FRAGMENTE ODER EINHEIT? WIE HEUTE IDENTITÄT GESCHAFFEN WIRD. Heiner Keupp



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Transkript:

1 FRAGMENTE ODER EINHEIT? WIE HEUTE IDENTITÄT GESCHAFFEN WIRD Heiner Keupp "Wenn ich mich sicher fühlen kann, werde ich eine komplexere Identität erwerben (...) Ich werde mich selbst mit mehr als einer Gruppe identifizieren; ich werde Amerikaner, Jude, Ostküstenbewohner, Intellektueller und Professor sein. Man stelle sich eine ähnliche Vervielfältigung der Identitäten überall auf der Welt vor, und die Erde beginnt, wie ein weniger gefährlicher Ort auszusehen. Wenn sich die Identitäten vervielfältigen, teilen sich die Leidenschaften." Michael Walzer: Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie. Berlin 1992, S. 136. Und wenn sich Stadtviertel, Städte oder Nationen zu defensiven Zufluchtsorten gegen eine feindliche Welt entwickeln, dann kann es auch dazu kommen, dass sie sich Symbole des Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühls nur noch mittels Praktiken der Ausgrenzung und Intoleranz zu verschaffen vermögen. Richard Sennett: Etwas ist faul in der Stadt. In: DIE ZEIT vom 26. Januar 1996 Im Spannungsfeld dieser beiden Aussagen ist der Diskurs über I- dentitäten in der Gegenwart angesiedelt. Worum geht es bei diesem Diskurs? Es geht bei ihm um den Versuch, auf die klassische Frage der Identitätsforschung eine zeitgerechte Antwort geben: Wer bin ich in einer sozialen Welt, deren Grundriss sich unter Bedingungen der Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung verändert? Identität ist sinnvollerweise als ein subjektiver Konstruktionsprozess zu begreifen, in dem Individuen eine Passung von innerer und äußerer Welt suchen. Wie gelingt es Subjekten in einer fragmentierten und widersprüchlichen Welt für sich eine stimmige Passung herzustellen? Wir Psychologen sind oft von

2 unserem Wissen um pathologische Zerfallsformen von Persönlichkeiten von der Sorge geplagt, dass Menschen die Integration von Teilidentitäten nicht bewältigen. Für Erik Erikson, der den durchsetzungsfähigsten Versuch zu einer psychologischen Identitätstheorie unternommen hat, besteht "das Kernproblem der Identität in der Fähigkeit des Ichs, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuerhalten" (1964, S. 87). An anderer Stelle definiert er Identität als ein Grundgefühl: "Das Gefühl der Ich-Identität ist... das angesammelte Vertrauen darauf, dass der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten" (1966, S. 107). Es gibt wachsende Zweifel, ob Einheitlichkeit und Kontinuität in einer heißen Kultur, also in einer Kultur mit hoher Veränderungsdynamik, angemessen ist. Der Wunsch nach Ausstellung einer Identitätsbescheinigung mag verständlich sein, wird uns aber nur ein müdes Lächeln abringen. Andererseits ist die Frage, ob es mit der notwendigen ironischen Distanz zu dieser Identitätszertifizierung getan ist. Wir leben in einer heißen Phase gesellschaftlicher Entwicklung, in der Vertrautes, scheinbar Gesichertes, Stabiles in Bewegung gerät. Flexibilität und Mobilität stehen überall auf der Tagesordnung. Da darf es nicht verwundern, dass auch Identitäten in Bewegung geraten. Bislang taugliche Schnittmuster oder Erzählvorlagen für I- dentitätsbildung verlieren ihre Passform. Wie viel Identitätsbewegung aber verträgt der Mensch? Braucht er nicht feste Bezugspunkte? Zur Beantwortung solcher Fragen haben wir zur alltäglichen Identitätsarbeit eine Längsschnittstudie mit jungen Erwachsenen aus West- und Ostdeutschland durchgeführt, um herauszufinden, wie diese die Identitätsbausteine, die in Bezug auf die unterschiedlichen Lebensfelder Arbeit, Liebe, soziale Beziehungen und Kultur gebildet wurden, für sich zu dem Patchwork einer passförmigen Identitätskonstruktion verknüpfen, das sie sinnhaft in ihrer Welt verortet und zugleich handlungsfähig macht. Wir wollen zeigen, dass dieser Herstellungsprozess einer nachvollziehbaren inneren Logik folgt und dass er spezifische Materialien braucht: Psychische, soziale und materielle Ressourcen. Deutlich wird: Identitätsbildung in der Spätmoderne ergibt nur bei ober-

3 flächlicher Betrachtung ein Bild postmoderner Beliebigkeit, sondern ist eine aktive Leistung der Subjekte, die zwar risikoreich ist, aber auch die Chance zu einer selbstbestimmten Konstruktion enthält. VON GESCHLOSSENEN ZU DYNAMISCHEN IDENTITÄTSBILDERN Jürgen Leinemann hat im SPIEGEL 39 vom 21.9.1998 ein Portrait von Gerhard Schröder gezeichnet. Er beschreibt ihn in seiner Ambivalenz zwischen Sein und Inszenierung. Schröder beansprucht für sich selbst Authentizität, wenn er sagt: Die Leute nehmen sehr genau wahr, ob jemand das selbst ist oder ob er sozusagen der Schauspieler seiner selbst ist. Leinemann beschreibt Schröder als einen Mann, der immer beides zugleich ist. Und stellt dann die Frage: Was ist da authentisch? Wo hört die primäre Lebenswirklichkeit auf? Wo fängt die suggestive Bilderwelt an? Vielleicht gehört es zur Voraussetzung der Stars, die sich in diesem flüchtigen Ambiente zwischen Sein und Schein behaupten wollen, dass sie über einen festen Wesenskern, über die das sogenannte Eigentliche hinter dem, was alle sehen, gar nicht verfügen. Gerhard Schröder kann keine Geschichten erzählen. Und das hat damit zu tun, wie er sagen würde, dass er sein eigenes Leben nicht als eine einheitliche, mal stockende, mal schmerzliche und widersprüchliche Geschichte begreift, sondern als eine Anhäufung von Erfolgen. Schröder ist nicht hineingewachsen in sein Leben, er hat sich Stück für Stück seinen Teil geholt vom Haben und Sagen der Gesellschaft. Das ist natürlich auch eine Geschichte und vielleicht dementiert Schröder den Narrationstypus, den die bürgerliche Welt für die Erzählungen ihrer Helden parat hatten. Unsere Vorstellungen von dem, was ein gelungenes Leben oder eine gelungene Identität sein könnten, drücken sich in Bildern aus. Wenn man einen Blick in die Geschichte richtet, dann sieht man, wie wandelbar diese Bilder sind. Sie müssen ja auch auf kulturelle, ökonomische und soziale Veränderungen reagieren. Zu Beginn der Moderne hat Michel de Montaigne folgendes Bild für seine Identitätsarbeit genutzt: "Ich gebe meiner Seele bald dieses, bald jenes Gesicht, je nach welcher Seite ich sie wende. Wenn ich unter-

