Medikamentenabhängigkeit



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Transkript:

Medikamentenabhängigkeit Die stille Sucht der Frauen? Uta Pietsch Hans-Berger Kliniken des Universitätsklinikums Jena Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

WICK MediNait Erkältungssirup: Paracetamol, Dextromethorphan, Doxylamin, Ephedrin

Dulcolax Dragées, Dulcolax Zäpfchen: Wirkstoff: Bisacodyl

Über welche Medikamente reden wir heute? Medikamente mit Missbrauchs-/ Abhängigkeitspotenzial nach ICD 10 Opioide Sedativa und Hypnotika (Beruhigungs-und Schlafmittel) insbes. Benzodiazepine, die 3 Z-Substanzen Stimulanzien einschl. Koffein Amphetamin, Ephedrin Missbrauch von nichtabhängigkeitserzeugenden Substanzen Antidepressiva Laxantien Analgetika Antacida Vitamine Steroide oder Hormone bestimmte pflanzliche oder Naturheilmittel Sonstige wie Diuretika Lt. Glaeske (1999) haben außerdem Abhängigkeitspotenzial Kleine Analgetika (ASS, Ibuprofen, Metamizol, Paracetamol, Propyphenazon) Migränemittel (Ergotamin, Dihydroergotamnin)

Besonderheiten von Medikamentenabusus/ -abhängigkeit Medikamente primär gegen Krankheiten gerichtet Sucht sekundär Grundkrankheit besteht oft fort- Therapiechancen der Suchtkrankheit? Rückfallgefahr? Einbettung in das Medizinsystem auch Missbrauch von Stoffen ohne psychische Wirkkomponente (z.b. Abführmittel) dem Suchtpotenzial steht potenzieller therapeutischer Nutzen gegenüber Ökonomische Aspekte für Betroffene wenig wichtig Soziale und juristische Bewertung anders als bei anderen Suchtstoffen nach Entstehung der Abhängigkeitserkrankung wird oft Verantwortlicher oder Verursacher gesucht

Risikogruppen für Medikamentenabhängigkeit manifeste oder wahrscheinliche Suchterkrankung chronische Schlafstörungen chronische Angststörungen chronische somatische Erkrankungen (Schmerzsyndrome) Geschlecht Alter

Warum werden so viel Frauen medikamentenabhängig? Frauen sind anders gesund oder krank als Männer (Handbuch der DHS Gemeinsam mehr erreichen ) - Frauen sind gesundheitsbewusster - suchen häufiger Ärzte auf und nutzen mehr Präventionsangebote - Frauen leben im Schnitt 5 Jahre länger als Männer - Frauen bewerten ihren Gesundheitszustand schlechter Frauen nehmen mehr Arzneimittel (Arzneiverordnungsreport 2014) - 2013 bekamen Frauen 592 Tagesdosen (18 % mehr als Männer) - 54% mehr Psychopharmaka - 56% mehr Analgetika

Warum nehmen Frauen häufiger Medikamente? - aufgrund von Krankheiten, die bei Frauen häufiger sind (Depressionen, Schlaf- und Angststörungen, Osteoporose, SD- Erkrankungen, chronische Schmerzen) - Frauentypische Belastungen Familie + Beruf, Arbeitsbedingungen in frauentypischen Berufen Pflege für Partner, Kinder, Angehörige zu geringe Selbstfürsorge Harmoniebedürfnis - Medikamente in allen Lebenslagen (rund um die Fortpflanzung, Wechseljahre) - Häufige Arztbesuche

Daten: Der Suchtsurvey - Repräsentativerhebung zum Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen - seit 1980, Institut für Therapieforschung München - Personen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren - Im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums, seit 1980, all 2-5 Jahre - 2000 erstmals Kurzfragebogen zum Medikamentengebrauch verwendet: Cut off von 4=problematischer Medikamentenkonsum Ergebnisse 2012 - In D. sind geschätzt 2,3 Mill. medikamentenabhängig - veröffentlicht u.a.in Kraus et al., Substanzkonsum u. substanzbezogene Störungen: Trends in Deutschland 1980-2012 in Sucht 59 (6), 2013, 333-345

