimmtem Zweck: Krankenrolle einnehmen zu dürfen, Geld Automutilation: Selbstverletzungen (Schneiden, Brennen, Schlagen) nicht suicidaler Art bei verschiedenen psychiatrischen Krankheiten (z.b. Borderline- Störungen), bei verschiedener Motivation, bei Geistig Behinderten Barth 2008 8

Selbstverletzungen sind weit verbreitet Es gibt eine Szene, in der eine Mode / ein Kult des Selbstverletzenden Verhaltens gepflegt wird: Jugendliche mit relativ typischen Formen der Selbstverletzung Können sich gegenseitig anstecken Sind im Internet vernetzt Stellen nur einen Ausschnitt des Spektrums dar nicht voreilig aus dem Symptom auf die Befindlichkeit / Situation schließen Barth 2008 9

Internetseiten Barth 2008 10

Selbstverletzendes Verhalten Von was reden wir? Synonyme: Selbstdestruktion Selbstbestrafung Autoaggression Automutilation Selbstverstümmelung Masochistisches Verhalten dermatitis fatitia Para-Artefakte Selbstbeschreibung SVV = selbstverletzendes Verhalten Ritzen, Cutten, Schneiden, Schnibbeln engl.: self-injury, SI, self-harm, self-mutilation, automutilation, selfinflicted violence Barth 2008 11

Formen von Selbstverletzendem Verhalten Selbstverletzendes Verhalten Offene Selbstbeschädigung z.b. psychiatrische Erkrankungen z.b. Geistige Behinderung Heimliche Selbstbeschädigung z.b. Handgelenke und Unterarme z.b. Haare ausreißen Vorgetäuschte Erkrankung z.b. Krankheitsgewinn z.b. Ausweichen aus Haftbedingungen zufällige Selbstverletzungen z.b. Extremsportarten z.b. gefährlicher Fahrstil Barth 2008 12

Selbstverletzungen in der Geschichte schon immer gab es ritualisierte Formen von Selbstverletzungen oft im Rahmen meditativer Techniken sich an Haken aufhängen Fakire Feuerlaufen schon immer gab es gesellschaftlich akzeptierte Formen der Selbstverletzung Geissler Genitalbeschneidungen extremes Fasten Barth 2008 13

Formen des selbstverletzenden Verhaltens Häufige Erscheinungsformen bei der offenen und heimlichen Selbstverletzung sind: Zwicken Klemmen Beißen Kratzen Stechen Aufkratzen der Haut Ritzen Schneiden Offenhalten bzw. Aufkratzen von Wunden / Wundschorf Verbrennungen Verbrühungen Verätzungen mit Säuren oder Laugen Quetschungen von Körperteilen Ausreißen von Haaren, auch Wimpern oder Augenbrauen Heftiges Schlagen von Kopf oder anderen Körperteilen an Wände etc. Abschnürungen, um Durchblutungsstörungen hervorzurufen Schlucken oder Spritzen von giftigen Substanzen Knochen brechen Barth 2008 14

Selbstverletzendes Verhalten - Körperteile Zu den bevorzugten Körperteilen gehören (in dieser Reihenfolge): Arme, vor allem Unterarme und Handgelenke Beine, vor allem Oberschenkel Bauch Kopf / Gesicht Brust Genitalbereich Barth 2008 15

aber es gehört auch dazu Komasaufen andere Formen des schädlichen Gebrauchs (Drogen, Nikotin, PC/Internet) Magersucht Bulimie / Erbrechen extreme Ausübung von Sport gefährliche Freizeitaktivitäten riskantes Fahren extremes Arbeiten, Schlafentzug massive Selbstvorwürfe, Grübeln, Zwangsgedanken Piercing, Tätowieren Barth 2008 16

