Egle/Zentgraf: Psychosomatische Schmerztherapie, 2. Aufl. (12/2015) 3.4 Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) und idiopathischer Gesichtsschmerz Einleitung Wie die Begriffe atypischer oder idiopathischer Gesichtsschmerz schon sagen, handelt es sich häufig um eine diagnostische Restkategorie, wenn die neurologische Abklärung eine typische Trigeminusneuralgie ausschließen konnte. Eine solche ist durch ihren blitzartigen einschießenden Schmerz im Bereich eines oder mehrerer Trigeminusäste diagnostisch relativ leicht zu erkennen. Auch die Schmerzintensität ist bei der Trigeminusneuralgie deutlich stärker. Beim anhaltenden idiopathischen Gesichtsschmerz besteht ein geringer bis mäßig starker Dauerschmerz (täglich bzw. die meiste Zeit des Tages) mit wechselnder Qualität (selten dumpf, meist brennend oder ziehend) und schwer zu lokalisieren (tief sitzend oder oberflächlich, ein- oder beidseitig). Der Schmerz ist im Unterschied zur Trigeminusneuralgie nie einem Nervenversorgungsgebiet zuzuordnen. Es liegen auch keine sensiblen Defizite und keine autonomen Begleitsymptome vor. Gelegentlich wird ein subjektives Schwellungsgefühl angegeben. Zu Beginn besteht häufig ein einseitiger Spontanschmerz (meist Oberkieferregion einseitig) oder die Schmerzen treten nach operativen Eingriffen (in 35 % zahnärztliche Behandlungen, in 10 % HNO- ärztliche Eingriffe), auch nach Verletzungen (z. B. Jochbeinfraktur) oder einhergehend mit Infektionen (Osteomyelitis, chronische Pulpitis) auf. Der Schmerz breitet sich dann im Verlauf aus und tritt schließlich beidseitig auf. Betroffen sind meist Frauen, häufig jüngeren Alters, die mit einem hohen Leidens- und Erwartungsdruck zur Behandlung kommen. Nicht selten haben sie schon mehrere Zahnextraktionen hinter sich, oft auf eigenes Drängen hin wegen der subjektiven Ursachenattribuierung. Die Ätiologie ist nicht geklärt. Häufig findet sich eine psychische Komorbidität (v. a. Angsterkrankung, Depression), bei bizarrer Symptomdarbietung ist auch an eine coenästhetische Psychose zu denken. Die Patienten von weiteren invasiven Maßnahmen abzuhalten ist deshalb ein wichtiges Behandlungsziel. Erforderlich sind dazu eine umfassende Aufklärung und die Behandlung der psychischen Grunderkrankung bzw. der Komorbidität mit spezifischer
Psychotherapie, gegebenenfalls Psychopharmaka und wenn indiziert, entsprechende Entspannungsverfahren. Die craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) gehört zu diesen atypischen Gesichtsschmerzen. Die betroffenen Patienten suchen meist Zahnärzte auf, da sie subjektiv den wahrgenommenen Schmerz als von den Zähnen verursacht erleben. Der Schmerzcharakter bei der craniomandibulären Dysfunktion unterscheidet sich grundlegend von der Trigeminusneuralgie: Es handelt sich um einen anhaltenden (über Tage oder Wochen) dumpfen und krampfartigen Schmerz, der schlecht lokalisierbar ist und bei dem auch keine sensiblen Defizite bestehen. Nicht selten werden Dys- bzw. Parästhesien im Gesichtsbereich in Form von Schwellungsgefühlen, Überwärmung oder Prickeln berichtet. Im Laufe der Zeit etabliert sich dann ein täglich bestehender Dauerschmerz, welcher in seiner Intensität jedoch variiert. Dass dabei Stress eine Rolle spielt, hat bereits der Volksmund verstanden: Augen zu, Zähne zusammenbeißen und durch, sich an etwas festbeißen, zerknirscht sein, verbissen, Probleme durchkauen, jemandem die Zähne zeigen. Auch bei J. W. Goethe (1767) taucht dieser Zusammenhang bereits auf:... denn wenn man knirscht, kann man nicht weinen. Epidemologie Die 12- Monats- Prävalenz liegt weltweit bei 10 12 %, von denen etwa die Hälfte als behandlungsbedürftig gilt. Frauen sind etwas stärker betroffen als Männer, wobei bei jenen, die sich deshalb in Behandlung begeben, das Verhältnis Frauen zu Männer bei 8:1 liegt! Der Altersgipfel liegt bei 40 50 Jahren. Pathogenese Es lassen sich unterschiedliche Entstehungsmechanismen unterscheiden: Myofaszialer Schmerz infolge muskulärer Verspannungszustände (z. B. nächtliches Knirschen oder Pressen),