Kurzfragebogen zum Medikamentengebrauch (KfM) Frage nach Gewohnheiten und Schwierigkeiten, die bei der Einnahme von Medikamenten auftreten können, nur für Medikamente, die genommen werden um: - besser schlafen zu können - ruhiger zu werden - leistungsfähiger zu werden - sich wohler zu fühlen - weniger Schmerzen zu haben - körperliche Vorgänge zu regulieren Prüfen Sie bei jeder Feststellung, ob diese auf Sie zutrifft oder nicht. Kreuzen Sie dann das entsprechende Kästchen an. Bitte antworten Sie bei jeder der Feststellungen, lassen Sie keine davon aus.- Ohne Medikamente kann ich schlechter schlafen. - Ich habe mir sicherheitshalber schon einmal einen kleinen Tablettenvorrat angelegt. - Zeitweilig möchte ich mich von allem zurückziehen. - Es gibt Situationen, die schaffe ich ohne Medikamente nicht. - Andere glauben, daß ich Probleme mit Medikamenten habe. - Die Wirkung meiner Medikamente ist nicht mehr so wie am Anfang. - Weil ich Schmerzen habe, nehme ich oft Medikamente. - In den Zeiten erhöhter Medikamenteneinnahme habe ich weniger gegessen. - Ich fühle mich ohne Medikamente nicht wohl. - Manchmal war ich erstaunt, wieviel Tabletten ich an einem Tag eingenommen habe. - Mit Medikamenten fühle ich mich oft leistungsfähiger bei zutreffend je 1 Punkt Bewertung: 3-4 Punkte - Verdacht auf chronischen Medikamentenkonsum ab 5 Punkte - chronischer Medikamentenkonsum Autoren: Dr. H. Watzl et al.

Trends der mindestens wöchentlichen Einnahme von Schmerzmitteln in den letzten 30 Tagen; * p <.05 für den Vergleich mit Referenzjahr 2012; logistische Regression zur Vorhersage der Prävalenz mit Jahr, Erhebungsmodus.

Trends der mindestens wöchentlichen Einnahme von Schlafmitteln in den letzten 30 Tagen; * p <.05 für den Vergleich mit Referenzjahr 2012; logistische Regression zur Vorhersage der Prvalenz mit Jahr, Erhebungsmodus

Trends der mindestens wöchentlichen Einnahme von Beruhigungsmitteln in den letzten 30 Tagen; * p <.05 fr den Vergleich mit Referenzjahr 2012; logistische Regression zur Vorhersage der Prvalenz mit Jahr, Erhebungsmodus

Trends substanzbezogener Störungen nach DSM IV für 18-59 Jährige, 1997-2012 in Prozent 12 Monatsprävalenz Männer Frauen 1997 2000 2006 2009 2012 1997 2000 2006 2009 2012 Alkohol Mißbrauch 5,4 6,3 5,3 1,5 1,2 1,8 Abh.keit 4,2 4,5 4,0 5,2 1,0 1,2 1,5 2,1 Tabak Abh.keit 8,5 11,1 8,6 10,4 6,2 8,5 7,2 7,7 Cannabis Mißbrauch 0,7 1,2 0,8 0,3 0,2 0,2 Abh.keit 0,7 0,5 0,7 0,8 0,1 0,2 0,3 0,2 Analgetika Abh.keit 1,8 2,5 2,7 3,4 Schlafmittel Abh.keit 0,6 0,7 0,3 0,7 Beruhig.mittel Abh.keit 0,5 1,0 0,6 1,1

Daten: Suchtkatamnese Südniedersachsen (Poser und Poser) - Pat. die zw. 1.7.1974 und 30.06.1994 in den Kliniken für Psychiatrie und Neurologie der Universität Göttingen behandelt wurden - Stat. und ambulante Pat., Konsilpat., GA-Pat. - Therapiepatienten, Therapieverweigerer und Krankheitsverleugner - alle Abhängigkeitsdiagnosen außer Nikotin, nur 1/3 der Alk. Abhängigen - bis 2002 2892 Fälle - mittlere Katamnesedauer 9,6 Jahre - Medikamentenabhängigkeit: Erstmanifestation um 40 Lj. hoher Frauenanteil seltene TN an Selbsthilfegruppen und Therapiegruppen

