Rosemarie Tracy. Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie dabei unterstützen können. 2. Auflage



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Transkript:

Rosemarie Tracy Wie Kinder Sprachen lernen Und wie wir sie dabei unterstützen können 2. Auflage

Inhalt Vorwort..................................................... Vorwort zur zweiten Auflage.................................... IX XI Kapitel 1 Einleitung und Überblick....................................... 1 Zur aktuellen Problemlage: Unterförderung ist Unterforderung..... 4 Theorie muss sein! Sprachwissenschaftliche und spracherwerbstheoretische Grundlagen.................... 5 Weitere Voraussetzungen: Nachdenken über eigene Einstellungen und eigenes Verhalten.................................. 9 Zielgruppe und Aufbau.................................... 10 Abschließende Überlegungen............................... 13 Kapitel 2 Sprachwissenschaftliche Grundlagen: Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb?................. 15 Was Sie in diesem Kapitel erwartet: Fachspracherwerb........... 15 Wichtige Unterscheidungen und eine einfache Frage: Gibt es Sprache(n)?.................................... 19 Intuitives sprachliches Wissen und was das Ganze mit dem Paketepacken zu tun hat................................ 23 Wortnetze im Kopf........................................ 33 Sprache als Regelsystem: ein erster Selbstversuch................ 37 Die Architektur deutscher Sätze............................. 39 Ein kurzer Blick über den Zaun: Sprachen im Vergleich........... 42 Fazit................................................... 44 Kapitel 3 Mehrsprachigkeit, Mehrstimmigkeit.............................. 46 Ein Gedankenexperiment zum Einstieg........................ 46 Mehrsprachigkeit im Kreuzfeuer............................. 49

VI Inhalt Code-mixing als Fertigkeit oder: Wer die Sprachwahl hat, hat nicht die Qual............................................. 54 Vorteile und Nachteile der Mehrsprachigkeit: Ist diese Frage überhaupt von Belang?................................. 59 Zum Ausklang ein kleiner Vorgeschmack...................... 62 Kapitel 4 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen... 64 Ausblick................................................ 64 Spracherwerb zwischen Anlage und Umwelt................... 67 Erwerbsaufgabe Lexikon: ein kurzer Exkurs.................... 69 Erwerbsaufgabe: Sätze aufräumen............................ 76 Wichtige Meilensteine der Satzkonstruktion.................... 77 Turbulenzen: Übergangslösungen und individuelle Lernerstrategien....................................... 86 Besonders clevere Übergangslösungen: Joker im Einsatz.......... 91 Erwerbsaufgaben über den frühen Erwerb hinaus............... 97 Spezifische Spracherwerbsstörungen.......................... 99 Abschließende Überlegungen............................... 100 Kapitel 5 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes?... 102 Einstieg und Überblick..................................... 102 Kaum vergleichbare Ausgangslagen.......................... 107 Warum erregt der doppelte Erstspracherwerb die Gemüter?....... 113 Strategien der Eltern...................................... 121 Ein Ausflug in die Theorie: Warum fasziniert uns der doppelte Erstspracherwerb?..................................... 122 Fazit................................................... 125 Kapitel 6 Deutsch als Zweitsprache....................................... 127 Einstieg und ein nicht leichter Überblick....................... 127 Deutsch als frühe Zweitsprache oder: Schneller geht s kaum!....... 134 Fallstudien zum Erwerb des Deutschen durch Kinder mit Russisch, Türkisch und Arabisch als Erstsprache...................... 135 Sprachen gehen zur Schule................................. 146 Fazit................................................... 154

