Medikalisierung sozialer Probleme Wolfgang Schneider Berlin 11.4.2013
Ökonomisierung Gesundheit als Massenware/ Enthumanisierung Medikalisierung Ausweitung der Definitionsund Handlungsmacht Naturwissen schaftlich, Technologisch und pragmatisch
Schaffung neuer Krankheiten Risikofaktoren Wellness Lifestylemedizin Medikalisierung Intensivmedizin Schönheitschirurgie
Beispiele für Medikalisierung Veränderung und Ausweitung von Krankheitsbegriffen, Schaffung neuer Krankheiten, Absenkung von Krankheitsschwellen Identifikation von Risikofaktoren (Cholesterin, Blutdruckwerte,PSAwerte); genetische Untersuchungen (Chorea Huntington) Intensivmedizin Schönheitschirurgie Lifestylemedizin (z.b. Viagra); sexuelle Dysfunktion der Frau als Indikation, Antidepressiva, Doping im Sport, Gehirndoping Wellness
Zunahme psychischer Erkrankungen??? Epidemiologie Versorgungslage Berentungen
Sonderfall: psychische Störungen Epidemiologische Studien: ca. 30 35% Jahresprävalenz psychischer Erkrankungen Zunahme der Antidepressiva Verschreibung zwischen 2000 und 2010 verdoppelt Arbeitsunfähigkeitszeiten wg. psychischer Erkrankungen nehmen rasant zu (TK um mehr als 60% zwischen 2006 bis 2011) AU Zeiten bei Erwerbslosen fast doppelt so hoch wie bei Erwerbstätigen Berentungen wg. verminderter Erwerbsfähigkeit (40% ); ca. 5 Jahre früher als wegen anderen Erkrankungen Psychosoziale Faktoren spielen auch bei jedweden chronischen Erkrankungen eine bedeutende Rolle!
Moderne Psychiatrische Diagnostik (DSM V und ICD 10 Ausweitung des Krankheitsbegriffs Zunahme von Diagnosen (DSM von 106 auf ca.390) Absenkung der diagnostischen Schwellen Diagnostik fokussiert Symptome, Schwergrade und den Verlauf von Störungen Formulierung von Risikosyndromen (psychosis risik syndrom, leichte neurokognitive Störung) Krankheitsursachen werden primär in biologischen Faktoren gesucht Biologisierung = Pharmakologisierung Beispiele Bipolare Störung des Kinder und Jugendalter, affektive Dysregulationsstörung Aufmerksamkeits Defizit Hyperaktivitätsyndrom (ADHS) Leichte neurokognitive Störung Trauer mit depressiven Symptomatik soll als major depression klassifiziert werden
Diagnosen als soziales Machtinstrument (Labeling approach) Potenzielle Folgen der Diagnosenstellung für die Betroffenen (Stigmatisierung, Bedrohung der psychischen Integrität, Einleitung und Fixierung von Krankheitsprozesse,Verlust von Selbstwirksamkeit, Abhängigkeit aber auch sekundärer Krankheitsgewinn) Der subjektive Sinn von Symptomen oder psychischen Störungen geht beim aktuellen Verständnis von Diagnosen verloren! Symptombildung als Ausdruck von Widerstandspotenzial
Medikalisierung als Interaktion zwischen unterschiedlichen Ebenen Individuum Gesellschaft Med. und paramedizinisches Versorgungssystem
Die moderne Arbeitswelt Wissens, Dienstleistungs und Leistungsgesellschaft Prekäre Arbeits Verhältnisse, Arbeitslosigkeit Steigende kognitive, emotionale und Interaktionelle Anforderungen; Verdichtung und Intensivierung von Arbeit Vermischung von Arbeit und Freizeit Flexibilität und Mobilität, Lebenslange Weiterbildung
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen geforderte individuelle Kompetenzen Relevante psychische und psychosomatische Folgen Vielfalt, Komplexität, Dynamik, Widersprüchlichkeit, wenig gesellschaft. Struktur, hohe soziale Kontrolle für Menschen in prekären Lebenssituationen, Wenig soziale Netze, Unsichere Bedingungen d. Identitätsbildung, Unsichere Beziehungen Autonomie, Durchsetzungs Vermögen, Narzissmus, Kommunikationsund Interaktionsfähigkeit, Flexibilität in Bezug auf Identität und Beziehungen, Mobilität Egozentrismus, Überforderung, narzist. Krisen, Burn out, Hilflosigkeit, Abhängigkeit, Depressivität, Vereinsamung, Ängste, Somatisierung, Aggression
Die modernen Krankheiten - zwischen Realität, Dramatisierung und Krankheitsgewinn Burn-Out - als Produkt der Medien, Politik, Medizin und den Individuen Posttraumatische Belastungsstörungen Mobbing
Das medizinische Versorgungssystem Diagnostik Beeinflussung des Krankheitsverlaufs und der Behandlungserwartungen Interventionen Therapie AU Schreibung
Das Individuum Erleben von Befindlichkeitsstörungen, z.b. Erschöpfung, Schmerz, Schlafstörungen, depressiver Stimmung, Ängsten, Stress etc. Wie viel Störungen der Befindlichkeit sind normal? Leidensdruck, Krankheitskonzept, Selbstkonzept. Leistungskonzept, sekundärer Krankheitsgewinn Veränderungskonzept? Behandlungsmotivation? Chronisches Krankheitsverhalten?
Psychosoziale Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit Unzufriedenheit mit der Lebenssituation Selbstwertverlust Kontrollverlust geringes Aktivitätsniveau soziale Isolation/ Einsamkeit Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit Depressivität, Ängstlichkeit Resignation bis Apathie Jedwede psychischen Erkrankungen
Akteure im Versorgungssystem: Hausarzt/Fachärzte, ärztliche und psychologische Psychotherapeuten Krankenhaus, MDK, Rehabilitation, Ärzte der Agentur für Arbeit, Gutachter, Betriebsärzte, Krankenkassen, Rentenversicherer, Private Versicherungen, Gerichte, Rechtsanwälte, Sozialverbände Individuum fühlt sich widersprüchlichen Intentionen hilflos ausgesetzt, erlebt oft Willkür!
Chronisches Krankheitsverhalten Verlust in die Funktionsfähigkeit des eigenen Körpers (physische Bedrohung) Verlust an Vertrauen in die psychische Funktionsfähigkeit (Selbstwertbedrohung) Zunehmende Passivität und Hilflosigkeit, die zu körperlichem, psychischem und sozialem Schonverhalten führen Zunehmende Inanspruchnahme diagnostischer und therapeutischer Leistungen Zunehmende Abhängigkeit vom medizinischen Versorgungssystem bzw. vom Rehabilitationssystem
Motivationale Faktoren des Rentenwunsches Existenzsicherung Identitätsstiftende Funktion Individuelle und kollektive Entstigmatisierung Wiedergutmachung Reduktion von Depressivität und Hilflosigkeit Erfüllung von passiven Versorgungswünschen Sekundärer Krankheitsgewinn
Was nun? - Soziale Probleme auf der gesellschaftlichen Ebene lösen (Politik, Gewerkschaften, Medien, medizinisches Versorgungssystem), Risiken und etwaige Folgen differenziert betrachten und bewerten -Den Selbstlauf der ökonomischen Interessen der Akteure im Gesundheits- und Sozialsystem begrenzen -Die Probleme von Individuen ernst nehmen aber nicht unnötig pathologisieren, Selbstverantwortung und wirksamkeit stärken -Günstige psychosoziale Entwicklungsbedingungen fördern!