Jungsche Psychologie und Daseinsanalyse



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Transkript:

Jungsche Psychologie und Daseinsanalyse DORIS LIER Als ich im letzten Herbst für die GAD einen Vortrag über die Pseudologia Phantastica als Bewältigungsversuch der Scham vorbereitete, drängte sich mir die Formulierung archetypische Erfahrung auf. Ich nannte die Scham eine archetypische Erfahrung und meinte damit eine Grunderfahrung, die sich konkret als ein Sich-beschämt-Fühlen auf mannigfache Weise, mehr oder weniger drastisch, manifestieren kann. Eine solche Formulierung klingt nach C. G. Jung. Jung aber spricht nicht von archetypischen Erfahrungen, sondern von archetypischen Bildern, die überhaupt erst Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind. Diesem Unterschied zwischen archetypischem Bild und Grunderfahrung möchte ich im Folgenden nachgehen. Er verweist zugleich auf die unterschiedlichen Konzeptionen der Daseinsanalyse und der Jungschen Psychologie. Das Wort Archetypus ist eng mit Jungs Vorstellung von Urbildern, das heisst von Bildern verbunden, die allgemeinmenschlich sind, also unabhängig von kulturellen Gegebenheiten in gleicher Weise vorkommen. Sein Gedanke ist, dass unsere seelischen Grunderfahrungen durch archetypische Bilder strukturiert sind. Auf ein Schlagwort gebracht: Am Anfang war das Bild. 1 Bei dieser Sichtweise ergibt sich ein Problem, das Jung erst im Laufe seines Schreibens bewusst geworden ist: Bilder sind stets kulturell und subjektiv verschieden, also nie allgemeinmenschlich, obwohl sie auf etwas Allgemeinmenschliches weisen mögen. Deshalb musste Jung etwas finden, das hinter den Bildern bei allen Menschen gleich ist. Er fand den Archetypus, den er von den archetypischen Bildern unterschieden haben wollte: Die archetypischen Vorstellungen, die uns das Unbewusste vermittelt, darf man nicht mit dem Archetypus an sich verwechseln. Sie sind vielfach variierte Gebilde, welche auf eine an sich unanschauliche Grundform zurückweisen. 2 Zur Veranschaulichung dieser nicht mehr anschaulichen Grundform nennt Jung unter anderem das Achsensystem der Kristalle. Alle noch so unterschiedlichen Kristalle sind Ausgestaltungen ein und desselben Achsensystems, das heisst einer Formvorgabe, die als solche, rein, in der Welt nicht vorkommt. Oder vice versa: Der real existierende Kristall ist die je spezifische Konkretisierung einer Formvorgabe. Jung rekurriert bei dieser Unterscheidung auf andere Wissensbereiche, insbesondere auf die mythologische Forschung: 63