Inhalt VII Kapitel 7 Alle in einem Boot? Sprachliche Bildung, Sprachförderung und Spracherwerb................................................ 156 Also, wie lernen Kinder denn nun Sprachen?................... 156 Ist die Förderung der Sprachkompetenz im Deutschen Sache der Eltern?.............................................. 159 Warum ist eine frühe Unterstützung des Erwerbs der Zweitsprache besonders sinnvoll? 10 wichtige Gründe.................... 160 Standards der frühen Förderung: Warum Ganzheitlichkeit ein systematisches, regelmäßiges und intensives Sprachangebot nicht überflüssig machen kann................................ 162 Sprachförderung und sprachliche Bildung beginnen im eigenen Kopf 164 Innenperspektive eines Förderprojekts........................ 165 Fazit................................................... 167 Kapitel 8 Mit Kindern reden............................................ 169 Eine kleine Zeitreise und ein Perspektivenwechsel............... 169 Erinnerung an die vielen Ebenen bzw. Schichten des Sprachpakets.. 172 Ein großer Trost: Wir haben perfekte Verbündete!............... 175 Kinder sind sehr kooperationsbereit, auch in der Sprachwahl...... 176 Dialoge mit Kindern: Hinhören und gut hinschauen............. 178 Wenn der Input Irrtümer provoziert.......................... 183 Kommunikation ist einfach und macht Spaß................... 184 Vom Hinhören und miteinander Reden zur Förderung........... 186 Fazit................................................... 188 Kapitel 9 Sprachförderung als Herausforderung für alle: Anregungen für die Umsetzung von Fördermaßnahmen.............. 190 Von unserem intuitiven Wissen über Sprache zur systematischen und gezielten Förderung................................. 190 Wortschatzerwerb in der Zweitsprache: Schatzkarte nicht vergessen! 193 Allgemeine Anregungen zum Wortschatz und eine Erinnerung an Schnittstellen zu anderen Erwerbsaufgaben.................. 196 Aufbau von Syntax und Morphologie......................... 198 Fazit................................................... 201

VIII Inhalt Kapitel 10 Entscheidungshilfen für eine differenzierte Sprachförderung........... 203 A. Theoretische Grundlagen zur Ermittlung des sprachlichen Entwicklungsstands und Anregungen für die Förderung...... 203 B. Auswertungsbogen................................... 210 Epilog...................................................... 215 Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern....................... 217 Bibliografie.................................................. 228

Kapitel 1 Einleitung und Überblick In diesem Buch gibt es wahrscheinlich außer einigen umgangssprachlichen Floskeln wie beispielsweise mein Und das ist nicht einmal alles! weiter unten keinen Satz, den Sie schon einmal Wort für Wort genau so gelesen oder gehört haben. Dennoch wird es Ihnen keine Schwierigkeit bereiten, den Text zu verstehen. Offensichtlich wissen und können wir nach erfolgreichem Spracherwerb mehr als das, was wir bisher erlebt haben. Mit der Sprache verhält es sich in dieser Hinsicht wie mit dem Rechnen: Wenn Sie erst einmal die Regeln beherrschen, können Sie beliebige Zahlen multiplizieren, auch wenn es bei den meisten von uns ab einer bestimmten Größe der Zahlen nur noch mit Papier und Bleistift geht. Und das ist nicht einmal alles! Denn sofern Deutsch Ihre Erstsprache oder eine Ihrer Erstsprachen ist, konnten Sie bereits im Alter von zweieinhalb bis vier Jahren Sätze konstruieren, die denen ähneln, die von mir in diesem Text verfasst wurden. Die folgenden Beispiele zeigen dies. 1 (1) Valle 2;3 Das leg ich jetzt dahin, bis der Bauer mit seinem Bagger fertig is. Weil der Bagger in den Stall gebaggert werden will. 2;4 Warum kann dann sein, dass ich rausfall? (2) Julia 3;2 über einen Hund. Wenn der Leo auf mein Bett geht, verbitte ich ihn das. (3) Adam 5;2 Als ich noch ein ein als ich noch vier war, hab ich sogar noch gekratzt. 1 Da in diesem Buch sehr viele Beispiele diskutiert werden, die ich hin und wieder auch miteinander vergleichen möchte bzw. auf die ich im Text immer wieder Bezug nehme, folge ich einer in sprachwissenschaftlichen Texten üblichen Tradition und nummeriere die Beispiele. Der Nummerierung folgen dann der Name der Person, von der das Beispiel stammt, und eine Altersangabe, z. B. Valle 3;6. Das bedeutet, dass Valle die zitierte Äußerung im Alter von 3 Jahren und 6 Monaten produzierte. Um die Lesbarkeit der Beispiele zu erhöhen, habe ich Satzzeichen, z. B. Kommata und Punkte, eingefügt, obwohl es sich um gesprochene Äußerungen handelt. Viele Merkmale der gesprochenen (Kinder-)Sprache wurden allerdings beibehalten, daher die Schreibung is anstatt ist, hinleng für hinlegen. In späteren Kapiteln werden für die Darstellung der Beispiele zusätzliche Festlegungen nötig, die ich dann an Ort und Stelle erläutere. Verbitte anstatt verbiete, und ihn statt ihm in (2) sind Originalton, keine Tippfehler meinerseits!