Daten: Norddeutscher Medikamentenmonitor (Holzbach et al.) - Routinedaten eines Apothekenrechenzentrums: Stichprobe von ca. 16 Mill. Personen - Machbarkeitsstudie Verfolgung jedes BZD- und Non-BZD-Rezeptes (zw. 01.07.2005 und 30.06.2006 ausgestellt) - 896122 Personen erhielten auf 3.496.764 Rezepten mind. 1 BZD (78,4 %) oder Non-BZD (24,3%) - Einzelpatient erhielt im Pat.jahr ca. 3,9 Rezepte mit 897,5 mg Diazepam-Äquivalent - 52,4% erhielten Folgerezepte ein Pat. dieser Gruppe erhält ca. 6,5 Rezepte und 10 fache Diazepam-ÄD gegenüber Pat. mit Einzelrezepten - Nur sehr kleiner Anteil betrieb Ärztehopping - F:M=70:30 - Problematischer Dauerkonsum: >70 Jahre 25 %, Jüngere ca. 10% - Aufhörer bei Stufe gelb (länger als 6 Monate, 3,33mg DÄ tgl., Wirkumkehr) 25% - Aufhörer bei Stufe schwarz (länger als 6 Monate, über 15 mg DÄ tgl., Sucht) 4%

Daten: Drogen- und Suchtbericht 2015 illegaler Drogen (Opiate, Amphetamine, Kokain) jährlich 200.000 Personen Cannabis: missbräuchlicher o. abhängiger Konsum 600.000 Personen Alkoholabhängigkeit: 1,77 Millionen Personen (zw. 18- und 64 Jahren) Medikamentenabhängigkeit: 2,3 Millionen Personen (zw. 18- und 64 Jahren) Lt. DHS 1,1-1,2 Mio. Abhängige von Benzodiazepinen Medikamenten-Missbrauch: 4,61 Millionen Personen Lt. DHS: in psychiatrischen Kliniken Häufigkeit Mißbrauch von BZD: 2,4% bis 18,5 % retrospektiv anhand E-Briefe 0,5% prospektiv gezielte Befragung 18,5% Hochdosis-Abhängigkeit: zu 4,7%

Daten: Sedativa und Hypnotika Daten aus Arzneimittel im Blickpunkt und von Gründer 2008 Benzodiazepine Verordnung zu Lasten der GKV 1993 11 Mio. 2004 2,5 Mio. Abgabe durch Apotheken 12,7 Mio. 5,6 Mio Z-Substanzen Verordnung zu Lasten der GKV 1993 2,1 Mio. 2004 3,8 Mio. Abgabe durch Apotheken 2,2 Mio. 7,4 Mio. Hoffmann, Schmiemann, Windt: Privat statt Kasse? Einstellungen von Hausärzten und Apothekern zur Verordnung von Hypnotika (Dt. Med. Wochenschrift 2014, 139:1152-8) Anlass für Privatrezepte für GKV-Versicherte: Vorgaben der Arzneimittel-Richtlinie, Wunsch des Pat 80,4% der 458 Befragten halten Z-Drugs für effektiver und nebenwirkungsärmer einschließlich des Abhängigkeitspotenzials

Daten: Arzneimittelverordnungsreport der GKV Zunahme der Verordnungen über die Lebensspanne *Für die Schmerzmittel (Analgetika/Antirheumatika) decken diese Zahlen nur den geringeren Teil des tatsächlichen Gebrauchs ab, da viele Schmerzmittel frei verkäuflich sind. Zur Selbstmedikation werden jährlich weit über 100 Mio. Packungen Schmerzmittel verkauft, im Jahr 2003 waren es 127 Millionen. Dagegen wurden 31 Mio. verordnungspflichtiger Schmerzmittel abgegeben. Quelle: Arzneimittelverordnungsreport 2004

Prävalenz des Konsums psychoaktiver Substanzen und Zahl der jährlichen Behandlungsfälle in Deutschland Gerhard Bühringer, Ludwig Kraus, Rita Augustin (2002a; zuletzt aktualisiert am 14.11.2002)

Problematischer Konsum entwickelt sich im Zusammenwirken von: Individuum mit Frustrationstoleranz, Ich-Stärke, neurotische Entwicklung, Vulnerabilität, biologische Faktoren Angebot, Wirkung, Verfügbarkeit, Dosis, Applikationsart, Suchtpotenz Sozialfeld, broken home. Elterliches Vorbild, Erziehung, Gruppenzwang, Setting, Konsumgesellschaft, Freizeitvakuum, Konflikte, Ideologie,