Kiefergelenkschmerzen infolge einer Schädigung des Kiefergelenks (z. B. Arthrose), Gesichtsschmerzen im Rahmen systemischer körperlicher Erkrankungen (z. B. Multiple Sklerose, rheumatoide Arthritis), Gesichtsschmerzen infolge einer psychischen Erkrankung (z. B. Angsterkrankung, somatoforme Störung). Auch bei der CMD ist zur Ätiopathogenese noch Vieles ungeklärt. Seit einigen Jahren wird versucht, dies in einer prospektiven Studie (OPPERA) zu klären (vgl. Maixner et al 2011). Aus einer Population von >2700 Menschen erkrankten in einem mehrjährigen Beobachtungszeitraum 260 an einer CMD. Hinsichtlich genetischer Disposition konnten keine Polymorphismen identifiziert werden (Smith et al 2013). Von den erhobenen psychologischen Variablen hat nur eine bereits zuvor bestehende Neigung zur Somatisierung eine Prädiktorfunktion (Fillingim et al 2013) In einer Reihe von Studien wurde festgestellt, dass auch außerhalb des trigeminalen Versorgungsgebietes bei diesen Patienten eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit auf im Labor induzierte Reize besteht (Maixner et al., 1998, Sarlani und Greenspan, 2005). Belegt werden konnte auch eine nicht hinreichende Aktivierung schmerzhemmender Systeme (Bragdon et al., 2002). Die direkte Verknüpfung mit einer Dysfunktion des Stressverarbeitungssystems gelang durch Untersuchungen des Cortisol- Spiegels, welcher bei CMD- Patienten tagsüber um 30 50 % erhöht war. Weitere Hinweise auf eine Stressverarbeitungsstörung ergeben sich auch aus den Ergebnissen einer Metaanalyse zur Bedeutung kindlicher Traumatisierung für die Entwicklung funktioneller Syndrome (Afari et al 2014): die Vulnerabilität für eine CMD wurde dadurch um das 3,3- fache gesteigert. Klinisches Bild Bei der Untersuchung des Gesichtsbereiches imponieren Schmerzen bei Palpation der Kaumuskulatur, der Kiefergelenke oder bei Unterkieferbewegungen. Es besteht meist eine eingeschränkte Unterkiefermotilität. Auch sind bei Bewegung des Unterkiefers Gelenkgeräusche zu hören. Die Schmerzsymptomatik ist typischerweise einseitig, kann jedoch vereinzelt auch beidseitig sein. Vom Patienten wird sie als dumpf und ziehend beschrieben. Häufig strahlen die Schmerzen aus dem Gesichtsbereich in den Bereich der Schläfen, des Kopfes sowie der Hals- und Schulternackenregion aus. Oft bestehen auch
zusätzliche muskuloskelettale Beschwerden in anderen Bereichen (z. B. HWS- und LWS- Bereich). Weitere Beschwerden können sein: Lidödeme, Faszikulationen der Lider, Hypästhesie (laterale Gesichtsanteile), Globusgefühl, Schluckbeschwerden, Tinnitus. Die Abgrenzung eines myofaszial bedingten Gesichtsschmerzsyndroms von einem arthrogenen ist für den Fachmann meist nicht sehr schwierig. Schmerzen, welche durch das Kiefergelenk ausgelöst werden, sind in der Regel einseitig umschrieben lokalisiert und auch reproduzierbar. Ihr Auftreten korreliert mit Bewegungen des Kiefergelenks. Ausgelöst werden kann die Gesichtsschmerzsymptomatik durch Zahnextraktionen mit der Folge einer okklusalen Disharmonie. Bei der großen Mehrheit der Patienten spielt jedoch zusätzlich oder auch alleine psychosozialer Stress eine wesentliche Rolle. Letzterer schlägt sich dann in Form von Parafunktionen, d. h. Zähneknirschen und/oder - pressen nieder. Dies führt irgendwann zu einer Muskelermüdung und damit verbunden zu einer Abnahme der Kontraktionsfähigkeit. Typisch für diese Patienten sind auch hohe Angst- und Depressionswerte in entsprechenden Screening- Tests (z. B. HADS). Allerdings können auch anankastische Persönlichkeitsstile (Perfektionismus, überzogene Leistungsorientierung, Unterdrückung von Gefühlen, ausgeprägte Aggressionshemmung, ausgeprägtes Kontrollverhalten) und dadurch selbstverursachter innerer Stress die Ursache sein. Bei genauer Beobachtung kann man die im Laufe der Zeit entstehende Hypertrophie der Gesichtsmuskulatur ( Nussknacker- Phänomen ) oder auch eine ausgeprägtere Asymmetrie des Gesichtes infolge einer chronischen Parafunktion von Unter- und Oberkiefer beobachten. Therapie Zunächst ist es wichtig, den Patienten über die dargestellten Zusammenhänge aufzuklären und ihn ein Schmerztagebuch führen zu lassen, das auch die alltäglichen Belastungen abbildet. Durch einen Stress- Test mit Hilfe eines Biofeedback- Geräts kann