2 Einleitung und Überblick Nach einem flüssigen Start in (3) zögert Adam auf einmal, wie wir an der Wiederholung von ein erkennen, und bricht seinen Satz vollständig ab, was ich durch den senkrechten Strich gekennzeichnet habe. Wahrscheinlich wollte er zuerst so etwas sagen wie Als ich noch ein Baby war oder Als ich noch ein kleiner Junge war. Offensichtlich ist ihm beim Sprechen eingefallen, dass es noch eine bessere, vielleicht präzisere, Möglichkeit gibt, sich auszudrücken, was ihm dann auch prompt in einer von Anfang bis Ende flüssigen Äußerung gelingt. Diese Beispiele belegen das, was man in der Sprachwissenschaft unter Kreativität versteht, nämlich die Fähigkeit, eine im Prinzip unendliche Menge von Äußerungen zu verstehen und zu produzieren. Adam zeigt uns auch sehr klar, dass er gleichzeitig an mehr als einem Satz basteln kann. Die sprachlichen Fähigkeiten, die sich hinter all dem verbergen, werden mich das ganze Buch über beschäftigen und Sie, wie ich hoffe, zunehmend für das Thema Sprache begeistern. Für den Fall, dass Sie sich nun fragen: Ja, aber wer sind diese Kinder? Was für einen Bildungshintergrund haben die Eltern?, liefere ich Ihnen gleich noch Beispiele von zwei kleinen Mädchen mit Russisch und Türkisch als Erstsprachen, die im Alter von etwa drei Jahren zum ersten Mal mit dem Deutschen in Kontakt kamen und deren Eltern weder einen Hochschulabschluss haben noch (bis auf einen Vater) über nennenswerte Deutschkenntnisse verfügen. In beiden Fällen ist die Erstsprache daher auch die Familiensprache. (4) Ronja 3;9 (Erstsprache Russisch) Warte doch mal, wenn ich hab fertig gemal. (5) Tea 4;11 (Erstsprache Türkisch) erklärt die Regeln eines Kartenspiels. Wer dies gleiche hier hat, muss dies hinleng. Du musst dann Karte ziehn, wenn du dies gewürfelt hast. Sprachliche Strukturen dieser Art, die viele Kinder schon produzieren, bevor sie drei Jahre alt sind (vgl. das Alter von Valle im ersten Beispiel), weisen bereits die wichtigste Eigenschaft von Sätzen natürlicher Sprachen auf. Sie sind nämlich potentiell unendlich, und zwar nicht nur deshalb, weil man immer ein weiteres Wort oder neue Wortgruppen einfügen könnte, wie in Sandra hat sich eine neue Handtasche gekauft; eine neue, blaue Handtasche; eine neue, blaue, spottbillige Handtasche; eine neue, blaue, spottbillige, aber überflüssige, wenngleich zweifellos sehr modische Handtasche gekauft. Sätze sind auch dadurch (potentiell) unendlich, weil man sie endlos miteinander verketten und in einen Satz immer wieder weitere Sätze einbetten kann. Diese Entdeckung haben die Kinder, deren Beispiele ich hier ausgewählt habe, bereits gemacht, auch wenn das geäußerte Ergebnis nicht unbedingt von Anfang an alle Feinheiten der deutschen Grammatik berücksichtigt. In (4) würden wir beispielsweise sagen: Warte doch mal, bis ich fertig gemalt hab. Aber erinnern wir uns daran, dass Ronja zu dem Zeitpunkt, zu dem