Häufigste Form selbstdestruktiven Verhaltens Barth 2008 17

Häufiges Bild Barth 2008 18

Zunehmender Schweregrad des Ritzens Barth 2008 19

Die Klavierspielerin Ö/F 2001, Regie: Michael Haneke, Darsteller: Isabelle Huppert, Benoit Magimel Verfilmung des gleichnamigen Romans von Elfriede Jelinek. Sehr eindrucksvoll durch schonungslose Offenheit und herausragende schauspielerische Darstellung. Im Film werden die seelischen Abgründe des menschlichen Seelenlebens einfühlsam dargestellt und schrecken zum einen ab, faszinieren aber zugleich. Barth 2008 20

Selbstverletzendes Verhalten Häufigkeit: Schätzungen in Deutschland gehen davon aus, dass 0,7 bis 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung von offener Selbstverletzung betroffen sind, mit steigender Tendenz, bei der Gruppe der 15-30-jährigen geht man von ca. zwei Prozent aus. Bei 50% bereits ab dem 14. Lebensjahr, 90% vor 18. Lebensjahr 40% verletzen sich mehr als 5 Jahre, 15% länger als 10 Jahre Die Selbstverletzung ist auch kein Phänomen einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Frauen sind überwiegend: ca. 80% Ausnahme: Selbstverletzung von Männern in Gefängnissen 1998 gab es in den USA 1,9 Millionen Selbstverletzer (vor allem von der Form des: Sich-Schneidens, Sich-Ritzens, Sich-Brennens und Sich-die-Knochen-Brechens Barth 2008 21

Formen: Statistik 85% an den Extremitäten 93% erleben sich als abhängig vom SVV 73% Schneiden 35% Verbrennen 30% Sich schlagen 22% Wundheilung behindern 22% Kratzen 10% Haare ausreißen 8% Knochen brechen Barth 2008 22

Selbstverletzendes Verhalten als Form psychiatrischer Krankheit artefizielle Störung (ICD 10: F 68.1) Fehlen einer gesicherten körperlichen oder psychischen Störung Pica (ICD 10: F 98.3) Essen von nicht zum Verzehr geeigneten Dingen Rumination (ICD 10: F 98.2) Hochwürgen von Nahrung Trichotillomanie (ICD 10: F 68.3) v.a. Mädchen, 6.-11. Lebensjahr, neuerdings auch Adoleszenz lustvoll und schmerzhaft, oft in Kombination Impulskontrollstörung (ICD 10: F 63.9) Münchhausen und Münchausen by proxy stereotype Bewegungsstörung bzw. stereotypes selbstschädigendes Verhalten (ICD 10: F 98.4) z.b. bei Geistiger Behinderung teifgreifende Entwicklungsstörungen (z.b. Autismus) schwere Deprivation Barth 2008 23

Selbstverletzendes Verhalten bei psychiatrischen Krankheiten Schizophrenie besonders schwerwiegende Selbstverstümmelungen Konkretisierung von (Schuld-) Gefühlen Gefahr schwerer körperlichen Schäden Gefahr tödlichen Ausgangs im Rahmen von drogeninduzierten Psychosen Lesch Nyhan Syndrom und andere Stoffwechselstörungen z.b. Abreißen von Ohrläppchen Abbeißen von Fingerkuppen Geistige Behinderung und Autismus z.b. in die Augen bohren ins Gesicht schlagen in Hände, Lippen, andere Körperteile beißen Kopf anschlagen Barth 2008 24

Lesh Nyhan Syndrom Barth 2008 25

Lesh Nyhan Syndrom 1:380 000 Hypoxanthin-Guanin- Phosphoribosyltransfer ase (HGPRT)-Mangel Anreicherung von Harnsäure Verlauf: Leichte Form: Gicht Schwere Form: Tod vor dem Erwachsenenalter, z.b. Nierenversagen Therapie: Harnsäure regulieren Schutz: Festbinden Helm Schneidezähne entfernen Barth 2008 26

Typisches Selbstverletzendes Verhalten bei Bulimia nervosa und Anorexia nervosa Zwangssyndrom Störung des Sozialverhaltens Schwere emotionale Störung Borderline-Störung und andere Persönlichkeits(entwicklungs)störungen Anpassungsstörung nach Missbrauch oder Misshandlung und anderen Traumatisierungen Depression Bipolare Störung Gilles de la Tourette Syndrom Suchterkrankungen Barth 2008 27