Die mythologische Forschung nennt sie [die Formen in der Psyche, Ergänzung DL] 'Motive'; in der Psychologie Primitiver entsprechen sie Lévy-Bruhls Begriff der 'représentations collectives', und auf dem Gebiete vergleichender Religionswissenschaft wurden sie von Hubert und Mauss als 'Kategorien der Imagination' definiert. 3 Auf die Scham übertragen, müsste man somit sagen: Es gibt den Archetypus, die Formvorgabe für die kulturell unterschiedlichen Bilder, die den Menschen Scham erfahren lassen. Das einzelne Schambild, beispielsweise das Feigenblatt in der christlichen Paradiesesgeschichte, ist eine der möglichen Ausgestaltungen dieser unanschaulichen Grundform. Wichtig dabei ist, dass Jung das archetypische Bild als Bild eines unbewussten, gefühlsbetonten Komplexes versteht. Der Komplex ist nicht unbewusst im Sinne von verdrängt, er ist vielmehr nie bewusst gewesen und zudem mit der habituellen Bewusstseinslage oder Einstellung inkompatibel. 4 Das heisst, es gibt eine Dichotomie zwischen der bewussten Einstellung einerseits und dem archetypischen Bild andererseits, die dann eintritt, wenn die bewusste Einstellung metaphorisch gesehen in eine Sackgasse geraten ist. Meist macht Jung für solche Sackgassen das gerichtete Denken verantwortlich, das sich zu weit vom Urgrund der Seele entfernt habe. Es gibt bei Jung zwei Formen des Denkens, das gerichtete und das assoziative. 5 Das gerichtete Denken wird mit Intellekt und Verstehen gekoppelt, das assoziative mit Gefühl und Bild: 6 Hier hört das Denken in Sprachform auf, Bild reiht sich an Bild, Gefühl an Gefühl. 7 Das assoziative Denken ist somit ausserhalb der Sprache angesiedelt. Inwiefern dieser vorsprachliche Selbst- und Weltbezug Denken ist, bleibt unklar. Jung will offenbar auf etwas Vorprädikatives, Prälogisches weisen und dieses vorwiegend dem Gefühlsbereich zuordnen, um einen Gegensatz zum Intellekt zu erreichen. Am einen Pol ist somit das Bewusstsein und mit ihm der Intellekt (das gerichtete Denken), am äussersten anderen Pol der gefühlsbetonte Komplex in der Form des archetypischen Bildes. Zwischen beiden liegt ein tiefer Graben. 8 Dieser kaum überwindbare Gegensatz ist ein grosses Problem in der Jungschen Psychologie und wird meines Wissens nur von Giegerich eingehend kritisiert. 9 Wenn wir von dieser, bis jetzt dargelegten und noch unvollständigen Konzeption auf die Daseinsanalyse blicken, wie sie von Alice Holzhey vertreten wird, ist dort Erfahrung nicht vom Bild her gedacht. Der Hauptfokus liegt auf der Unterscheidung ontologisch ontisch. Die ontologische Erfahrung ist die Erfahrung, die unabwendbar zum Menschen als Menschen gehört, die ontische ist die konkrete Erfahrung, die kulturell und subjektiv unterschiedlich ist. Dabei schwingt die ontologische Ebene, die Ebene der Grunderfahrungen in jeder subjektiven Erfahrung mit. Mit andern Worten: Unsere subjektiven Erfahrungen können auf Grunderfahrungen, das heisst, auf Grundgegebenheiten des Existierens zurückbezogen werden. 10 Die Scham als ontologische Erfahrung hat Holzhey unter anderem im Heft Die 64

Scham in Philosophie, Kulturanthropologie und Psychoanalyse sorgfältig herausgearbeitet. 11 Diesem Aufsatz entsprechend verweist uns die Scham auf unsere menschliche Seinsverfassung: Das heisst, ich erfahre in der Scham, dass ich für den anderen bzw. im Blick des Anderen bin und zu sein habe. 12 Es geht somit bei der Scham um mich als ein Gemeinschaftswesen, das unabwendbar der Wertung eines andern ausgesetzt ist. Voraussetzung dieser Erfahrung ist die spezifisch menschliche Fähigkeit, sich auf sich selbst und die Welt beziehen zu können. Das Jungsche Ur-Bild, das Feigenblatt der christlichen Paradiesesgeschichte zum Beispiel, wird unter daseinsanalytischem Gesichtswinkel zur Veranschaulichung dieser unanschaulichen existenziellen Gegebenheit. So gesehen ist das Bild Hilfsmittel für das Verstehen und geht dem Verstehen nicht voraus. Ein Unterschied zwischen Analytischer Psychologie und Daseinsanalyse kann somit fürs erste im logischen Status des Bildes ausgemacht werden: Bei Jung ist es Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, in Holzheys Daseinsanalyse dient es dem Verstehen von Erfahrung. Es ist daseinsanalytisch sekundär und allenfalls nicht einmal immer nötig. Dieser unterschiedliche Status des Bildes ist wohl einer der Gründe, weshalb sich Holzheys Daseinsanalyse nicht um die geschichtliche Entwicklung der menschlichen Psyche kümmern muss: Es gibt ontologische Voraussetzungen für die ontischen Erfahrungen, und diese ontologischen Voraussetzungen gilt es zu erkennen, wann immer der betreffende Mensch seine Erfahrungen macht und wie immer er sie in Bilder fasst. Da bei Jung die Bildvorgabe das Ursprünglichste ist, wird die geschichtlich variante Verfasstheit der Bilder zentrales Thema. Denn ein Bild kann zum Beispiel im logischen Status des Mythos erscheinen oder im Status der Theorie. Damit komme ich zurück auf die oben erwähnten zwei Formen des Denkens: Jung weist nämlich das assoziative Denken dem Mythos zu, das gerichtete Denken der Moderne. Er bedient sich somit der alten Formel vom Mythos zum Logos als radikalem Bruch im menschlichen Erkennen. Nicht aber so, dass der Mythos mit dem Aufkommen des Logos ausgedient hätte, vielmehr gerade umgekehrt, dass der Mythos die Fehlleistungen des Logos korrigieren müsse. Hier liegt der Kern von Jungs Kritik der Moderne und der Kern des Unterschieds zwischen Jungscher Psychologie und Daseinsanalyse und Psychoanalyse. Denn das Verhältnis archetypisch individuell ist nicht vergleichbar mit dem Verhältnis ontologisch ontisch und auch nicht vergleichbar mit dem Verhältnis Grundmotiv kulturelle bzw. subjektive Ausgestaltung. Jung sagt nur an wenigen Stellen und nur implizit, dass der Archetypus unsere täglichen Erfahrungen mitstrukturiert, dass hinter jeder Erfahrung ein Archetypus steht. Weit öfters weist Jung den archetypischen Bildern ein eigenes Gefäss, das kollektive Unbewusste zu, das, wie oben bereits angedeutet, nur in besonders problematischen Situationen ins Bewusstsein einbricht. 13 Träume mit Bildern aus der Welt des Mythos, die an der Intensität der Gefühlsregung erkennbar sind, weisen nach Jungs Erachten 65