Einleitung und Überblick 3 sie (4) äußert, noch nicht einmal ein Jahr Kontakt mit der deutschen Sprache hatte! Über diese und andere Kinder werden Sie im Verlaufe dieses Buches mehr erfahren. Sie werden dabei sicher auch manches lesen, was Ihren Alltagserwartungen widerspricht: von Kindern und Müttern, die nicht in der gleichen Sprache miteinander sprechen; über Kinder, die Sprachmischungen produzieren, obgleich ihre Eltern es nicht tun; von Kindern, die sich in sprachlicher Hinsicht konservativer verhalten als ihre Mütter und Väter, weil sie nicht mischen, obgleich die Eltern in ihrer Gegenwart mehrere Sprachen sprechen. Sie werden nach der Lektüre vielleicht auch Ihr eigenes sprachliches Verhalten stärker überdenken und sich mehr als früher über eigene Versprecher und Formulierungsschwierigkeiten in allen Ihren Sprachen amüsieren. Möglicherweise macht Ihnen das Buch ja auch Lust auf das Lernen weiterer Sprachen! Damit täten Sie nicht nur etwas Gutes für Ihr Gehirn. Sie könnten auch noch einmal bewusst am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn man schon Experte oder Expertin mindestens einer Sprache ist und auch sonst viel weiß, sich aber in einer neuen Sprache noch nicht so mitteilen kann, wie man eigentlich möchte. Welche kommunikativen Kompetenzen und welches Feingefühl würden Sie sich in so einem Fall von Ihren Gesprächspartnern und -partnerinnen wünschen? Der Spracherwerb gehört zweifellos zu den bemerkenswertesten Errungenschaften der frühen Kindheit, und er ist im Normalfall sehr robust, d. h. resistent gegenüber vielen möglichen Störfaktoren. Von daher ist es kein Wunder, dass die Frage, wie es Kinder überall auf der Welt schaffen, sich innerhalb weniger Jahre auf ähnliche Weise und sehr systematisch ein so komplexes System wie die menschliche Sprache anzueignen, die Wissenschaft seit vielen Jahrzehnten fasziniert. Wenn ich hier nur ein einziges Ziel nennen dürfte, das mit diesem Buch erreicht werden soll, dann wäre es dies, etwas von eben dieser Faszination zu vermitteln. Diesem einleitenden Kapitel fällt die Aufgabe zu, in die Thematik des Buches einzuführen. Was liegt näher, als zunächst an dem offenkundigen Widerspruch zwischen meinem optimistischen Einstieg meiner Betonung früher sprachlicher Kompetenzen und aktuellen Debatten über die sprachlichen Probleme und Defizite von ein- und mehrsprachigen Kindern anzuknüpfen. Nach einigen Bemerkungen zur Dringlichkeit des Handlungsbedarfs werde ich drei Punkte ansprechen, die meiner Ansicht nach produktiven Problemlösungen immer noch im Wege stehen: Lücken im allgemeinen Wissen über Sprache und Spracherwerb, problematische Einstellungen zur Mehrsprachigkeit und ungeeignete Kommunikationspraktiken. Mit den ersten beiden Punkten setze ich mich das ganze Buch hindurch immer wieder auseinander. Möglichkeiten einer Optimierung der Kommunikation mit Kindern werden in den letzten Kapiteln eingehender behandelt.

4 Einleitung und Überblick Zur aktuellen Problemlage: Unterförderung ist Unterforderung Seit längerer Zeit ist Sprache in mehr als einem Sinn in aller Munde. Im letzten Jahr verging kaum ein Monat ohne eine Tagung zum Thema Mehrsprachigkeit. Fast täglich wird in den Medien darüber berichtet, wie schlecht es um die sprachlichen Kompetenzen von Schülern und Schülerinnen zu Beginn oder am Ende ihrer Schulzeit steht, wie vielversprechend frühes Sprachenlernen ist (vgl. die Welt am Sonntag vom 8. 7. 07) oder wie wichtig sprachliche Kompetenzen für eine erfolgreiche Integration und Bildungskarriere sind. Zur Zeit werden auch Vor- und Nachteile muttersprachlichen Unterrichts diskutiert (vgl. Rhein-Neckar- Zeitung vom 25./26. 8. 2007; Streitfall Mehrsprachigkeit, Deutschlandfunk, 8. 8. 2007). In Talkshows geht es immer mal wieder darum, ob Sprachverbote dazu beitragen können, sprachliche Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, allerdings, wie mir scheint, meistens ohne Vertreter und Vertreterinnen aus den Sprachwissenschaften. Internationale Studien wie PISA und IGLU haben uns aufgeschreckt und den engen Zusammenhang zwischen der Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen beim Verstehen von Texten und Lösen von Aufgaben aufgezeigt. Man kann diesen Studien nur dankbar sein: In der Öffentlichkeit und in der Politik wurde mit einem Schlag zur Kenntnis genommen, was sich in vorschulischen Einrichtungen, Schulen und Ausbildungsbetrieben schon längst abzeichnete und die pädagogische Praxis und die Eltern gleichermaßen beunruhigte: Wenn in Brennpunktgebieten 90 bis 100 % der Kinder einer Grundschulklasse einem altersgemäßen Unterricht in deutscher Sprache nicht folgen können, viele SchülerInnen die Hauptschule ohne Abschluss verlassen, der Anteil von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien in weiterführenden Schulen gering ist und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlecht sind, dann haben wir auf sämtlichen Ebenen des Bildungssystems und in allen gesellschaftlichen Bereichen ein Problem. In einem Abschlussbericht, der im Frühsommer 2007 von einer der Arbeitsgruppen des Nationalen Integrationsplans der Bundesregierung erstellt wurde (Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 23. 4. 2007), kann man nachlesen, dass in der Bundesrepublik mittlerweile jedes dritte Kind unter sechs Jahren einen Migrationshintergrund hat; in Großstädten wie Ludwigshafen sind es bereits etwa 60 % der zur Zeit geborenen Kinder. Es ist wichtig, schnell zu handeln, damit diese Kinder nicht zu den Verlierern und Verliererinnen einer Politik werden, die viel zu langsam zur Kenntnis nimmt, dass sich auch angeborene Talente (wie die Fähigkeit, Sprachen zu erwerben) ohne kompetente Sprachvorbilder und genügend Gelegenheit, deutsche Äußerungen zu hören, nicht entfalten können. Spracherwerb vollzieht sich nicht telepathisch! Den differenzierten Wortschatz und die Grammatikkenntnisse, die Kinder bei Schulbeginn benötigen, können sie sich nicht in Gesprächen mit Personen aneignen, die das Deutsche selbst nicht