Suche nach Betäubung Schmerzlinderung Schmerzlinderung Unmittelbare Suchtmotive Langeweile Reizhunger/ Erlebnissuche Lösung von Verstimmungszuständen Einsamkeit Leistungssteigerung

Richtige Verschreibungspraxis als Prävention??? Wie verordnen? Verordnungsempfehlungen an Ärztinnen und Ärzte Hinweise zur Behandlung von Patienten mit schädlichem Medikamentengebrauch oder Medikamentenabhängigkeit Klare Indikation Korrekte Dosierung Kurze Anwendung Kein abruptes Absetzen

Diagnostik der Medikamentenabhängigkeit in Frühstadien schwierig, besonders erschwert durch krankheitstypische Verheimlichung und Dissimulation,... Anamnese, Anamnese Anamnese möglichst exakte Quantifizierung des aktuellen Medikamentenkonsums zeitliche Entwicklung (Dosissteigerung?) Art der Dosierung und Einnahmegewohnheiten subjektiv erlebte Wirkung Umgang mit Medikamenten (ständige Verfügbarkeit?) Was passiert (real/in sensu) wenn Med. nicht genommen werden? Welches Krankheitsmodell haben Patienten selbst? Med.-Funktion? verschiedene Medikamente? mit Alkohol? andere Suchtstoffe? subjektiv erlebte NW? objektivierbar? Bedeutung der Fremdanamnese! Toxikologie

Formen des Konsums normaler und therapeutischer Konsum problematische Medikamenteneinnahme Merkmale eines unterhalb der diagnostischen Schwelle zu definierenden schädlichen oder abhängigen Konsums (2003 4,3%) Analgetika an der Spitze WHO: akute Intoxikation (meist suizidal oder akzidentell) schädlicher Gebrauch Abhängigkeitssyndrom

"problematischer Konsum - indirekte Zeichen Medikamentenbeschaffung durch Dritte Beschaffung durch Privatrezept bei GK-Versicherten Rezeptfälschungen, Medikamentenerschleichungen Medikamentendiebstähle Kritiklose Euphorie o. dysphorisch-depressive Verstimmung Umschlag der Wirkung Wurstigkeit, Kritikverlust, affektive Nivellierung etc. als Medikationsfolge Konzentrationsstörungen, Amnesien und Verwirrtheit Scheinbar unerklärliche, typische Intoxikationen (Ataxie, Dysarthrie, Nystagmus) Appetitstörungen, eher im Sinne von Appetitmangel Verwahrlosungszeichen mit mangelhafter Körperpflege typische Trias : affektiver Indifferenz + kognitiv-mnestische Defizite + körperliche Schwäche mit wachsender Lebenszeit-Dosis - Ausmaß der Folgeerscheinungen

Schädlicher Gebrauch (früher Mißbrauch ) ICD-10

Schädlicher Gebrauch (früher Mißbrauch ) ICD-10 Konsummuster, das zu einer physischen oder psychischen Gesundheitsschädigung führt (z.b. Unfälle) isolierter schädlicher Gebrauch (ohne Abhängigkeit) ist selten

Abhängigkeit ICD-10

Abhängigkeit ICD-10 3 oder mehr Kriterien im letzten Jahr gleichzeitig Starker Wunsch oder Zwang zur Einnahme Verminderte Kontrollfähigkeit bzgl. Beginn, Beendigung, Menge des Konsums Körperliches Entzugssyndrom Toleranzentwicklung Fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums Anhaltender Konsum trotz Nachweises eindeutig schädlicher Folgen

Geschichte der BZDe - eine Erfolgsstory? 1957 Chlordiapzepxid durch Steinbach entdeckt kam 1960 als Librium auf den Markt bereits 1 Jahr danach Anhalt für Suchtpotenzial 1963 Diazepam 1969 meistverordnetste AM ab 1977 auf der Liste der unentbehrlichen AM lt. WHO 1970er Jahre Boom der BZDe heute mehr als 100 BZD-Präparat in D. Z-Substanzen 1986 Zopiclon, 1991 Zolpidem, 1999 Zalepon - chemisch Nicht-BZD-Hypnotika - Einschlafmittel - zunächst stiegen Abhängige von anderen Stoffen auf diese Substanzen um - primär wurde geringeres Suchtpotenzial gesehen WHO hat das Missbrauchs und Abhängigkeitspotenzial seit Jahren auf die gleiche Stufe wie das der BZDe gestellt (Schwabe und Paffrath, 2008)