Einteilung nach Schweregrad Schwerste Selbstverstümmelungen Amputation Kastration Enukleation stereotype Selbstverletzungen Oberflächliche Selbstverletzungen übliche Form des Jugendalters Kompulsiv: zwanghaft-süchtig Episodisch: vorübergehend Repetitiv: wiederholend Barth 2008 28

Abgrenzung Suizidalität - Selbstverletzung Intention: Selbstverletzung wird häufig als Suizidversuch beschrieben Form Schnitte quer oder längs, in Arteriennähe Kontext vorausgegangene Suizidversuche ausweglose Situation Funktion appellativ oder ungerichtet Ursache akuter Auslöser: impulsiv, entlastend geplante Aktion: zielgerichtet mögliche Folgen Suizid als missglückter Suizidversuch / missglückte Selbstverletzung Barth 2008 29

Ursachen Impulskontrollstörung Störung der Affektkontrolle gelernte Verhaltensweisen bei Unter- und Überstimulation Barth 2008 30

Entstehung: Deprivation Mißhandlung Sexueller Mißbrauch Innerpsychische Faktoren Differenzierung Funktion: Intrapsychische Funktion Selbstfürsorge Selbstkontrolle Selbstbestrafung Selbststimulation... Interpsychische Funktion Hilfsappell Kontrolle und Aggression Barth 2008 31

Wut gegen sich und andere Barth 2008 32

Rote Tränen Goethes Erben (Tote Augen sehen Leben) Es macht mir eigentlich keine Freude in meine eigene Hand zu schneiden, kleine rote Tränen zu beobachten, die einen kleinen Rinnsal bildend mich verlassen. Die einzige Möglichkeit mich an mir zu rächen Zu sühnen für das was ich sprach und tat. Ohne bewußt gehandelt zu haben. Es kommt mir vor als hätte ich nie gelacht nie geweint, gelacht geweint Die Bilanz zeigt aufwärts Doch verliert sich die schwarze Linie am trüben Horizont der brennt. Mit steigender Tendenz Richtung Unendlichkeit Weit entfernt von so etwas wie Gefühlen. Ich spüre nicht das Stück Fleisch, daß anstatt meiner rote Tränen weint. Im Moment noch wenige. Und jeder Schritt abseits der Linie wird bestraft mit flüsternden Worten die mehr rote Tränen fordern. Hört nur wie sie flüstern und wispern schimpfen und geifern stechen und bohren zerren und beißen fordern: rote Tränen zu weinen und schließlich darum betteln Endlich rote Tränen zu weinen Endlich rote Tränen zu weinen... rote Tränen zu weinen... Tränen zu weinen... zu weinen... weinen Barth 2008 33

Schmerzempfindung während der Selbstverletzung 10 % der sich selbst verletzenden Frauen verspürten starken Schmerz 23 % berichteten von mäßigem 38 % von leichtem und 29 % von gar keinem Schmerz (Favazza & Conterio, 286). Sachsse äußert über das Schmerzempfinden seiner Selbstverletzungspatientinnen: "Das SVV schafft hier ein Grenzerleben und vermittelt ein Gefühl von Lebendigkeit. Die anästhetische Haut wird wieder spürbar. Der Schnitt selbst ist schmerzfrei, erst nachträglich stellt sich ein begrenztes Schmerzempfinden ein. Das warme, pulsierende Blut ist ein Zeichen inneren Lebens." (Sachsse, 1995a, 43) Manche Frauen empfinden Schmerz, ertragen ihn aber mit einer Art Triumphgefühl, Sachsse nennt das den "masochistischen Triumph". "Ich kann allerhand ab. Vor drei Jahren habe ich mir mal einen Schraubenzieher durch die Hand gerammt und bin so in die Chirurgie gefahren. Dem Chirurgen ist fast schlecht geworden. Anfänger! Er wollte mir sofort eine Leitungsanästhesie setzen, aber das habe ich abgelehnt. Ohne Betäubung habe ich gesagt. Es hat höllisch wehgetan, aber ich hab keine Miene verzogen" (Sachsse, 1995a, 128). Barth 2008 34