4 schiedlich von mir spreche, dann deswegen, weil ich mich als unterschiedlich betrachte. Alle Widersprüche finden sich bei mir in irgendeiner den Umständen folgenden Form. (...) Von allem sehe ich etwas in mir, je nachdem wie ich mich drehe; und wer immer sich aufmerksam prüft, entdeckt in seinem Inneren dieselbe Wandelbarkeit und Widersprüchlichkeit, ja in seinem Urteile darüber. Es gibt nichts Zutreffendes, Eindeutiges und Stichhaltiges, das ich über mich sagen, gar ohne Wenn und Aber in einem einzigen Wort ausdrücken könnte. (...). Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und loseaneinander hängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen" (de Montaigne, 1998, S. 167f.). Hier nutzt ein hochprivilegierter Renaissancemensch die Chance, sich selber zu beobachten und zu konstruieren, ohne dabei auf die Schnittmuster der damals vorherrschenden Leitkultur zurückzugreifen. Der auf Einheitlichkeit der Person und ihrer Selbstkonstruktion ausgerichtete gesellschaftliche Mainstream ist Montaigne nicht gefolgt. Aber die Querdenker durch die Geschichte hindurch haben immer eine Gegenposition zum Identitätszwang eingenommen. Etwa zweihundert Jahre später hat Novalis geschrieben: Eine Person ist mehrere Personen zugleich. Der vollendete Mensch muss gleichsam zugleich an mehreren Orten und in mehreren Menschen leben. Und: pluralism ist unser innerstes Wesen. Der nächste große Querdenker ist Friedrich Nietzsche. Er sagt von sich selbst, er sei einer, dem bei der Historie nicht nur der Geist, sondern auch das Herz sich immer neu verwandelt und der, im Gegensatz zu den Metaphysikern, glücklich darüber ist, nicht eine sterbliche Seele, sondern viele sterbliche Seelen in sich zu beherbergen. Und an anderer Stelle formuliert er: Die Annahme des einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebenso gut erlaubt, eine Vielfalt von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewusstsein zugrunde liegt? Und weiter: Meine Hypothese: Das Subjekt als Vielheit. In seinem Buch Fröhliche Wissenschaften äußert er sich zum Thema sogar in Gedichtform: "Scharf und milde, grob und fein, vertraut und seltsam, schmutzig und rein, der Narren und Weisen Stelldichein:

5 dies Alles bin ich, will ich sein, Taube zugleich, Schlange und Schwein!" Auch Nietzsche ist der gesellschaftliche Mainstream nicht gefolgt. Vor allem in dem hinter uns liegenden turbulenten Jahrhundert haben lange Zeit die Bilder vorgeherrscht, die Biographie und I- dentität, wenn sie als geglückt betrachtet werden sollten, als etwas Stabiles, Dauerhaftes und Unverrückbares aufzeigen sollten. Max Weber, der große Soziologe und Theoretiker der Moderne, hat uns ein Bild hinterlassen, in dem die Persönlichkeitsstruktur des modernen Menschen als ein "stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit" charakterisiert wird. Dieses Subjekt hat auf den ersten Blick wenig zu tun mit dem emanzipierten bürgerlichen Individuum, das an die Stelle der Traditionslenkung eigene Vernunftprinzipien setzt und sich jeder Fremdbestimmung widersetzt. Max Weber hat in seiner Religionssoziologie den faszinierenden Versuch unternommen, die Entstehung des Kapitalismus, vor allem seine soziokulturellen Lebensformen und seinen "geistigen Überbau" mit dem Siegeszug des Protestantismus in Verbindung zu bringen. Sozialpsychologisch spannend daran ist die Skizzierung eines Sozialcharakters, in dem die Grundhaltung der innerweltlichen Askese ihre Subjektgestalt erhielt. Es ist die normative Vorstellung vom rastlos tätigen Menschen, der durch seine Streb- und Regsamkeit die Gottgefälligkeit seiner Existenz beweisfähig zu machen versucht. "... wenn es köstlich gewesen ist, so ist Mühe und Arbeit gewesen", formuliert der 90. Psalm als Lebensphilosophie und drückt damit eine Haltung aus, die die abendländische Zivilisation geprägt und die in der protestantischen Ausformung als methodische Lebensführung ihre perfekteste Gestalt erhielt. Norbert Elias (1976) hat die Verinnerlichung dieser Grundhaltung treffend als "Selbstzwangapparatur" bezeichnet: Die Verinnerlichung der Affekt- und Handlungskontrolle. David Riesman (1958) sprach vom innengeleiteten Charakter. Max Weber ist in der Wahl seiner Metapher für den so entstehenden Sozialcharakter noch drastischer. Er führte die Metapher vom "stahl-harten Gehäuse der Hörigkeit" ein. Dieses Lebensgehäuse fordert bedingungs-lose Unterwerfung unter ein rigides Über-Ich. Das eigenständige kritische Ich hatte gegen die errichtete Gewissensinstanz nur geringe Autonomiespielräume. Die Aufstiegsperiode der kapitalistischen Gesellschaftsformation beruhte - sozialpsychologisch betrachtet - auf den Fundamenten

6 des so erzeugten Charakterpanzers. Max Weber sprach von einem "mächtigen Kosmos der modernen Wirtschaftsordnung, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dieses Triebwerk hineingeboren werden - nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen -, mit überwältigendem Zwang bestimmt, vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist" (1963, S. 203). Das Hineinwachsen in diese Gesellschaft bedeutete bis in die Gegenwart hinein, sich in diesem vorgegebenen Identitätsgehäuse einzurichten. Die nachfolgenden Überlegungen knüpfen an diesem Bild an und betonen, dass dieses moderne Identitätsgehäuse seine Passformen für unsere Lebensbewältigung zunehmend verliert, auch wenn "der letzte Zentner fossilen Brennstoffs" noch nicht "verglüht ist". Das erleben viele Menschen als Verlust, als Unbehaustheit, als Unübersichtlichkeit, als Orientierungslosigkeit und Diffusität und sie versuchen sich mit allen Mitteln ihr gewohntes Gehäuse zu erhalten. Fundamentalismen und Gewalt sind Versuche dieser Art. Sie können die vorhandene Chance nicht sehen, nicht schätzen und vor allem nicht nutzen, aus dem "Gehäuse der Hörigkeit" auszuziehen und sich in kreativen Akten der Selbstorganisation eine Behausung zu schaffen, die ihre ist. Als Akt der Befreiung feiert Vilem Flusser (1994, S. 71) diese Entwicklung: "... wir beginnen, aus den Kerkerzellen, die die gegenwärtigen Häuser sind, auszubrechen, und uns darüber zu wundern, es solange daheim und zu Hause ausgehalten zu haben, wo doch das Abenteuer vor der Tür steht". Flusser empfiehlt uns, auf stabile Häuser ganz zu verzichten und uns mit einem Zelt und leichtem Gepäck auf dieses Abenteuer einzulassen. Nicht ganz so radikal sind die uns angebotenen Bilder, die uns als Konstrukteure und Baumeister unser eigenen Identitätsbehausungen zeigen. ArchitektIn und BaumeisterIn des eigenen Lebensgehäuses zu werden, ist allerdings für uns nicht nur Kür, sondern zunehmend Pflicht in einer grundlegend veränderten Gesellschaft. Es hat sich ein tiefgreifender Wandel von geschlossenen und verbindlichen zu offenen und zu gestaltenden sozialen Systemen vollzogen. Nur noch in Restbeständen existieren Lebenswelten mit geschlossener weltanschaulich-religiöser Sinngebung, klaren Autoritätsverhält-