Lippstädter Benzo-Check für Patienten (R. Holzbach) 1. Erleben Sie eine Abschwächung Ihrer Gefühle bis hin zu einer depressiven Verstimmung? 2. Ist Ihre Konzentrations- und/ oder Merkfähigkeit gestört? 3. Fehlt Ihnen körperliche Energie? 4. Leiden Sie unter Schlafstörungen? 5. Haben Sie Ängste? 6. Schwanken Ihre Gefühle innerhalb eines Tages deutlich? 7. Reagieren Sie überempfindlich auf Sinnesreize (z.b. blendet Licht, werden Geräusche rasch als Lärm empfunden)? 8. Nehmen Sie das Medikament aus anderen als den ursprünglichen Gründen und Anlässen (z.b. das Schlafmedikament tagsüber, wenn Sie gar nicht schlafen wollen)? 9. Stolpern Sie ohne ersichtlichen Grund, oder sind Sie gestürzt? 10. Nutzen Sie zusätzliche Quellen zur Beschaffung des Medikaments (z.b. andere Ärzte, Dritte, Internet, ) und/oder meiden Sie das Thema Medikamenteneinnahme und/oder nehmen Sie das Mittel heimlich ein und/oder bagatellisieren Sie die eingenommene Menge? 11. Haben Sie die Dosis gesteigert, weil die Wirksamkeit des Medikaments nachgelassen hat? 12. Sind Sie auf das Medikament fixiert (z.b. verlassen Sie das Haus nicht mehr ohne ) und/oder stehen Sie einer Reduktion oder dem Absetzen des Medikaments skeptisch gegenüber? Jeweils 5 Antwortmöglichkeiten: meist von 0-4 Punkten, Frage 7,9,10, 12 bis zu 8 Punkte

Auswertung 0 12 Punkte Noch keine sicheren, typischen Folgeerscheinungen Sie sollten die Gefahren der Langzeiteinnahme kennen (die in den Fragen angesprochenen Veränderungen) und sich über alternative Behandlungen informieren. Entscheiden Sie dann mit Ihrem Arzt, wie weiter vorzu gehen ist. 13 24 Punkte: Die Summe der Veränderungen kommt wahrscheinlich von der Einnahme der Benzodiazepine / Non-Benzodiazepine. Die Fortführung der Einnahme ist problematisch. Das Absetzen der Medikamente ist Ihnen an zu raten, die Weiterverschreibung sollte auf jeden Fall befristet werden. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt. Setzen Sie nicht alleine und niemals schlagartig die Medikamente ab. 25 und mehr Punkte: Die Veränderungen kommen mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Langzeiteinnahme der Benzodiazepine / Non-Benzodiazepine. Ein ambulanter oder stationärer Entzug ist Ihnen dringend an zu raten. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt. Setzen Sie nicht alleine und niemals schlagartig die Medikamente ab.

Probleme bei Einnahme von Benzodiazepinen: Lange Halbwertszeiten und Kumulation Kumulation von Diazepam (HWZ ca. 150 Stunden und tägliche Einnahme von 20 mg Diazepam - Menge an Diazepam im Körper erhöht sich auf ca. 150 mg) R. Holzbach, Der Benzodiazepinentzug und dessen Behandlung, Suchttherapie 2006; 7(3): 97-106

Folgestörungen bei Medikamentenabusus und -abhängigkeit Körperliche Folgestörungen reduzierter Allgemeinzustand Erkrankungen: des Magen-Darm-Traktes (mit Bauchspeicheldrüse), der Stoffwechselorgane (Leber, Niere) des Herz-Kreislaufsystems der Knochen von Gehirn und Nervenzellen (PNP) Infertilität und Embryopathie Psychische Folgen Abwehr und Bagatellisieren Persönlichkeitsabbau mit Kritiklosigkeit und Wesensänderung Hirnleistungsminderung mit mnestischen und Konzentrationsstörungen bis zur Demenz Suizidalität toxische, posttoxisch induzierte und mobilisierte sowie entzugsbedingte Psychosen Soziale Folgen stille, langzeitig kaum auffällige Sucht Partnerschaft und Kindererziehung Probleme infolge zunehmender Leistungsminderung Rückzug und Isolation Fahruntauglichkeit sozialer Abstieg EU Beschaffungskriminalität