Erklärung: Endorphine Mobilisierung der Endorphine: Hochgefühl betäubt anderen Schmerz Endorphine durch bedingten Reflex bereits mobilisiert Suchtcharakter Barth 2008 35

Erklärungen Selbstverletzung aus Schuldgefühlen Selbstverletzung bei blockierter Aggression Selbstverletzung als Kompromiss zwischen Eros und Thanatos Selbstverletzung als erlerntes Verhalten Selbstverletzung als Suchtverhalten Selbstverletzung als Erkundung des eigenen Körpers und der sozialen Beziehungen Selbstverletzung als Überwindung von Depersonalisation Selbstverletzung als Dissoziation Selbstverletzung als Schutz vor suizidalen Handlungen Barth 2008 36

Vorkommen und Erklärung autoaggressiven Verhaltens Selbstverletzung bei Jugendlichen heute eine häufige Verhaltensweise, besonders bei vorausgegangener oder anhaltender emotionaler, körperlicher und/oder sexueller Mißhandlung/Mißbrauch. Häufig in Kombination mit der Entwicklung einer extremen Störung des Sozialverhaltens, Borderline-Persönlichkeitsstörung und extremen Bindungsunfähigkeit. Häufig auch in Verbindung mit paraselbstschädigenden Störungen wie Anorexie und Bulimie. Oft zugrundeliegende schwere depressive Störung. Selbstverletzungen als Versuch der Selbsttherapie: damit ich den großen Schmerz nicht spüre Blut als Zeichen der eigenen Lebendigkeit Vergewisserung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung eigene Körpergrenze erspüren Selbstfürsorge Barth 2008 37

Erklärung autoaggressiven Verhaltens Erregungsabfuhr ungerichteter oder blockierter innerer Erregung umgeleitete aggressive Akte Masturbationsersatz bzw. exzessive Masturbation vor allem bei geistiger Behinderung: ungenügende Verknüpfung von Schmerz und Schmerzursache starker stimulierender Reiz bei Reizdeprivation infolge Wahrnehmungseinschränkung Selbstvergewisserung durch Schmerz, Spüren des eigenen Körpers vor allem bei jung und lange institutionalisierten Patienten bei weiblichen Patienten häufiger bei männlichen Patienten schwerer häufig von Stereotypien begleitet Selbstvergewisserung der eigenen Handlungsmöglichkeit Erlernt durch soziale Zuwendung nach Selbstverletzung unmittelbare Wundversorgung präventive Betreuung Erlernt als Vermeidung von Unerwünschtem Häufig Suche nach Zuwendung, Liebe, Aufmerksamkeit bei Ich-Schwäche, Hilflosigkeit, Unreife, Ressentiment Physiologische Prozesse als Ursache von Selbstverletzung: Lesh-Nyhan-Syndrom kulturelles Phänomen bei Angst, Verzweiflung, Ausweglosigkeit (Bestattungsriten) bei gefangenen Tieren oder mutterlos aufgewachsenen Tieren Barth 2008 38

Entwicklungspsychopathologie im Kindes- und Jugendalter: passagere Entwicklungsstörungen nächtliches Kopfschleudern Beißen an Nägeln, Nagelhäuten oder in die Wangenschleimhaut Haareausreißen Ritzen der Körperhaut mit scharfen Gegenständen Primitivreaktionen in Verzweiflungs- und Erregungszuständen sich selbst schlagen mit dem Kopf auf Gegenstände schlagen zwanghafte Bewegungsstereotype mit Selbstverletzung im Verlauf endogener, besonders schizophrener Psychosen Autoaggressionen als Suizidäquivalente demonstrative Handlungen Jugendlicher in der Strafhaft als Ausweich- und Zweckreaktionen Fremdkörperschlucker Einbringen entzündungsfördernder Fremdstoffe in offene Wunden selbstbeigebrachte Verletzungen Barth 2008 39