7 nissen und Pflichtkatalogen. Die Möglichkeitsräume haben sich in einer pluralistischen Gesellschaften explosiv erweitert. In diesem Prozess stecken enorme Chancen und Freiheiten, aber auch zunehmende Gefühle des Kontrollverlustes und wachsende Risiken des Misslingens. Die qualitativen Veränderungen in der Erfahrung von Alltagswelten und im Selbstverständnis der Subjekte könnte man so zusammenfassen: Nichts ist mehr selbstverständlich so wie es ist, es könnte auch anders sein; was ich tue und wofür ich mich entscheide, erfolgt im Bewusstsein, dass es auch anders sein könnte und dass es meine Entscheidung ist, es so zu tun. Das ist die unaufhebbare Reflexivität unserer Lebensverhältnisse: Es ist meine Entscheidung, ob ich mich in einer Gewerkschaft, in einer Kirchengemeinde oder in beiden engagiere oder es lasse. Auf diesem Hintergrund verändern sich die Bilder, die für ein gelungenes Leben oder erfolgreiche Identitätsbildung herangezogen werden. Menschen hätten die festen Behausungen oder auch Gefängnisse verlassen: Sie seien Vagabunden, Nomaden oder Flaneure (so Bauman 1997). Die Fixierung an Ort und Zeit wird immer weniger. Es ist die Rede von der Chamäleon-Identität. Es wird die Metapher des Videobandes bemüht (Bauman 1997, S. 133): leicht zu löschen und wiederverwendbar. Die postmodernen Ängste beziehen sich eher auf das Festgelegtwerden ( Fixeophobie, nennt das Bauman (1996, S. 22). SIGNATUR DES GESELLSCHAFTLICHEN STRUKTURWANDELS Um die gesellschaftlichen Bedingungen für den aktuellen tiefgreifenden Umbruch zu benennen, werden wir gegenwärtig mit Schlagworten bombardiert: Von der Individualisierung, der Pluralisierung, der Globalisierung, der Virtualisierung oder der Flexibilisierung ist die Rede. In der Süddeutschen Zeitung vom 13.10.1998 kann man dieses Wortgeklingel bereits im Sportteil lesen: Da ist - unter Bezugnahme auf einen Vortrag des Freizeitforschers Horst W. Opaschowski - von einer Nonstop- Gesellschaft, in der Rast- und Ruhelosigkeit, Zeitoptimierung und Speed-Management den Ton angeben, die Rede. Da werden nur noch dem erfolgsorientierten Single Zukunftschancen eingeräumt, der mit Flexibilität auf den Trend zur Kurzfristigkeit rea-

8 gieren könne. Eine von der Angst getriebene Generation, ständig etwas zu verpassen, reagiere mit hektischem Erlebniskonsum und dem Trend zur Mobilität. Der Kopf schwirrt uns schon und es kommen weitere Formulierungen dazu. Seriosität ist in der Ansammlung solcher Schlagworte nicht zu erwarten. Ein zweites Beispiel: Gerd Gerken (1994) ist der intellektuelle opinion leader der deutschen Marketingfachleute. Er hat eine unglaubliche Fähigkeit zeitgeistige Strömungen und kulturelle Veränderungen aufzusaugen und daraus sofort Marketingstrategien zu entwickeln. Er ist ein Wortakrobat. Da werden Begriffe wie "Leading Edge", "Multi-Mind", "Multiphrenie" oder "Rhizom" verwendet. Er beobachtet, dass sich "jetzt das Ich des westlichen Menschen vermehrt" und darin läge "eine große Chance für eine neue Bewusstseins-Offensive der europä-ischen Unternehmen: Je mehr Ichs es gibt, um so mehr Bewusstsein kann repräsentiert werden. Je mehr Bewusstsein existiert, um so mehr Komplexität kann bewältigt werden". Und dann fährt Gerken fort: "Es entstehen also viele Ichs in einer Person. Das ist der neue Trend. Und es gibt auch schon einen Fachausdruck dafür: Multiphrenie" (S. 95). Unter Bezug auf die Jugend-Szene stellt er mentale Dissoziationsphänomene fest, die eine Destabilisierung erzeugen, ohne dass deshalb ein pathologischer Zustand entstehen müsse: "Um diese bewusste Destabilisierung mental organisieren zu können, gehen sie an die Grenze der Ich-Festigkeit. Das wird in Fachkreisen 'Borderline- Syndrom' genannt. Dadurch entsteht in unserer Kultur die Pluralisierung des Ichs und die Pluralisierung des Bewusstseins". Diese Entwicklung hält Gerken für eine "evolutionäre Notwendigkeit" (S. 96). Deshalb sei "die Multiphrenie also nichts Krankes oder Kaputtes. Dieser neue Ich-Trend ist vielmehr genau das Gegenteil". Sie sei sogar die "Wiederherstellung der Überlegenheit" (S. 97). An anderer Stelle formuliert er die Multiphrenie "sowohl als Herausforderung als auch Chance" für das "kommende Markt-Management" und prognostiziert, dass das "multiphrene Ich immer mehr in den Sektor des Konsums eindringen (wird). In den USA spricht man schon heute vom hybriden und 'schizophrenen Konsumenten'. Morgen werden wir den multiphrenen Konsumenten haben" (S. 101).

9 In diesen interpretativen Schnellschüssen wird auf eine gesellschaftliche Umbruchsituation reagiert, die kaum zu leugnen ist. Aber sie wird so gedeutet, dass sich die eigenen Rezepturen für Freizeit, Konsum oder Arbeit sofort aufdrängen. An den aktuellen Gesellschaftsdiagnosen hätte Heraklit seine Freude, der ja alles im Fließen sah. Heute wird uns ein fluide Gesellschaft oder die liquid modernity (Bauman 2000) zur Kenntnis gebracht, in der alles Statische und Stabile zu verabschieden ist. Die neue Qualität des Wandels: FLUIDE GESELLSCHAFT Individualisierung Grenzen geraten in Fluss, Konstanten werden zu Variablen. Wesentliche Grundmuster der FLUIDEN GESELLSCHAFT: Reflexivit ät Erlebnisorientierung Postmaterialismus Postmoderne Globalisierung Ent grenzung Globaler Horizont Grenzenloser Virtueller Raum Kultur/Natur: z.b. durch Gentechnik, Schönheitschirurgie Echtes / Konstruiertes Durchlässigkeit Größere Unmittelbarkeit: Interaktivität, E-Commerce Fernw irk ungen, Realtim e Öffentlich/Privat (z.b. WebCam s) Lebensphasen (z.b. Junge Alte ) Fusion Arbeit~Freizeit (mobiles Büro) Hochkultur~Popularkultur (Reich-Ranicki bei Gottschalk) Crossover, Hybrid-Formate Medientechnologien k onvergieren Wechselnde Konfigurationen Flexible Arbeitsorganisation Patchwork-Fam ilien, befristete Com m unities (z.b. Szenen) Modulare Konzepte (z.b. Technik) Sampling-Kultur (Musik, Mode) Digitalisierung Neue Meta-Herausforderung BOUNDARY-MANAGEMENT Quelle: Barz, H., Kampik, W., Singer, T. & Teuber, S. (2001). Neue Werte, neue Wünsche. Future Values. Düsseldorf/Berlin: Metropolitan. In Berlin hat Jürgen Habermas am 5. Juni 1998 dem Kanzlerkandidaten der SPD im Kulturforum von dessen Partei eine großartige Gegenwartsdiagnose geliefert. Aus ihr will ich nur seine Diagnose eines Formenwandels sozialer Integration aufgreifen, der in Folge einer postnationalen Konstellation entsteht: Die Ausweitung von Netzwerken des Waren-, Geld-, Personen- und Nachrichtenverkehrs fördert eine Mobilität, von der eine sprengende Kraft ausgeht (1998, S. 126). Diese Entwicklung fördert eine zweideutige Erfahrung : die Desintegration haltgebender, im Rückblick autoritärer Abhängigkeiten, die Freisetzung aus gleichermaßen orientierenden und schützenden wie präjuduzierenden und gefangen-