dem Patienten auch seine verstärkte Reaktion der Gesichtsmuskulatur auf Stress demonstriert werden. Biofeedback ist auch die Methode der Wahl als Entspannungsverfahren und in seiner Wirksamkeit bereits seit langem gut belegt (Crider u. Glaros 1999). Ist dies nicht möglich, sollte dem Patienten die Durchführung von progressiver Muskelrelaxation (PMR) vermittelt werden. Seitens der Physiotherapie gibt es eine spezielle CMD- Therapie, in deren Rahmen der Patient bei einem speziell für CMD- Behandlung fortgebildeten Physiotherapeuten auch Übungen erlernen kann, um sie dann regelmäßig zuhause selbst durchzuführen. Medikamentös kann ein Behandlungsversuch mit Amitriptylin (25 50 mg) durchgeführt werden. Analgetika und Antiphlogistika können ebenfalls versucht werden, bringen jedoch meist keine wesentliche Schmerzlinderung. Zur Überbrückung können auch Muskelrelaxanzien zur Anwendung kommen; auf Benzodiazepine sollte dabei jedoch verzichtet werden. Sehr hilfreich ist es, den Patienten zur regelmäßigen Durchführung eines Ausdauersports zu motivieren. Daneben können Aufbissschienen von zahnärztlicher Seite eingesetzt werden, wobei bisher kein sicherer Wirknachweis für diese Behandlung besteht (Al- Ani u. Grey, 2007). Auch für okklusale Einschleifmaßnahmen oder andere adaptive Interventionen seitens des Zahnarztes gibt es bisher keinen sicheren Wirknachweis, weder präventiv noch therapeutisch (Koh u. Robinson, 2003), obwohl sie bis heute sehr verbreitet sind. Bei der Auswahl des Psychotherapieverfahrens sollte die zugrunde liegende psychische Problematik berücksichtigt werden: Liegt eine Angsterkrankung zugrunde, so sollte Angstbewältigungstraining bzw. bei einer sozialen Phobie eine entsprechende störungsspezifische Therapie durchgeführt werden. Bei Patienten mit anankastischer Persönlichkeitsstörung ist ein Achtsamkeitstraining und gegebenenfalls auch ein Genusstraining sinnvoll. Perfektionismus und die damit verbundene Art, mit sich und mit anderen umzugehen, erkennen solche Patienten am ehesten im Rahmen einer interaktionellen Gruppenpsychotherapie. Unter stationären Rahmenbedingungen kann auch Musiktherapie einen wesentlichen Beitrag beim Zugang zu den oft verschütteten Emotionen leisten. Insgesamt ist die Behandlung der craniomandibulären Dysfunktion (CMD) multimodal zu konzipieren, wobei es um die gezielte Kombination der in Studien in ihrer Wirksamkeit belegten Therapieansätze geht. Diese liegen üblicherweise außerhalb des Tätigkeitsbereichs des Zahnarztes.
Literatur Afari N, Ahumada SM, Wright LJ, Mostoufi S, Golnari G, Reis V, Cuneo JG. Psychological trauma and functional somatic syndromes: A systematic review and meta- analysis. Psychosom Med 2014; 76: 2 11. Al- Ani Z, Gray R (2007) TMD current concepts: 2. Imaging and treatment options. An update. Dent Update 34:356 358, 361 364, 367 370 Bragdon EE, Light KC, Costello NL, Sigurdsson A, Bunting S, Bhalang K, Maixner W (2002) Group differences in pain modulation: pain- free women compared to pain- free men and to women with TMD. Pain 96:227 237 Crider AB, Glaros AG. A meta- analysis of EMG biofeedback treatment of temporomandibular disorders. J Orofac Pain. 1999; 13: 29-37. Fillingim RB, Ohrbach R, Greenspan JD, Knott C, Diatchenko L, Dubner R, Bair E, Baraian C, Mack N, Slade GD, Maixner W. Psychological factors associated with development of TMD: the OPPERA prospective cohort study. J Pain. 2013; 14 (12 Suppl):T75-90. Koh H, Robinson PG (2003) Review. Occlusal adjustment for treating and preventing temporomandibular joint disorders. Cochrane Database Syst Rev (1):CD003812 Maixner W, Fillingim R, Sigurdsson A, Kincaid S, Silva S (1998) Sensitivity of patients with painful temporomandibular disorders to experimentally evoked pain: evidence for altered temporal summation of pain. Pain 76:71 81 Maixner W, Diatchenko L, Dubner R, Fillingim RB, Greenspan JD, Knott C, Ohrbach R, Weir B, Slade GD. Orofacial Pain Prospective Evaluation and Risk Assessment study the OPPERA study. J Pain. 2011; 12: T4 T11. Sarlani E, Greenspan SD (2005) Why look in the brain for answers to temporomandibular disorder pain? Cells Tissues Organs 180:69-75. Smith SB, Mir E, Bair E, Slade GD, Dubner R, Fillingim RB, Greenspan JD, Ohrbach R, Knott C, Weir B, Maixner W, Diatchenko L. Genetic variants associated with development of TMD and its intermediate phenotypes: the genetic architecture of TMD in the OPPERA prospective cohort study. J Pain. 2013; 14(12 Suppl): T91-101.
Weiterführende Literatur Wolowski A, Demmel J (2008) Psychosomatische Medizin und Psychologie für Zahnmediziner. Schattauer, Stuttgart