Diagnostik Genau phänomenologische Erfassung des selbstverletzenden Verhaltens Erfragung der Kognitionen beim Selbstverletzen Erfassung der gesamten Lebensumstände Differentialdiagnostik mit umfassender psychopathologischer Anamnese und Befund Bedeutung und Verarbeitung der bereits bestehenden Schäden Barth 2008 40

Beratung Nicht wegschauen eigene Reaktion aushalten Ansprechen Befinden erkunden Gesamtsituation einschätzen Unterscheidung in passageres Phänomen, Ausprobieren Problemverhalten, Krankheit sorgfältige Erstversorgung Barth 2008 41

Wichtigste Komponente Wie reagiere ich auf die Konfrontation mit Selbstverletzungen? schon die ersten Sekundenbruchteile können über Vertrauen und Beratungserfolg entscheiden Barth 2008 42

Umgehen mit Autoaggressionen: Übernahme der Autoaggression durch klar strukturierendes, ja beschränkendes Verhalten kann helfen, entlasten und Freiheit geben: keine Selbstbestrafung mehr nötig. (jedoch: Durchbrechen des Zirkels der Gewalt, auch bei Paaren, in dem die Aggression des anderen gesucht wird. Also Strukturierung, vor der eigenen unkontrollierten affektiven Antwort) Pflegende liebevolle Versorgung aller Verletzungen als Zeichen, daß unbedingt die Integrität des Selbstverletzenden wiederhergestellt werden soll. Heilen des Körpers = Pflege der Seele. Jede solche Versorgung ist ein Stück Integration des beschädigten Ichs des Selbstverletzers und ein Gegengewicht zu oft vorausgehenden tiefgehenden Verletzungen durch andere. Barth 2008 43

Therapie Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung Akzeptanz der Funktion des SVV Aufbau alternativer Verhaltensweisen Entzug von Zuwendung direkt nach SVV Behandlung von Grunderkrankungen Korrekturverfahren Kognitive Therapieansätze (DBT u.a.) Tiefenpsychologische Therapie time out, Fixierung, Medikamente Barth 2008 44

Selbsthilfe-Ratschläge Versuche Dich zu entspannen bzw. abzulenken, z.b. Tief durchatmen, Baden, Musik hören, Lesen, Fernsehen... Mit jemandem sprechen (ein Freund, Therapeut oder Telefon-Krisendienst) Versuche, möglichst nicht alleine zu sein (einen Freund besuchen, einkaufen, spazierengehen) Tagebuch schreiben bzw. schreibe das auf, was Du momentan fühlst, was Dir durch den Kopf geht Versuche deine Gefühle kreativ umzusetzen, z.b. durch Zeichnen Trage ein Gummi um Dein Handgelenk und laß es schnalzen, wenn Du den Drang hast, Dich selber verletzen zu wollen. Male Dir rote Striche mit wasserlöslichen Filzstiften auf die Haut anstatt zu schneiden. Presse Eiswürfel an Deine Haut. Die Kälte ist zwar schmerzhaft, aber weder gefährlich noch gesundheitsschädlich. Versuche Dich nicht in Versuchung führen zu lassen, d.h. halte Dich nicht an Orten auf, wo du z.b. deine Klingen aufbewahrst Versuche Deine Aggressionen loszuwerden (Schlag auf ein Kissen oder eine Matratze, geh nach draussen und schrei alles aus Dir heraus) Suche Dir eine Sportart, bei der Du Deinen inneren Stress abbauen kannst Weine, wenn du kannst. Du fühlst dich besser, wenn die Tränen erst einmal raus sind. Barth 2008 45