auf ein schwerwiegendes seelisches Ungleichgewicht, das die Seele nur mittels archetypischer, und das heisst nun zugleich: nie bewusst gewesener mythologischer Bilder bewältigen kann. Die Alte Welt eilt dem Leidenden gleichsam zu Hilfe. Ursprünglich ist so gesehen nicht einfach nur strukturell gedacht, sondern immer auch zeitlich. Weshalb wollte Jung den modernen Menschen mit dem Mythos heilen? Jungs Anliegen war, eine psychische Sphäre einzuführen, die den verloren gegangenen Sinn enthält; Sinn, nicht etwa verstanden als Bedeutung, sondern als allumfassenden Lebenssinn, wie er sich seines Erachtens in Mythen und Märchen noch manifestiert. Denn ohne diesen höheren und umfassenden Sinn erschien Jung das Leben nicht lebenswert. Der Verlust des Mythos war ihm inakzeptabel. Die mythische Welt musste neu gefunden werden, und zwar als kollektives Unbewusstes im Innern des Individuums: Seit die Sterne vom Himmel gefallen und unsere höchsten Symbole verblasst sind, herrscht geheimes Leben im Unbewussten. Deshalb haben wir heutzutage eine Psychologie, und deshalb reden wir vom Unbewussten. All dies wäre und ist auch in der Tat ganz überflüssig in einer Zeit und in einer Kulturform, welche Symbole hat. 14 Jung disloziert also die alten Götter als Archetypen ins Innere des Subjekts, ohne ihren logischen Status zu verändern. Sie sind Repräsentanten dessen, was dem Menschen nun aus dem Innern widerfährt. Das aber heisst, er setzt im Innern gleichsam ein Aussen und rettet dadurch die höchsten Symbole, die alten Götter, die jetzt aus dem kollektiven Unbewussten zu uns sprechen. Die Konzeption des kollektiven Unbewussten und seiner Kategorien, der Archetypen, verdankt sich einem Erlösungswunsch. Während in der Daseinsanalyse der Mensch unabwendbar ungeborgen ist, bildet für Jung diese anthropologische Voraussetzung eine moderne und zugleich neurotische Konzeption. 15 Jung will die einstige Geborgenheit, das geschlossene Weltbild, zurückgewinnen. Das Archetypen-Konzept entstand im Zusammenhang mit der Ablösung von Freud. Jung stellt, könnte man sagen, Freuds archaische Erbschaft ins Zentrum seines Denkens. 16 Hätte er die Archetypen nur im Sinne anthropologischer Konstanten bzw. von Menschheitsmotiven und -erfahrungen belassen und ihnen keine eigene Sphäre, das kollektive Unbewusste zugeordnet, wäre die Ablösung von Freud nur als Verallgemeinerung von Freuds Ödipuskomplex gelungen. Jung aber wollte Freud etwas radikal Anderes gegenüberstellen und ihn damit in den Schatten stellen. Er wandte sich zurück zur Suche nach dem Sinn und Zweck menschlichen Lebens, zu jener Suche also, die Freud als menschliche Überhebung dezidiert zurückweist. 17 Dass Jung in seiner Psychoanalyse die Bedeutung des Bildes für das Seelenleben ins Zentrum rückt und dabei auf den Mythos rekurriert, ist ein grosses Verdienst 66

