Standards zur Diagnostik und Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung - AD(H)S im Kindes- und Jugendalter



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Standards zur Diagnostik und Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung - AD(H)S im Kindes- und Jugendalter für Entwicklungs- u. Sozialpädiatrische Ambulatorien bzw. Zentren sowie niedergelassene ÄrztInnen, PsychologInnen und PsychotherapeutInnen Definition: Nach derzeit anerkannter Definition liegt AD(H)S vor, wenn unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne deutliche Hyperaktivität ausgeprägt ist, nicht dem Alter und Entwicklungsstand entspricht und zu Störungen in den sozialen Bezugssystemen, der Wahrnehmung und im Leistungsbereich von Schule und Beruf führt 1, bzw. sind Hyperkinetische Störungen durch ein durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität gekennzeichnet, das in einem für den Entwicklungsstand des Betroffenen abnormen Ausmaß situationsübergreifend auftritt 2. Für detaillierte Inhalte das Störungsbild betreffend wird auf die gängigen Lehrbücher bzw. bekannten Diagnoseklassifikationssysteme wie DSM-IV oder ICD-10 verwiesen. In diesem Papier war es gemeinsames Ziel Kriterien zu definieren, welche für das ambulante diagnostische und therapeutische Vorgehen als institutionsübergreifender Standard empfohlen werden. A.) Diagnostik: Dem Störungsbild des AD(H)S liegt oftmals eine multifaktorielle Genese zugrunde und das Bild selbst weist keine scharfe und sichere Entität auf. Darüber hinaus gibt es eine Fülle von Differenzialdiagnosen, welche eine phänomenologisch ähnliche Symptomatik hervorrufen können. Eine gesicherte Diagnose ist daher nur auf Grundlage einer mehrdimensionalen Abklärung im Sinne einer multiaxialen Diagnostik zu stellen. Eine solche mehrdimensionale Abklärung hat in jedem Fall die biologische psychische und soziale Entwicklungsdimension des Kindes zu berücksichtigen und auf fachlich qualifiziertem Niveau zu untersuchen. Für die ordnende Zusammenschau der erhobenen Befunde sowie der div. diagnostischen Aspekte der Einzelprofessionen und für die sich daraus ableitenden Diagnosestellung ist es sinnvoll im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans eindeutig die Rolle der Fallführung ( case-manager ) zu definieren. Dieser ist nunmehr der zentrale Befundempfänger sowie Kommunikator und Koordinator der weiteren Maßnahmen sowohl im interdisziplinären Diskurs wie auch gegenüber Eltern und betroffenem Kind. 1 Leitlinien d. Deutschen Ges. f. Sozialpädiatrie u. Jugendmedizin sowie d. AG ADHS der Kinder- u. Jugendärzte e.v. 2 Leitlinien der Deutschen Ges. f. Kinder- u. Jugendpsychiatrie u. psychotherapie 04.12.2005 1

Durchführung: 1.) Die Grundlage der Diagnostik (aller Altersgruppen) ist das Erheben einer ausführlichen Anamnese von Eltern und Kind bzw. Jugendlichem i. S. von: Vorstellungsgrund / Aktuelle Anamnese Störungsspezifische Problemanamnese ( Kernsymptomatik ) Schwangerschafts-, Geburts- u. Neugeborenenanamnese Entwicklungsanamnese (inkl. Ressourcen und Stärken des Kindes) Familienanamnese Sozialanamnese (inkl. Erhebung abnormer psychosozialer Bedingungen, familiärer Ressourcen sowie Interaktionsanamnese) Außenanamnese mit Einverständnis der KE (z.b. bei Kindergarten, Schule, GE) Differierende Umfeldbelastungen und Problemeinschätzung können mit standardisierten Fragebögen (wie CBCL, SDQ, DISYPS-HKS, Conners Bögen, etc.) erhoben werden. Die Erhebung der Kernsymptomatik mittels standardisierter Fragebögen ist jedoch kein ausreichendes Instrument um alleine daraus eine Diagnose zu begründen. Ihr Wert liegt v.a. in der Erfassung von situationsübergreifenden oder variierenden Umfeldbelastungen und im Bereich der Verlaufsbeobachtung. (ein detaillierter Explorations-Leitfaden inkl. diagnostischem Entscheidungsbaum ist unter AWMF online Leitlinien zu finden) s. 1,2 2.) Die Untersuchung oder externe Informationseinholung beinhaltet obligat: Medizinisch: o