Selbsthilfe-Ratschläge Tu irgendetwas mit deinen Händen (Malen, Zeichen, Aufräumen, Abwaschen, Hausarbeiten) Schreibe einen Brief an die Person, die Dich traurig oder wütend macht bzw. die Dich verletzt hat. Schreibe Dir Deinen ganzen Frust von der Seele, verfasse Kurzgeschichten oder Gedichte. Mach Musik, spiele ein Instrument spielen oder erlerne es. Höre laut Musik und versuche dich voll auf das Lied zu konzentrieren, lasse dich sozusagen davon fesseln. Versuche Deine Gefühle mitzuteilen anstatt sie zu schlucken oder sie für Dich zu behalten. Nimm den Gegenstand, mit dem du dich sonst selber verletzt und richte es dieses Mal gegen etwas anderes als dich selbst. Sage Dir, dass Du Dich in 15 Minuten immer noch verletzten kannst. Versuche nach den 15 Minuten, ob du es nochmal 15 Minuten aushälst. Schreib eine Liste mit Gründen, warum du das Schneiden aufhören wirst. Immer wenn du dann den Drang verspürst, dich selber zu verletzen, lies die Liste als Erinnerung daran, warum du es jetzt nicht tun solltest. Wenn Du kurz davor bist Dich zu verletzten, versuche nachzudenken: Warum mache ich das? Möchte ich es wirklich? Hilft es mir? Was werden die Folgen sein? Möchte ich mit diesen Folgen leben? Wenn der Drang dennoch nicht weniger wird, erlaube Dir das SVV, aber bestimme woher wie weit und versuche die Grenze nicht zu überschreiten. Barth 2008 46

Artefizielle Störung = Münchhausen-Syndrom (ICD 10: F68.1) (Asher 1951) Absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen. häufig und beständig überzeugend und hartnäckig kann viele Untersuchungen oder gar Operationen zur Folge haben oft mit anderen Persönlichkeitsstörungen kombiniert Cave: nicht Simulation (Z76.5) Barth 2008 47

Artefizielle Störung Häufigkeit: 0,5-2% unter chirurgischen Patienten Durchschnit 20 25 Jahre Beginn oft in Adoleszenz In der KJP: ab 8 Jahre, DS 14 Jahre 71% Mädchen Barth 2008 48

Artefizielle Störung Haut internistisch gynäkologisch chirurgisch urologisch psychiatrisch Barth 2008 49

Münchhausen by Proxy = artefizielle Störung by Proxy (Meadow 1977) ICD 10: T74 DSM-IV-Forschungskriterien: Absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Zeichen oder Symptomen bei einer anderen Person, die von der betreffenden Person versorgt wird. Das Motiv für das Verhalten liegt im stellvertretenden Kankheitsgewinn (by proxy). Äußere Gründe fehlen. Das Verhalten wird nicht durch eine andere psychische Störung hervorgerufen Barth 2008 50

Münchhausen by Proxy Alter: 1 21 Jahre, DS 40 Monate Fast immer durch die Mutter Klinische Auffälligkeiten: Blutungen (44%) Anfälle (42% ZNS-Störungen (19%) Apnoe (15%) Durchfälle (11%) Erbrechen (10%) Fieber (10%) Barth 2008 51

Münchhausen by Proxy Merkmale: Häufig eigene Anamnese von Missbrauch und Ablehnung bei der Mutter Pathologische Bindung Mutter-Kind: Frühe Interaktionsstörungen Balance Liebe-Hass gestört Ungewollt unterstützende Rolle des medizinischen Systems Nur bei 15% der Mütter eigene psychiatrische Diagnose gepflegte, kooperative und engagierte Mütter oft aus medizinischen Berufen oft alleinerziehend Barth 2008 52

Münchhausen by Proxy Vorgehen Genaue Beobachtung Schutz der Kinder forensischer Nachweis Cave: ärztliche Tätigkeit ist auslösend emotionale Reaktionen des Helfersystems Barth 2008 53

Vernachlässigung - Misshandlung Vernachlässigung körperlich emotional (Deprivation) Misshandlung körperlich emotional Münchhausen by proxy Barth 2008 54