Dringende Indikationen für einen Entzug bei manifesten Folgen des Medikamentenkonsums wie medikamenteninduzierter Kopfschmerz medikamenteninduzierte Depression Einschränkung von Gedächtnis und Merkfähigkeit Gefühlsverflachung Muskelschwäche Koordinationsstörungen Voraussetzungen für den Entzug vorherige Abklärung der Motivation und -compliance gemeinsames Abwägen der Vor- und Nachteile des Entzugs Einverständnis einholen Aufklärung über mögliche Entzugserscheinungen

Durchführung des Medikamentenentzugs Wirkstoffgruppe Durchführung des Entzugs Mögliche Begleiterscheinungen Benzodiazepine Niedrigdosisabhängigkeit Tgl. Einnahme von bis zu 20 mg Diazepamäquivalent Ambulanter Versuch möglich, Ersatz kurz wirksamer durch lang bzw. mittellang wirksame BZDe und stufenweise Dosisreduktion über mehrere Wochen Schlafstörungen, Unruhe- und Angstzustände, gesteigerte Erregbarkeit Hochdosisabhängigkeit Immer stationärer Entzug, Procedere wie oben + Antiepileptika, ggf. + Antidepressiva Gefahr von epileptischen Anfällen Benzodiazepin-Analoga Umstellung auf lang bzw. mittellang wirksame BZDe und stufenweise Dosisreduktion Schlaflosigkeit, Angstzustände Opiate und Opioide Opiate in der Schmerztherapie Schwierig, problematisch, selten lebensbedrohlich gestuftes Herabdosieren, begleitende Symptombehandlung Intensive Gier (Opiathunger), motorische Unruhe, Schwitzen, Gänsehaut, Erbrechen, Durchfall, Muskelkrämpfe, Schlaflosigkeit, Niesen, Tränenfluss, Schmerzen im Bauchraum, RR- Krisen Illegale Opiate stationärer Entzug Wie bei Opiate in der Schmerztherapie Mischanalgetika völliges Absetzen des Medikaments, begleitende Symptombehandlung, ggf. stationärer Entzug Kopfschmerzen, Migräneanfälle

Das BZD-Entzugssyndrom ICD 10 Mind. 3 Symptome DSM IV Mind. 2 Symptome Laux et al. (1985) n=61 Übelkeit, Erbrechen ja Ja Krankheitsgefühl und Schwäche ja - Kopfschmerzen ja - Schlafstörungen ja ja 74% Angst - ja 49% Tremor ja ja 46% Schwitzen - ja 44% Schwindel, Tachykardie ja ja 34% KL-Störungen (Hypotonie) ja - 10% Unruhe ja Ja Halluzinationen, Illusionen ja ja Paranoide Vorstellungen ja - Delir ja - 10% Krampfanfälle ja ja 2%

Entzug von Sedativa und Hypnotika Entzugssymptome 1-7 d nach Absetzen Dauer je nach Dosis und HWZ Tage bis Wochen (gel. Monate) von wiederkehrenden Symptomen der Grundkrankheit unterscheiden (Zeitverlauf!) Motivation zum Entzug (insbes. bei Niedrigdosisabhängigkeit) schwierig motivierende Gesprächsführung Nutzen-Risiko-Abwägung bei Niedrigdosiabhängigkeit vor Entzug Kriterien: Wirkverlust / Wirkumkehr Gefahr für / manifeste Folgeerscheinungen des Konsums Behandelbarkeit der (vermuteten) psychischen Grundstörung Alter der betroffenen Person Veränderungsbereitschaft / -möglichkeit der betroffenen Person Allgemeinverfassung der betroffenen Person Ggf. auch teilweise Weiterbehandlung bis zum Lebensende Langsames - sehr langsames Abdosieren erhöht Erfolgswahrscheinlichkeit erfolgreicher BZD-Entzug hängt von Compliance und Selbstwirksamkeitserwartung ab Erfolgsraten (Abstinenz nach > 1 Jahr) von 30-50% erreicht