Kinderärztlich-interne Untersuchung o Entwicklungsneurologisch-Neuropädiatrische Diagnostik o Kinderpsychiatrische Diagnostik (bei Hinweis auf andere kinder- u. jugendpsychiatrische Störung) Psychologisch: o Entwicklungs- u. Begabungsdiagnostik / (Teil-)Leistungsdiagnostik (z.b.: Bayley- Scales, Griffiths-Scales, AID 2, HAWIK III, K-ABC, WET; SLR-T, ZAREKI, BUEVA, ) o Persönlichkeitsdiagnostik / projektive und explorationsunterstützende Verfahren (z.b.: Sceno, SET, CAT, Zeichenverfahren, Rorschach,...) o Begutachtung von Interaktion / Bindung / Familiendynamik (z.b.: SAT, GEV-B, H-MIM, Fit-KIT, FAST, Familienbrett, ) Pädagogisch (evtl. Sozialarbeiterisch): o Verhaltensbeobachtung (im Einzel-, Familien- u./o. Kontakt mit Gleichaltrigen, evtl. videogestützt) o Lebenswelten des Kindes (Erziehungsstil, pädagog. Umfeld wie Kindergarten, Schule, etc.) o Situative Einflüsse (aktuell wichtige Beziehungen, life events, etc.) Diese Zuordnung von Inhalten zu Berufsfeldern ist keineswegs als strenge Grenzziehung zu verstehen. Die Zuständigkeitsgrenzen der Professionen für einzelne Untersuchungsinhalten sind vielfach überschneidend. Jede Person möge daher den Teil zur Diagnostik beitragen, in welchem sie den Zugang zum Kind und das nötige Fachwissen hat. 04.12.2005 2

3.) Bei Bedarf sind fakultativ zu ergänzen: Ergotherapeutische u./o. logopädische Begutachtung Beobachtung des Sozialverhaltens in diagnostisch therapeutischen Gruppen Überprüfung von Sinnesfunktionen (Pädaudiologie, Pädophthalmologie) Medizinisch-apparative o. Labordiagnostik wie EEG, MRI, Schilddrüsenfunktion, etc. Aufmerksamkeitstests (wie KITAP, TOVA, o.ä.) sowie neuropsychologische Diagnostik (wie. WCS - Test, Zoo-Spiel, FWI -Test, etc.) Spezifische Aufmerksamkeitstests wie auch explizite neuropsychologische Diagnostik kommen bis dato nur selten (und mit gezielter) Indikation zum Einsatz. Form, Methodik und Spektrum der Untersuchungen wie auch die empfohlene Therapie müssen dem Lebensalter des Kindes entsprechend angepasst werden. In verschiedenen Entwicklungsphasen sind unterschiedliche Aspekte einer möglichen Symptomentstehung zu beachten und daher entsprechend altersadäquate diagnostische Instrumente zu verwenden. Neben der obligaten Untersuchung des allgemeinen Entwicklungs- u. Begabungsprofils sowie der Exploration der Familiendynamik für jede Altersstufe (s.o.) ist für Säuglinge und Kleinkinder schwerpunktmäßig an videogestützte Interaktions- u./o. Bindungsdiagnostik sowie psychosoziale Stress- u. Traumanamnese; für Vorschulkinder vorrangig an Bindungsdiagnostik, Beachtung der Peer-Group-Dynamik (inkl. soziale u./o. kognitive Untero. Überforderung im Kindergarten, Geschwisterdynamik, etc.), Diagnostik von SI Störung (Wahrnehmungsverarbeitungsstörung) sowie (projektive) Persönlichkeitsdiagnostik; und für Schulkinder: v.a. an Teilleistungsdiagnostik, (projektive) Persönlichkeitsdiagnostik sowie an soziale u./o. kognitive Unter- o. Überforderung in der Schule inkl. Gruppendynamik zu denken bzw. entsprechende Verfahren zum Einsatz zu bringen. Andere, in ihrem z.t. ähnlichen Erscheinungsbild aber von AD(H)S abzugrenzende Vorstellungsgründe oder auch definitive Differenzialdiagnosen sind: Altersentsprechendes hohes Aktivitätsniveau, v.a. jüngerer Kinder Geistige Behinderung o. Minderbegabung mit Überforderungsproblematik Hochbegabung mit unterstimulierendem Umfeld Teilleistungsschwächen u./o. Sinnes- u. Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen Milieubedingte u. erlebnisreaktive Verhaltensstörungen (wie inkonsistentes elterliches Erziehungsverhalten, mangelnde Wärme in den familiären Beziehungen, etc.) Psychische Störungen (wie Störung des Sozialverhaltens, der Impulskontrolle, Oppositionelles Verhalten, Affektive Störung, Angststörung, Dissoziative Störung, Zwangsstörung, Depression) Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Tic-Störungen (einschl. Tourette-Syndrom) Anfallsleiden (z.b. Absencen-Epilepsie) Nebenwirkung medikamentöser (Dauer-) Therapie (z.b. Barbiturate, ) Persönlichkeitsveränderung durch somatische Krankheit o. psychotrope Substanzen Folgen eines Schlafapnoesyndroms Schilddrüsenüberfunktion Psychosen des Kindes- u. Jugendalters Neben diesem umfassenden Diagnosespektrum auf der Seite des Kindes darf eine häufige - leider aber auch häufig zu gering beachtete - Dimension als Ursache für ungewöhnliches kindliches Verhalten nicht übersehen werden: psychosoziale Belastung oder schwere (evtl. chronische) psychische oder körperliche Erkrankung von Mutter oder Vater oder anderen nahen Bezugspersonen. Nach Beeinträchtigung der psychischen u./o. organischen 04.12.2005 3

Gesundheit (wie Angst- o. Zwangserkrankung, Depression, chronische o. lebensbedrohliche somatische Erkrankung, etc.) und psychosozialen Belastungen (wie Armut, Arbeitslosigkeit, Streit- o. Krisensituation in der Partnerschaft, etc.) soll im Rahmen der Anamnese immer gezielt gefragt werden, da eine solche Problematik sonst oftmals nicht bekannt wird. Eine weitere wesentliche Fragestellung ist die Einordnung einer spezifischen Symptomatik als komorbide Störung. Nach verschiedenen Untersuchungen ist AD(H)S in bis zu 2/3 der Fälle von einer kinder- u. jugendpsychiatrischen Störung begleitet (umschriebene Entwicklungsstörungen sind hierbei noch nicht einmal berücksichtigt). Häufige komorbide Störungen sind: Oppositionelle Störungen des Sozialverhaltens Andere Störungen des Sozialverhaltens Angst- u. Affektstörungen Aggressive Verhaltensstörung Umschriebene Entwicklungsstörungen (inkl. Lernstörungen, Teilleistungsschwächen) Tic-Störungen (inkl. Tourette Syndrom) Kindliche Depression B.) Therapie: Analog zum mehrdimensionalen Ansatz der Diagnostik ist auch die Behandlung umfassend d.h. unter Einbeziehen aller drei o.g. Dimensionen zu gestalten. Sie beinhaltet ein grundsätzlich stufenweises Vorgehen: 1.) Information über das Störungsbild und die Behandlungsmöglichkeiten 2.) Eingehende Aufklärung und Beratung ( Psychoedukation ) von Eltern, Kind bzw. Jugendlichen und pädagogischem Umfeld (evtl. Elterntraining u./o. Interventionen in der Familie und in Kindergarten oder Schule) mit dem Ziel eines angemessenen Störungskonzeptes des familiären und pädagogischen Umfelds sowie eines förderlichen Umganges mit dem Kind 3.) Behandlung des Kindes einzeln o. in Gruppen mit dem Ziel einer Verbesserung der sozialen Regulationsfähigkeit und des Selbstmanagements (je nach Schwerpunkt des Problems und regional verfügbarem Angebot durch kognitive u./o. psychodynamische Psychotherapie, Psychomotorik / Motopädagogik, Maßnahmen der Heilpädagogik, funktionelle Therapie wie Ergotherapie oder Logopädie, usw.); Spez. Eltern-Kind-Behandlung bei Kleinkind oder systemischer Intervention. 4.) Medikamentöse Behandlung (für Kinder > 6 Jahre, darunter nur in Ausnahmefällen) Für den Großteil hyperkinetischer Kinder ist eine nicht-medikamentöse Intervention die Methode der ersten Wahl. Sollte es durch diese Maßnahmen nicht zu einem ausreichenden Erfolg kommen, ist in der Abfolge der therapeutischen Angebote als 4. Schritt auch eine medikamentöse Therapie zu erwägen. Eine sehr rasche, evtl. primäre Pharmakotherapie ist in Ausnahmefällen nur dann angezeigt, wenn eine stark ausgeprägte, situationsübergreifende hyperkinetische Symptomatik mit einer hohen Belastungssituation des Patienten und seines Umfelds (z.b. drohende Umschulung in Sonderschule o.ä.) vorliegt. 04.12.2005 4