10 nehmenden Verhältnissen. Kurzum, die Entbindung aus einer stärker integrierten Lebenswelt entlässt die Einzelnen in die Ambivalenz wachsender Optionsspielräume. Sie öffnet ihnen die Augen und erhöht zugleich das Risiko, Fehler zu machen. Aber es sind dann wenigstens die eigenen Fehler, aus denen sie etwas lernen können (ebd., S. 126f.). Die großen Gesellschaftsdiagnostiker der Gegenwart sind sich in ihrem Urteil einig: Die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche gehen ans Eingemachte in der Ökonomie, in der Gesellschaft, in der Kultur, in den privaten Welten und auch an die Identität der Subjekte. In Frage stehen zentrale Grundprämissen der hinter uns liegenden gesellschaftlichen Epoche, die Burkart Lutz schon 1984 als den kurzen Traum immerwährender Prosperität bezeichnet hatte. Einer der interessanten Analytiker der Gegenwartsgesellschaft ist Manuel Castells, der in einer großangelegten Analyse die gesellschaftliche Transformationen der Weltgesellschaft in den Blick genommen hat (Castells 1996; 1997; 1998). Er rückt die elektronische Kommunikationsmöglichkeiten ins Zentrum seiner Globalisierungstheorie. Sie hätten zum Entstehen einer network society (so der Titel des ersten Bandes der Castells schen Trilogie) geführt, die nicht nur weltweit gespannte Kapitalverflechtungen und Produktionsprozesse ermöglichen würde, sondern auch kulturelle codes und Werte globalisiert. Für Castells bedeutet die Netzwerkgesellschaft eine qualitativen Wandel in der menschlichen Erfahrung (1996, S. 477): Die Konsequenzen der Netzwerkgesellschaft breiten sich über den gesamten Bereich der menschlichen Aktivität aus, und transformieren die Art, wie wir Produzieren, konsumieren, managen, organisieren, leben und sterben (Castells 1991, S. 138). Dieser mächtige neue Kapitalismus, der die Containergestalt des Nationalstaates demontiert hat, greift unmittelbar auch in die Lebensgestaltung der Subjekte ein. Auch die biographischen Ordnungsmuster erfahren eine reale Dekonstruktion. Am deutlichsten wird das in Erfahrungen der Arbeitswelt.

11 Einer von drei Beschäftigten in den USA hat mit seiner gegenwärtigen Beschäftigung weniger als ein Jahr in seiner aktuellen Firma verbracht. Zwei von drei Beschäftigten sind in ihren aktuellen Jobs weniger als fünf Jahre. Vor 20 Jahren waren in Großbritannien 80% der beruflichen Tätigkeiten vom Typus der 40 zu 40 (eine 40- Stunden-Woche über 40 Berufsjahre hinweg). Heute gehören gerade noch einmal 30% zu diesem Typus und ihr Anteil geht weiter zurück. Kenneth J. Gergen sieht ohne erkennbare Trauer durch die neue Arbeitswelt den Tod des Selbst, jedenfalls jenes Selbst, das sich der heute allüberall geforderten Plastizität nicht zu fügen vermag. Er sagt: Es gibt wenig Bedarf für das innengeleitete, onestyle-for-all Individuum. Solch eine Person ist beschränkt, engstirnig, unflexibel. (...) Wie feiern jetzt das proteische Sein (...) Man muss in Bewegung sein, das Netzwerk ist riesig, die Verpflichtungen sind viele, Erwartungen sind endlos, Optionen allüberall und die Zeit ist eine knappe Ware (2000, S. 104). In seinem vielbeachteten Buch Der flexible Mensch liefert Richard Sennett (1998) eine weniger positiv gestimmte Analyse der gegenwärtigen Veränderungen in der Arbeitswelt. Der Neue Kapitalismus überschreitet alle Grenzen, demontiert institutionelle Strukturen, in denen sich für die Beschäftigten Berechenbarkeit, Arbeitsplatzsicherheit und Berufserfahrung sedimentieren konnten. An ihre Stelle tritt ist die Erfahrung einer (1) Drift getreten: Von einer langfristigen Ordnung zu einem neuen Regime kurzfristiger Zeit (S. 26). Und die Frage stellt sich in diesem Zusammenhang, wie sich dann überhaupt noch Identifikationen, Loyalitäten und Verpflichtungen auf bestimmte Ziele entstehen sollen. Die fortschreitende (2) Deregulierung: Anstelle fester institutioneller Muster treten netzwerkartige Strukturen. Der flexible Kapitalismus baut Strukturen ab, die auf Langfristigkeit und Dauer angelegt sind. "Netzwerkartige Strukturen sind weniger schwerfällig". An Bedeutung gewinnt die "Stärke schwacher Bindungen", womit gemeint ist zum einen, "dass flüchtige Formen von Gemeinsamkeit den Menschen nützlicher seien als langfristige Verbindungen, zum anderen, dass starke soziale Bindungen wie Loyalität ihre Bedeutung verloren hätten" (S. 28). Die permanent geforderte Flexibilität

12 entzieht (3) festen Charaktereigenschaften den Boden und erfordert von den Subjekten die Bereitschaft zum Vermeiden langfristiger Bindungen und zur Hinnahme von Fragmentierung. Diesem Prozess geht nach Sennett immer mehr ein begreifbarer Zusammenhang verloren. Die Subjekte erfahren das als (4) Deutungsverlust: Im flexiblen Regime ist das, was zu tun ist, unlesbar geworden (S. 81). So entsteht der Menschentyp des (5) flexiblen Menschen: ein nachgiebiges Ich, eine Collage von Fragmenten, die sich ständig wandelt, sich immer neuen Erfahrungen öffnet - das sind die psychologischen Bedingungen, die der kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrung, flexiblen Institutionen, ständigen Risiken entsprechen (S. 182). Lebenskohärenz ist auf dieser Basis kaum mehr zu gewinnen. Sennett hat erhebliche Zweifel, ob der flexible Mensch menschenmöglich ist. Die wachsende (6) Gemeinschaftssehnsucht interpretiert er als regressive Bewegung, eine Mauer gegen eine feindliche Wirtschaftsordnung hochzuziehen (S. 190). Eine der unbeabsichtigten Folgen des modernen Kapitalismus ist die Stärkung des Ortes, die Sehnsucht der Menschen nach Verwurzelung in einer Gemeinde. All die emotionalen Bedingungen modernen Arbeitens beleben und verstärken diese Sehnsucht: die Ungewissheiten der Flexibilität; das Fehlen von Vertrauen und Verpflichtung; die Oberflächlichkeit des Teamworks; und vor allem die allgegenwärtige Drohung, ins Nichts zu fallen, nichts aus sich machen zu können, das Scheitern daran, durch Arbeit eine Identität zu erlangen. All diese Bedingungen treiben die Menschen dazu, woanders nach Bindung und Tiefe zu suchen (S. 189 f.). Richard Sennett ist skeptisch, dass die sich abzeichnenden neuen Arbeits- und Lebensformen dem Menschen gut tun. Weniger eindeutig ist Zygmunt Bauman, der seit seinen beiden deutschen Büchern Moderne und Ambivalenz und Dialektik der Ordnung als einer der einflussreichsten zeitgenössischen Denker gilt. In seinem Buch Unbehagen in der Postmoderne (Bauman 1999a) versucht er sich erneut an einer zukunftsorientierten Gegenwartsdiagnose. Er knüpft schon im Titel seines Buches an Freuds große Kulturkritik an, die vor genau 70 Jahren erschien: Das Unbehagen in der Kultur. Freud hatte festgestellt, dass der Kulturmensch für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht hat (Freud