Therapie Weitere Hilfen: Beratung zu Schlafhygiene Empfehlung zur körperlichen Aktivität Motivierung für Suchtberatung/ Selbsthilfe ggf. Motivierung zu einer stationären Behandlung (Entgiftung, Entwöhnung)

Sonderfall: Medikamenteninduzierter Kopfschmerz (MIK) Jedes Medikament zur akuten Kopfschmerzbehandlung kann bei chronischer Gabe Entzugskopfschmerzen induzieren Mittlere Schwellendosis einiger Analgetika zur Ausbildung eines MIK ASS: > 45 g pro Monat (regelmäßig 3 Tbl. pro Tag) Paracetamol: > 45 g pro Monat (regelmäßig 3 Tbl. pro Tag) Ibuprofen oder andere NSA: Äquivalente Dosierungen zu ASS (400 mg Ibuprofen entsprechen 500 mg ASS) Kombinationspräparate (mit Barbiturat, Koffein, Kodein u.a.): mind. 100 Tbl pro Monat Ergotamin: 6 mg pro Woche; pro Migräneattacke mehr als 4 mg Triptane Sumatriptan: tgl > 100 mg per os oder 6 mg s.c., > 10 Tage pro Monat Häufigkeit und Bedeutung 5 8 % aller Kopfschmerzpatienten über 100 000 Deutsche, Frauen 5-10 mal häufiger als Männer

Diagnostische Kriterien eines MIK Symptomatik: Dumpf-drückender Dauerkopfschmerz am Tage Einnahme tgl. Dosen einer Substanz Kritische Grenze: an 15 Tagen/Monat Substanzeinnahme individuell sehr variabel! Kopfschmerzen an mind. 15 Tagen/Monat Auftritt nach mind. 3monatiger Medikamenteneinnahme Kopfschmerzbesserung innerhalb 4 Wochen nach Absetzen

Therapieerfolg und Prognose Prognose günstig Isolierte BZD-Abhängigkeit: von 51 waren 33 abstinent nach mind. 1 Jahr Vermehrte Todesursachen bei isoliert Medikamentenabhängigen: Unfall und Suizid (zumeist in der Intoxikation) Relative Übersterblichkeit (Mortalität) im Vergleich Normalbevölkerung 1,0 Medikamente 1,97 Medikamente +Alkohol 3,51 Illegale Drogen+ Medikamente 19,24

Daten der Suchtkatamnese Gruppe N Sehr gut Gut Mäßig Unverändert Verschlechtert Substituiert Unbekannt Medikamente 472 17 8 17 32 1 0 25 Medikamente + Alkohol 759 8 4 38 35 5 0 11 Medikamente+ illegale Drogen 486 4 6 21 37 9 20 4 Nur Alkohol 812 12 8 36 33 0 0 11 Poser und Poser: Medikamente- Mißbrauch und Abhängigkeit Sehr gut abstinent seit Eintritt in Katamnese oder im 1. Jahr der K. abstinent geworden o. seit 10 J. abstinent Gut- kurze Rückfälle ohne Hospitalisierung Mäßig- abstinente Zeiten von mind. ½ Jahr aber auch Hospitalisierung wegen schweren Rückfällen Verschlechtert- Hinzunahme weiterer Suchtstoffe o. Übergang von intermittierendem zu kontinuierlichem Suchtstoffgebrauch

Therapie mit Medikamenten bei vorliegender Abhängigkeit? Schwierig für alle Medikamente mit Suchtpotential (Suchtgedächtnis!) daher besondere Sorgfalt und Beachtung von Indikationen nötig nach erneuter Anwendung von suchtpotenten AM bei vorher länger abstinenten Menschen erneut Entzugssyndrom möglich suchttherapeutische Unterstützung in der Zeit danach Anwendung nichtpharmakologischer Strategien favorisieren (Physio-, Psychotherapie, Psychoedukation, Akkupunktur, Entspannung, Sport, Tee ) der süchtigen Fehlhaltung entgegenwirken: Einsicht fördern nicht alles ist mit Medikamenten zu beseitigen, manches muss auch ausgehalten werden