Vor einer Behandlung mit Psychostimulanzien (i.s. Methylphenidat) sind folgende Abklärungen erforderlich: Bereitschaft der Familie zur Mitarbeit Größe, Gewicht, Blutdruck, Pulsfrequenz (regelmäßige Kontrollen) bei Jugendlichen Drogenmissbrauch thematisieren und wenn möglich ausschließen gezielte Frage nach Tics u./o. Anfallsleiden Es sollte im Rahmen aller diagnostischen und therapeutischen Schritte, besonders aber zu Beginn und im Verlauf einer medikamentösen Therapie eine Selbstverständlichkeit sein auch mit dem Kind altersadäquat befragende und aufklärende Einzelgespräche zu führen (warum es kommt, wie seine Problemsicht ist, ob und was es selbst verändern will, weshalb es ein Medikament nehmen soll, welche Wirkung und Nebenwirkung dieses evtl. haben kann, etc.). Diese Verantwortung ist nicht an die Eltern delegierbar. Die Behandlung kann meist ausreichend erfolgreich ambulant durchgeführt werden. Eine teilstationäre oder stationäre Therapie kann in folgenden Fällen indiziert sein: bei besonders schwer ausgeprägter hyperkinetischer Symptomatik; bei besonders schwer ausgeprägten komorbiden Störungen (z.b. Störungen des Sozialverhaltens) bzw. schwieriger diagnostischer Zuordnung der Symptomatik; bei mangelnden Ressourcen in der Familie oder im Kindergarten bzw. in der Schule oder bei besonders ungünstigen psychosozialen Bedingungen; nach nicht erfolgreicher ambulanter Therapie. Ein gut funktionierendes Netzwerk ist unabdingbar für die Diagnostik und Behandlung von AD(H)S bzw. Kindern u. Jugendlichen mit hyperaktivem Verhalten! Aufgabe dieses Netzwerkes aller mit dem Kind befassten Professionen ist es einen integrativen Behandlungsplan zu erstellen und diesen in regelmäßigen Abständen gemeinsam mit Eltern und Kind zu evaluieren. Wien, im Oktober 2005 Dieses Papier ist in Konsensbildung (Verfahren: Arbeitsgruppe und E-mail-Kommunikation) untenstehender Personen und der durch sie repräsentierten Institutionen entstanden. Ziel war es eine Vereinheitlichung des Vorgehens in Diagnostik und Therapie des AD(H)S in der ambulanten Versorgung durch institutionelle und niedergelassene Anbieter zu erreichen. Koordination und Texterstellung: K. Vavrik 1, F. Brandstetter 2 MitarbeiterInnen in der Arbeitsgruppe: A. Asisi 2, B. Blaha-Hausner 2, D. Eulert-Fuchs 2, M. Freilinger 3, T. Hansbauer 4+17, I. Lochner 2, B. Mally 1, E. Pilz 2, M. Posch 2, B. Schuh-Tüchler 2, S. Skribot-Schandl 1, E. Stadlmaier 2, S. Stefan 1, L. Stejfova 5, L. Vodopiuz 6, M. Waldenmaier 1 Sich dem Konsens mit Anregungen, Kommentar bzw. Ergänzungen anschließend: A. Artner 12, D. Baumgartner 15, M. Baumgartner 7, B. Burian-Langegger 14, B. Flucher 13, B. Hackenberg 3, M. Hartmann 13, E. Hauser 11, K. Kranewitter 13, W. Leixnering 9, L. Ölsböck 13, E. Pokorny 16, P. Scheer 10, L. Thun-Hohenstein 8 1 Sozialpädiatrisches Ambulatorium Fernkorngasse, Wien, 2 Zentrum für Entwicklungsförderung, Wien, 3 Tagesklinik für Psychosomatik, AKH Wien, 4 Heilpädagogik Hinterbrühl, 5 Ambulatorium Strebersdorf, Wien 6 Ambulatorium Märzstrasse, Wien, 7 Sozialpädiatrisches Zentrum, Amb. Sonnenschein, St. Pölten, 8 Kinder- u. Jugendpsychiatrie, Salzburg, 9 Kinder- u. Jugendpsychiatrie, Linz, 10 Psychosomatik d. Universitätskinderklinik, Graz, 11 Sozialpädiatrisches Zentrum im Thermenklinikum, Mödling, 12 Ambulatorium, Wr. Neustadt, 13 Entwicklungsdiagnostisches Ambulatorium, Salzburg, 14 Institute für Erziehungshilfe, Wien, 15 Bundesfachgruppenobmann f. Kinder- u. Jugendheilkunde, 16 Fachgruppenobmann f. Kinder- u. Jugendheilkunde, Wien, 17 St. Anna Kinderspital, Wien 04.12.2005 5

Testregister der Abkürzungen AID 2: Adaptives Intelligenz Diagnostikum 2 BUEVA: Basisdiagnostik für umschriebene Entwicklungsstörungen im Vorschulalter CAT: Kinder-Apperzeptions-Test CBCL: Child Behavior Checklist DISYPS: Diagnostik-System für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV FAST: Familiensystemtest FWI-Test: Farbe-Wort-Interferenztest GEV-B: Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindungsdiagnostik HAWIK III: Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder III H-MIM: Heidelberger Marschak Interaktionsmethode K-ABC: Kaufman Assessment Battery for Children KITAP: Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung für Kinder SAT: Separation Anxiety Test SDQ: Strength and Difficulties Questionaire SET: Satzergänzungstest SLRT: Salzburger Lese- und Rechtschreibtest TOVA: Test of Variables of Attention WCS-Test: Wisconsin Card Sorting Test WET: Wiener Entwicklungstest 04.12.2005 6