13 1930). Für Bauman hat sich in der Postmoderne die Relation umgekehrt und die Subjekte erleben eine andere Art von Unbehagen: Postmoderne Männer und Frauen haben ein Stück ihrer Sicherheitsmöglichkeiten gegen ein Stück Glück eingetauscht (1999a, S. 11, kursiv im Original). Und dann kommt ein Satz, der mir so bekannt vorkommt, obwohl ich das Buch zum ersten Mal lese: Das Unbehagen der Postmoderne entsteht aus einer Freiheit, die auf der Suche nach Lustgewinn zuwenig individuelle Sicherheit toleriert (ebd.). Wo habe ich diesen Satz schon einmal gehört? Und dann fällt es mir ein: Beim Frühstück las ich in der Süddeutschen Zeitung die Überschrift zu einem Artikel über den Regelungsbedarf im Internet: Lieber Freiheit als Sicherheit (SZ vom 19./20.02.2000, S. 2). Das berühmte Buch von Erich Fromm Furcht vor der Freiheit würde heute einen Nachfolger Furcht in der Freiheit brauchen. In dem entgrenzten globalisierten Kapitalismus erleben die Menschen eine spezifische Entsicherung. Für Zygmunt Bauman lassen sich vier Dimensionen der gegenwärtigen Ungewissheit umreißen, die ein spezifisches Angstmilieu, eine Atmosphäre uns umgebender Furcht konstituieren: (1) Die neue Weltunordnung Auf ein halbes Jahrhundert eindeutiger Trennlinien, klar umrissener Interessenlagen und keinerlei Zweifeln unterliegender politischer Ziele und Strategien folgte eine Welt ohne jede erkennbare Struktur und ohne jede. auch noch so finstere - Logik. Die Politik der Machtblöcke, die bis vor kurzem noch die Welt dominierte, verbreitete Angst infolge ihrer schreckenerregenden Möglichkeiten; was immer nun an ihre Stelle getreten ist, macht Angst durch seinen Mangel an Konsistenz und Zielgerichtetheit - und das heißt, durch die Grenzenlosigkeit der nur erahnten Möglichkeiten (S. 44). (2) Die universelle Deregulierung Sie bezieht sich auf die fraglose und uneingeschränkte Priorität, die der Irrationalität eingeräumt wird, die grenzenlose Freiheit, die Kapital und Finanzen auf Kosten aller anderer Freiheiten genießen, das Zerreißen der gesellschaftlich geknüpften und intandgehaltenen Sicherheitsnetze und das Leugnen aller Argumente mit Ausnahme von wirtschaftlichen - versetzte dem erbarmungslosen Po-

14 larisierungsprozess einen neuen Schub (S. 45). Kein Arbeitsplatz ist garantiert, keine Position narrensicher, keine Kompetenz von dauerhaftem Nutzen; Erfahrungen Know-how wandeln sich zu Nachteilen, kaum dass sie Aktiva wurden, verlockende Karrieren erweisen sich allzuoft als Harakiri-Unterneh-men (S. 46). (3) Die Erosion traditioneller Sicherheitsnetze im Dickicht der Lebenswelt. Die anderen Sicherheitsnetze, selbstgeknüpft und instand gehalten, jene Rückzugslinien, die einst der nachbarschaftliche der der Familienverband boten und hinter die man sich mit seinen Wunden aus den Scharmützeln auf dem freien Markt zurückziehen konnte, sind, wenn nicht ganz zerfallen, so doch zumindest erheblich geschwächt (S. 46f.). (4) Die essentielle Unbestimmtheit... die essentielle Unbestimmtheit und formbare Weichheit der Welt: In dieser Welt ist alles möglich und alles machbar, doch nichts ein für allemal - und was auch passiert, es geschieht unangekündigt und verschwindet genauso sang- und klanglos wieder. In dieser Welt werden Bindungen zu einer Folge von Bewegungen verfälscht, Identitäten zu aufeinander folgenden Masken, Lebensgeschichten zu Episodenreihen, deren einzige bleibende Bedeutung in der gleichermaßen kurzlebigen Erinnerung an sie liegt. Nichts lässt sich mit Sicherheit wissen, und alles, was man weiß, lässt sich auch anders wissen. (...) Und so gibt es wenig auf der Welt, was man als solide und zuverlässig betrachten könnte, nichts, was an festen Kettfäden erinnern würde, in die man das Tuch des eigenen Lebensweges hineinweben könnte (S. 48). Wenn ich jetzt so weiterdenke, dann wird es eine schwarze Vision: Angst und Unsicherheit treiben die Menschen um. Sie erleiden die gesellschaftlichen Umbrüche und sehen ihre Zukunft vor allem als Verlust. Fundamentalismus und rechter Populismus gedeihen auf diesem Boden prächtig. Die Subjekte und vor allem die Autoren, die über ihre Erfahrungen schreiben, hängen offensichtlich noch den alteuropäischen Idealen, ohne die positiven Möglichkeiten der aktuellen gesellschaftlichen Dynamiken zu sehen. Statt bei den kulturkritischen Meisterdenker sollten wir uns die Visionen eher in