Sprachwissenschaftliche und spracherwerbs theoretische Grundlagen 5 beherrschen. Es ist daher nicht nur sinnvoll, sondern zwingend erforderlich, möglichst früh in eine systematische sprachliche Förderung zu investieren, weil dies langfristig die effektivste Lösung und die kostengünstigste Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft ist. Die Situation von Kindern und Jugendlichen jedes Alters innerhalb unserer Bildungssysteme bedarf also dringend der Verbesserung, aber die ist nicht zum Nulltarif zu haben. Die ersten, die schon vor mehreren Jahren nicht nur den dringenden Handlungsbedarf erkannt, sondern auch tatsächlich gehandelt haben, waren Stiftungen, die auf breiter Basis Initiativen ergriffen und erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt haben (vgl. dazu die Internetseiten am Kapitelende). Inzwischen ist Sprachförderung auf allen Ebenen zu einem wichtigen politischen Thema avanciert. Viele Städte und Träger haben Förderkonzepte umgesetzt (vgl. Jampert et al. 2007²), die mancherorts auch wissenschaftlich begleitet werden. Bundesweit laufen Bestrebungen, flächendeckend Instrumente zur Sprachstandsdiagnostik einzusetzen (vgl. Ehlich et al. 2004, Kany & Schöler 2007). Trotz vieler Aktivitäten und positiver Entwicklungen bleiben in diesem Moment noch viele Fragen unbeantwortet. Weiß man denn in der pädagogischen Praxis schon genug über Sprache und über Mehrsprachigkeit, um zu entscheiden, wann, wie intensiv und wie überhaupt gefördert werden sollte? Oder anders formuliert: Hat die Wissenschaft schon die Erkenntnisse an die Praxis weitergegeben, die nötig sind, um die Sprachförderung an den individuellen Fähigkeiten von Kindern auszurichten? Dass Kinder bisher unterfördert waren bzw. dass viele noch immer nicht ausreichend gefördert werden, wissen wir. Wie können wir sicherstellen, dass wohlgemeinte Maßnahmen sie nicht unterfordern, unter anderem deswegen, weil man immer noch zuwenig über ihre Sprachbegabung, ihr natürliches Curriculum (ihren eigenen Lehrplan) und ihre metasprachlichen Fähigkeiten zur Kenntnis genommen hat? Mit metasprachlichen Fähigkeiten ist gemeint, dass Kinder in der Lage sind, über Sprache(n) und Sprachverwendung nachzudenken und eigene Äußerungen zu reparieren (vgl. Adam in (3)). Hier setzt das Buch an. Es ist bestrebt, Grundlagenwissen zu vermitteln, mit dem sich Förderkräfte oder andere Verantwortliche sachkundig und bewusst für eine Umsetzung von unterstützenden Maßnahmen entscheiden können. Theorie muss sein! Sprachwissenschaftliche und spracherwerbs theoretische Grundlagen Für jede einzelne Person, die sich für die Sprachförderung fit machen möchte, besteht daher ein erster wichtiger Schritt darin, sich klar zu machen, worum es sich bei Sprache eigentlich handelt und wie Kinder sich Sprachen unter verschiedenen Erwerbsbedingungen aneignen. Glücklicherweise ist die Fähigkeit,