und gibt der Analytischen Psychologie ihre unverwechselbare Note. Dass der Mythos aber Erlöser des modernen Menschen sein soll, ist problematisch, zumal vermutet werden muss, dass Jung sich damit vielleicht sogar vor allem von Freud erlösen wollte. Die Daseinsanalyse, die ihrerseits aus Freuds Psychoanalyse entstanden ist, wollte Freud nicht bezwingen. Sie verstand und versteht sich als eine Form der Psychoanalyse, die Freuds Begründungszusammenhänge philosophisch überdenkt und weiterentwickelt. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass sie sich nicht mit den geschichtlich-kulturellen Veränderungsprozessen beschäftigt. Das Subjekt, verstanden als Selbst- und Weltverhältnis, ist zwar eine geschichtliche Erscheinung, doch muss dies in der Daseinsanalyse nicht weiter diskutiert werden. Damit kommt sie auch nicht in den Strudel der Frage nach dem Mythos und Logos, die Freud und Jung zu beantworten versuchten. In der Daseinsanalyse wird das Subjekt in die Kur genommen; untersucht wird die Antwort des Subjekts auf seine Daseinsbedingungen, das heisst, auf das, was unabdingbar Teil des Lebens ist. Inwiefern diese Indifferenz der Geschichte gegenüber problematisch ist, kann hier nicht weiter ausgeführt werden. 1 1983 kam ein Buch mit diesem Titel heraus: James Hillman, Am Anfang war das Bild: unsere Träume Brücke der Seele zu den Mythen. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Doris Engelke, München 1979. Das Buch hat unter den deutsch sprechenden Jungianern grosse Beachtung gefunden. Der amerikanische Titel lautet allerdings: The Dream and the Underworld. Der Autor ist offenbar mit dieser Übersetzung einverstanden gewesen, obwohl es sich durch das Präteritum war auf den geschichtlichen und nicht zugleich auf einen strukturellen Anfang bezieht. 2 CG Jung, GW 8, 417. 3 CG Jung, GW 9/1, 89. 4 CG Jung, GW 8, 201. 5 CG Jung, GW 5, 4-46; GW 18/1, 617. 6 CG Jung, GW 18/1, 617. 7 CG Jung, GW 8, 37. 8 In GW 18/1 z.b. spricht Jung vom Ritus und vom christlichen Geheimnis der Jungfräulichkeit und meint: Unser Intellekt ist vollkommen ausserstande, diese Dinge zu begreifen. 9 Wolfgang Giegerich, The End of Meaning and the Birth of Man. An essay about the state reached in the history of consciousness and an analysis of C.G. Jung s psychology project, in: Journal of Jungian Theory and Practice 6(1), 2004, 1-66. 10 Alice Holzhey, Leiden am Dasein. Die Daseinsanalyse und die Aufgabe einer Hermeneutik psychopathologischer Phänomene. Wien 1994, insb. 151-169. 67

11 Alice Holzhey, Unter dem Blick des Anderen. Die Scham als Objekt und Subjekt der Philosophie, in: Die Scham in Philosophie, Kulturanthropologie und Psychoanalyse, hg. von Georg Schönbächler, Collegium Helveticum Heft 2, Zürich 2006. 12 Ebenda, 19. 13 GW 9/1, 88: Das kollektive Unbewusste ist ein Teil der Psyche, der von einem persönlichen Unbewussten dadurch negativ unterschieden werden kann, dass er seine Existenz nicht persönlicher Erfahrung verdankt und daher keine persönliche Erwerbung ist. Während das persönliche Unbewusste wesentlich aus Inhalten besteht, die [ ] entweder vergessen oder verdrängt wurden, waren die Inhalte des kollektiven Unbewussten nie im Bewusstsein und wurden somit nie individuell erworben, sondern verdanken ihr Dasein ausschliesslich der Vererbung. Vgl. auch GW 9: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste, und GW 5: Symbole der Wandlung. 14 CG Jung, GW 9/1, 50. 15 Jung, GW 18, 527. 16 Sigmund Freud, GW XVI, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, 204 f. 17 Sigmund Freud, GW XIV, Das Unbehagen in der Kultur, 433. 68