15 dem Bereich holen, in dem Chancen der Veränderungen längst in der Gestalt kontenmässig nachweisbarer Gewinne genutzt werden. BEFINDLICHKEITEN IN DER POSTMODERNEN GESELLSCHAFT Wie hat sich der Alltag der Menschen in den letzten Jahrzehnten verändert? Ich werde zehn Erfahrungskomplexe ansprechen: 1. Die Erfahrung der "Entbettung" oder eine "ontologische Bodenlosigkeit". Es gibt gesellschaftliche Phasen, in denen die individuelle Lebensführung in einen stabilen kulturellen Rahmen von verlässlichen Traditionen "eingebettet" wird, der Sicherheit, Klarheit, aber auch hohe soziale Kontrolle vermittelt und es gibt Perioden der "Entbettung" (Giddens 1997, S. 123), in denen die individuelle Lebensführung wenige kulturelle Korsettstangen nutzen kann bzw. von ihnen eingezwängt wird und eigene Optionen und Lösungswege gesucht werden müssen. Viele Menschen erleben das als "ontologische Bodenlosigkeit". Gerade in einer Phase gesellschaftlicher Modernisierung, wie wir sie gegenwärtig erleben, ist eine selbstbestimmte "Politik der Lebensführung" unabdingbar. 2. Entgrenzung der individuellen und kollektiven Lebensmuster. Bezogen auf die Grundkompetenzen, die Heranwachsende in einer posttraditionalen Gesellschaft benötigen, stellt Helmut Fend (1988, S. 296) heraus, dass Tugenden, mit (unveränderlichen) Umständen leben zu können, weniger funktional und weniger eintrainiert (seien) als Tugenden, sich klug entscheiden zu können und Beziehungsverhältnisse aktiv befriedigend zu gestalten". Die Schnittmuster, nach denen Menschen sich biographisch entwerfen und ihr Leben verwirklichen sollten, haben ihre Prägekraft verloren. Die Tugend des klugen Arrangements mit den vorgegebenen Normen verlieren in einer multioptionalen Gesellschaft an Normalitätswert. Die noch eine Generation früher geteilten Vorstellungen von Erziehung, Sexualität, Gesundheit, Geschlechter- oder Generationenbeziehung verlieren den Charakter des Selbstverständlichen. 3. Erwerbsarbeit als Basis der Identitätsbildung wird brüchig. Die industriell-kapitalistische Gesellschaft hat vor allem durch die Ar-

16 beit eine verlässliche "Einbettung" ermöglicht. Aber die vorhandene Erwerbsarbeit wird weniger und damit wird es auch immer mehr zu einer Illusion, alle Menschen in die Erwerbsarbeit zu integrieren. Die psychologischen Folgen dieses Prozesses sind e- norm, gerade in einer Gesellschaft, in der die Teilhabe an der Erwerbsarbeit über Ansehen, Zukunftssicherung und persönliche I- dentität entscheidet. 4. Fragmentierung von Erfahrungen. Die wachsende Komplexität von Lebensverhältnissen führen zu einer Fülle von Erlebnis- und Erfahrungsbezügen, die sich aber in kein Gesamtbild mehr fügen. Diese Erfahrungssplitter sind wie Teile eines zerbrochenen Hohlspiegels. Wir haben meist keine andere Chance, als sie unverbunden nebeneinander stehen zu lassen. Es sind hohe psychische Spaltungskompetenzen gefordert, um nicht verrückt zu werden. Es entsteht eine "multiphrene Situation" als Normalphänomen (Gergen 1991). Aber wir sind nicht nur vielfältig zerspalten, zerrissen und unfähig, aus den Erfahrungen wieder einen in sich stimmigen Erlebniskosmos zu konstruieren. In gewisser Weise machen wir jeden Tag multikulturelle Erfahrungen, die auch einen Reichtum ausmachen, die eindimensionale Bewusstseinshorizonte überschreiten, die ein Gefühl für den Wert von Heterogenität vermitteln. 5. Hinzu kommen Entwicklungen, deren allgemeine Konsequenzen für alltägliche Lebenswelten und die Subjektkonstitution noch schwer prognostizierbar sind. Hier meine ich vor allem die Entstehung von "virtuellen Welten" und "virtuellen Gemeinschaften", die die weltweite Vernetzung computergebundener Kommunikationswege eröffnen (Rheingold 1994). Sie fördern den Zweifel an dem einen "Realitätsprinzip". 6. Unser Zeitempfinden, die subjektiven Bezüge zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verändert sich in charakteristischer Weise. Lübbe spricht von der Erfahrung der "Gegenwartsschrumpfung". Der Grund dafür liegt in einer Innovationsverdichtung, die die "Halbwertzeiten" des aktuell geltenden Wissens ständig verringert. "Der hier gemeinte Effekt ist, dass komplementär zur Neuerungsrate zugleich die Veraltensrate wächst. Die kulturellen Folgen die-

17 ser fortschrittsabhängig zunehmenden Veraltensgeschwindigkeit sind erheblich. In einer dynamischen Zivilisation nimmt die Menge der Zivilisationselemente zu, die noch gegenwärtig sind, aber über die sich schon die Anmutungsqualität der Gestrigkeit oder Vorgestrigkeit gelegt hat. Anders ausgedrückt: In einer dynamischen Zivilisation nimmt die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen zu" (Lübbe 1994, S. 56). 7. Pluralisierung von Lebensformen und Milieus führen zu einer schier unendlichen Fülle von Alternativen. Peter Berger (1994, 83) spricht von einem "explosiven Pluralismus", ja von einem "Quantensprung". Seine Konsequenzen benennt er so: "Die Moderne bedeutet für das Leben des Menschen einen riesigen Schritt weg vom Schicksal hin zur freien Entscheidung. (...) Aufs Ganze gesehen gilt..., dass das Individuum unter den Bedingungen des modernen Pluralismus nicht nur auswählen kann, sondern das es auswählen muss. Da es immer weniger Selbstverständlichkeiten gibt, kann der Einzelne nicht mehr auf fest etablierte Verhaltens- und Denkmuster zurückgreifen, sondern muss sich nolens volens für die eine oder andere Möglichkeit entscheiden. (...) Sein Leben wird e- benso zu einem Projekt - genauer, zu einer Serie von Projekten - wie seine Weltanschauung und seine Identität" (1994, 95). 8. Eine besondere Veränderungsdynamik folgt aus der Veränderung der Geschlechterrollen. Die Frauenbewegung hat einen Bereich gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten aufgebrochen, der die alltägliche Ordnung der Dinge in besonderer Weise steuerte. In Frage stehen die klassische Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, von Innen und Außen. Die häuslichen Arrangements von Arbeitsteilung, Kindererziehung oder Sexualität werden Themen in politischen Arenen. Bei der Suche nach Identitäten als Männer und Frauen werden einerseits schmerzlich die tief eingeschliffenen traditionellen Muster spürbar und sie sind oft genug nicht zu überwinden; andererseits eröffnen sich offene Horizonte der Konstruktion neuer und weniger starrer Identitäten. 9. Individualisierung im Widerspruch von Egozentrierung und selbstbestimmten Gemeinschaftserfahrungen. In den westlichen Gesellschaften zerbrechen sich BürgerInnen und Wissenschaflte-

18 rinnen den Kopf über den sozialen "Kitt", der jene sich allmählich neu herausbildenden gesellschaftliche Systeme zusammenhalten könnte (Keupp 1997). Bisher waren das Strukturen der Tradition, des Zwangs, der Ab- und Ausgrenzung; gemeinsame religiöse Bindungen; also die Regulative der Moderne. All' diese Mechanismen verlieren an Bindekraft, Verbindlichkeit und Überzeugungskraft. In der politischen Arena wird die Solidargemeinschaft bereits als gefährdetes Gut diskutiert, gefährdet durch eine sich immer stärker durchsetzende "Ego-Gesellschaft". Diese Analysen fallen oft sehr einäugig aus und gehen von dem rückwärtsgewandten Modell der amerikanischen Geschichte aus, das wir bei Tocqueville beschrieben finden. Dass eine Gesellschaft, die sich im Sinne des liberalistischen Modells vollständig auf die gesellschaftliche Regulationskraft der auf den Markt getragenen individuellen Einzelinteressen verlässt, eine Ego-Gesellschaft ohne Gemeinschaftsverantwortung und -engagement werden kann, ist natürlich kaum zu bestreiten. Wir haben gesellschaftliche Segmente, in denen sie sich bereits etabliert hat, aber Individualisierung ist nicht per se mit der Entwicklung einer Ego-Kultur identisch. Im Gegenteil! Es gibt genug empirische Hinweise auf hohe Solidaritätspotentiale. 10. Der Verlust des Glaubens an die "Meta-Erzählungen" und die individualisierten Sinn-Bastler. Die traditionelle Instanzen der Sinnvermittlung verlieren an Bedeutung. Sie können die Erfahrungsvielfalt und den Pluralismus von Deutungen nicht mehr ohne weiteres aus dem Feld schlagen. Die großen Deutungssysteme, deren Anspruch ja auf nichts geringeres zielte als auf eine Erklärung dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, haben sich entweder im Alltag auf teilweise entsetzliche Weise selbst diskreditiert bzw. ziehen sich bescheidener werdend zurück. Vielleicht ist es sinnvoller, das "Ende der Meta-Erzählungen" weniger als den Zusammenbruch des Glaubens an innere Zusammenhänge unserer Welt zu begreifen, sondern eher als das Ende der etablierten Deutungsinstanzen. Der einzelne ist der Konstrukteur seines eigenen Sinnsystems und das enthält durchaus Materialien der traditionellen Sinninstitutionen.

19 Die verallgemeinerbare Grunderfahrung der Subjekte in den Ländern des globalisierten Kapitalismus ist die "ontologische Bodenlosigkeit", eine radikale Enttraditionalisierung, der Verlust von unstrittig akzeptierten Lebenskonzepten, übernehmbaren Identitätsmustern und normativen Koordinaten. Subjekte erleben sich als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne dass ihnen fertige Drehbücher geliefert würden. Genau in dieser Grunderfahrung wird die Ambivalenz der aktuellen Lebensverhältnisse spürbar. Es klingt natürlich für Subjekte verheißungsvoll, wenn ihnen vermittelt wird, dass sie ihre Drehbücher selbst schreiben dürften, ein Stück eigenes Leben entwerfen, inszenieren und realisieren könnten. Die Voraussetzungen dafür, dass diese Chance auch realisiert werden können, sind allerdings bedeutend. Die erforderlichen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen sind oft nicht vorhanden und dann wird die gesellschaftliche Notwendigkeit und Norm der Selbstgestaltung zu einer schwer erträglichen Aufgabe, der man sich gerne entziehen möchte. Die Aufforderung, sich selbstbewusst zu inszenieren, hat ohne Zugang zu der erforderlichen Ressourcen, etwas zynisches. Wie könnte man die Aufgabenstellung für unsere alltägliche Identitätsarbeit formulieren? Hier meine thesenartige Antwort: Im Zentrum der Anforderungen für eine gelingende Lebensbewältigung stehen die Fähigkeiten zur Selbstorga-nisation, zur Verknüpfung von Ansprüchen auf ein gutes und authentisches Leben mit den gegebenen Ressourcen und letztlich die innere Selbstschöpfung von Lebenssinn. Das alles findet natürlich in einem mehr oder weniger förderlichen soziokulturellem Rahmen statt, der aber die individuelle Konstruktion dieser inneren Gestalt nie ganz abnehmen kann. Es gibt gesellschaftliche Phasen, in denen der individuellen Lebensführung die bis dato stabilen kulturellen Rahmungen abhanden kommen und sich keine neuen verlässlichen Bezugspunkte der individuellen Lebensbewältigung herausbilden. Gegenwärtig befinden wir uns in einer solchen Phase. Meine These bezieht sich genau darauf: Ein zentrales Kriterium für Lebensbewältigung bildet die Chance, für sich ein innere Lebenskohärenz zu schaffen. In früheren gesellschaftlichen Epochen war die Bereitschaft zur Übernahme vorgefertigter Identitätspakete

20 das zentrale Kriterium für Lebensbewältigung. Heute kommt es auf die individuelle Passungs- und Identitätsarbeit an, also auf die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zum "Selbsttätigwerden" oder zur Selbsteinbettung. Das Gelingen dieser Identitätsarbeit bemisst sich für das Subjekt von Innen an dem Kriterium der Authentizität und von Außen am Kriterium der Anerkennung. Bei seinem Versuch, das Wesen der Psychose zu erfassen, hat Manfred Bleuler eine passende Formulierung für die Passungsaufgaben von Identitätsarbeit gefunden: "Es geht im Leben darum, dass wir die verschiedenen, oft sich widersprechenden inneren Strebungen harmonisieren, so dass wir ihrer Widersprüchlichkeit zum Trotz ein Ich, eine ganze Persönlichkeit werden und bleiben. Gleichzeitig haben wir uns damit auseinanderzusetzen, dass unsere äußeren Lebensverhältnisse nie den inneren Bedürfnissen voll entsprechen, dass wir uns an Umwelt und Realität anzupassen haben" (1987, S. 18). Die Psychose ist für Bleuler ein Zeichen dafür, dass ein Subjekt vor der Anforderung kapituliert hat "die Harmonisierung seiner inneren Welt und um seine Anpassung an die äußere Welt zu schaffen" (S. 18f.). Dieses Modell des Scheiterns zeigt im Umkehrschluss, was Identitätsarbeit im Sinne dieser kontinuierlichen Passungsarbeit zu leisten hat.

21 Identitätsarbeit hat eine innere und äußere Dimension. Eher nach außen gerichtet ist die Dimension der Passungsarbeit. Unumgänglich ist hier die Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit und von Anerkennung und Integration. Eher nach,innen', auf das Subjekt, bezogen ist Synthesearbeit zu leisten, hier geht es um die subjektive Verknüpfung der verschiedenen Bezüge, um die Konstruktion und Aufrechterhaltung von Kohärenz und Selbstanerkennung, um das Gefühl von Authentizität und Sinnhaftigkeit. Kohärenz und Authentizität, Anerkennung und Handlungsfähigkeit sind nach unserer Einsicht unhintergehbare Modi alltäglicher Identitätsarbeit, sie sind existenziell. Sie können außerdem als wichtige Indizien für eine,gelungene Identität' bezeichnet werden. Zum Verständnis alltäglicher Identitätsarbeit sind weiterhin noch zwei Perspektiven relevant. Zum einen: Die konkrete Ausgestaltung von Identität hängt von den individuellen, den materiellen und sozialen Ressourcen der Person ab. Zum anderen: Identität ist nicht nur Handlung, sondern auch Text - also die Erzählung seiner selbst, eine Selbstnarration. Selbstnarration ist der erzählerische Prozess, in dem Subjekte sich selbst verstehen, anderen mitteilen und so ihren narrativen Faden in das Gesamtgewebe einer Kultur, die auch eine Erzählung ist, einweben. In unserem eigenen Modell lässt sich der innere Zusammenhang der genannten Prozesse darstellen. Lässt sich angesichts der beschriebenen Individualisierungsprozesse in einer zunehmend pluralisierten und fragmentarisierten sozialen Welt überhaupt etwas allgemein Gültiges, etwas Modellhaftes zur Konstruktion von Identität sagen? Und was sollte als Maßstab genommen werden, anhand dessen man Identitätsarbeit als gelungen bezeichnen könnte? Methodologisch und moralisch wäre es mehr als fragwürdig, hier einen objektiven Maßstab anzunehmen, der in irgendeiner Weise das Definitionsmonopol des Subjektes über sein Lebensglück und seinen Lebens-Sinn in Frage stellen wollte. Unterhalb dieses Anspruchs ist das von uns erarbeitete theoretische Modell zu Identität jedoch als Analyse- Instrument für Identitätsprobleme aus der Perspektive des Subjek-

22 tes brauchbar. Mit Hilfe unserer theoretischen Modellvorstellungen kann in einem fiktiven Dialog mit dem nämlichen Subjekt erörtert werden, inwieweit die Intentionen des Subjektes in seinem Alltagshandeln verwirklicht sind, beziehungsweise wie weit und mit welchen Kosten sich das Subjekt in seiner alltäglichen Identitätsarbeit seinen Identitäts-Projekten annähern kann. Gelungene Identität ermöglicht dem Subjekt das ihm eigene Maß an Kohärenz, Authentizität, Anerkennung und Handlungsfähigkeit. Weil diese Modi in der Regel aber in einem dynamischen Zusammenhang stehen, weil beispielsweise Authentizität und Anerkennung in Widerstreit geraten können, ist gelungene Identität in den allerseltensten Fällen ein Zustand der Spannungsfreiheit. VON DER PATHO- ZUR SALUTOGENESE: DIE BEDEUTUNG DES "KOHÄRENZSINNS" Lebenserfahrungen, in denen Subjekte sich als ihr Leben Gestaltende konstruieren können, in denen sie sich in ihren Identitätsentwürfen als aktive Produzenten ihrer Biographie begreifen können, sind offensichtlich wichtige Bedingungen der Gesunderhaltung. Der israelische Gesundheitsforscher Aaron Antonovsky hat diesen Gedanken in das Zentrum seines "salutogenetischen Modells" gestellt. Es stellt die Ressourcen in den Mittelpunkt der Analyse, die ein Subjekt mobilisieren kann, um mit belastenden, widrigen und widersprüchlichen Alltagserfahrungen produktiv umgehen zu können und nicht krank zu werden. WAS IST SALUTOGENESE? Das Konzept stammt von dem israelischen Gesundheitsforscher Aaron Antonovsky. Sein "salutogenetisches" Denkmodell (abgeleitet vom lateinischen Begriff 'saluto' für Gesundheit) formuliert eine Alternative zur Pathogenese, also zur Entstehung von Krankheiten. Gefragt ist nicht, was macht krank, sondern wie es Menschen schaffen, gesund zu bleiben, trotz unterschiedlicher gesundheitlicher Belastungen. Von besonderer gesundheitsförderlicher Bedeutung sind die Widerstandsressourcen einer Person. Dazu zählen:

23 - Körperliche Resistenzbedingungen - Psychische Ressourcen - Materielle Ressourcen - Psychosoziale Ressourcen Von besonderer Relevanz ist der "Kohärenzsinn", die Fähigkeit, in seinem Leben Sinn zu entdecken oder zu stiften Dieses Modell geht von der Prämisse aus, dass Menschen ständig mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert werden. Der Organismus reagiert auf Stressoren mit einem erhöhten Spannungszustand, der pathologische, neutrale oder gesunde Folgen haben kann, je nachdem, wie mit dieser Spannung umgegangen wird. Es gibt eine Reihe von allgemeinen Widerstandsfaktoren, die innerhalb einer spezifischen soziokulturellen Welt als Potential gegeben sind. Sie hängen von dem kulturellen, materiellen und sozialen Entwicklungsniveau einer konkreten Gesellschaft ab. Mit organismisch-konstitutionellen Widerstandsquellen ist das körpereigene Immunsystem einer Person gemeint. Unter materiellen Widerstandsquellen ist der Zugang zu materiellen Ressourcen gemeint (Verfügbarkeit über Geld, Arbeit, Wohnung etc.). Kognitive Widerstandsquellen sind "symbolisches Kapital", also Intelligenz, Wissen und Bildung. Eine zentrale Widerstandsquelle bezeichnet die Ich- Identität, also eine emotionale Sicherheit in bezug auf die eigene Person. Die Ressourcen einer Person schließen als zentralen Bereich seine zwischenmenschlichen Beziehungen ein, also die Möglichkeit, sich von anderen Menschen soziale Unterstützung zu holen, sich sozial zugehörig und verortet zu fühlen. Antonovsky zeigt auf, dass alle mobilisierbaren Ressourcen in ihrer Wirksamkeit letztlich von einer zentralen subjektiven Kompetenz abhängt: Dem "Gefühl von Kohärenz". Er definiert dieses Gefühl so: "Das Gefühl der Kohärenz, des inneren Zusammenhangs ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, inwieweit jemand ein sich auf alle Lebensbereiche erstreckendes, überdauerndes und doch dynamisches Vertrauen hat, dass (1) die Reize aus der inneren und äußeren Welt im Laufe des Lebens strukturiert, vorhersagbar und erklärbar sind; dass (2) es Mittel und Wege gibt, die Aufgaben zu lösen, die durch diese Reize gestellt werden; und dass

24 (3) diese Aufgaben Herausforderungen sind, für die es sich lohnt, sich zu engagieren und zu investieren" (1987, S. 19). KOHÄRENZSINN: DAS HERZSTÜCK DER SALUTOGENESE Kohärenz ist das Gefühl, dass es Zusammenhang und Sinn im Leben gibt, dass das Leben nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal unterworfen ist. Der Kohärenzsinn beschreibt eine geistige Haltung: Meine Welt ist verständlich, stimmig, geordnet; auch Probleme und Belastungen, die ich erlebe, kann ich in einem größeren Zusammenhang sehen (Verstehensdimension). Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge über Ressourcen, die ich zur Meisterung meines Lebens, meiner aktuellen Probleme mobilisieren kann (Bewältigungsdimension). Für meine Lebensführung ist jede Anstrengung sinnvoll. Es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt (Sinndimension). Der Zustand der Demoralisierung bildet den Gegenpol zum Kohärenzsinn. Antonovsky transformiert eine zentrale Überlegung aus dem Bereich der Sozialwissenschaften zu einer grundlegenden Bedingung für Gesundheit: Als Kohärenzsinn wird ein positives Bild der eigenen Handlungsfähigkeit verstanden, die von dem Gefühl der Bewältigbarkeit von externen und internen Lebensbedingungen, der Gewissheit der Selbststeuerungsfähigkeit und der Gestaltbarkeit der Lebensbedingungen getragen ist. Der Kohärenzsinn ist durch das Bestreben charakterisiert, den Lebensbedingungen einen subjektiven Sinn zu geben und sie mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen in Einklang bringen zu können. In unserer eigenen Untersuchung haben wir eindrucksvolle Befunde für die Bedeutung des Kohärenzsinns gefunden. Wir haben Antonovskys Messinstrument zur Messung des Kohärenzsinns eingesetzt und klar belegen können, dass Heranwachsende umso mehr psychosomatische Beschwerden berichten, je geringer ihre Werte für den Kohärenzsinn sind.