Schriftliche Prüfung vom 19. Juni 2008, 14-16 Uhr Sozialversicherungsrecht (Prof. Dr. Gabriela Riemer- Kafka) Sachverhalt: Mit 9 Jahren stürzte Marco Müller vom Velo, weil er von einem nicht beaufsichtigten heranspringenden Hund zu Fall gebracht wurde. Neben Brüchen an Arm und Bein, welche bei letzterem durch Störung des Wachstums zu dessen starken Verkürzung geführt haben, erlitt er ein so starkes Trauma (Schock), dass er seither psychische Probleme hat und stottert. Marco ist ein ehrgeiziger Schüler und schafft nach der 3. Sekundarschulklasse die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium, muss dieses jedoch gesundheitsbedingt abbrechen. Er kann daraufhin beim Forstamt seiner Wohngemeinde eine Schnupperwoche absolvieren und die Forstbeamten auch auf ihren Inspektionen in Feld und Wald begleiten. Er entschliesst sich danach für eine kaufmännische Lehre auf der Verwaltung mit anschliessender Berufsmatura und will anschliessend das Studium zum Forstingenieur (FH) aufnehmen. Etwa zwei Monate nach Aufnahme seiner neuen Ausbildung auf der Gemeinde wird er von hohem Fieber befallen, gefolgt von Gelenkschmerzen. Nach einem halben Jahr wird er mit einer akuten Hirnhautentzündung notfallmässig ins Spital eingeliefert. Der Verlauf der Erkrankung ist leider mit Komplikationen verbunden, die zu einem bleibenden neurologisch bedingtem Hör- und Sprachverlust führen. Erst im Nachhinein stellen die Ärzte fest, dass Ursache der Erkrankung das von der Zecke übertragene Borreliose-Bakterium ist. (FH: Fachhochschule) Fragen: 1. Zählen Sie 6 Unterschiede zwischen der Invaliden- und der Unfallversicherung auf (zusätzliche Unterschiede geben Zusatzpunkte). 2. Da Marcos Mutter von Beruf Psychiaterin FMH ist, möchte sie ihren Sohn selbst behandeln. Übernimmt die Krankenkasse die Kosten? 3. Hat der 9-jährige Marco für das verkürzte Bein Anspruch auf eine Geldleistung? Wenn ja, von wem? 1
4. Welche Folgen werden die bleibenden Gesundheitsschäden der Lymen Borreliose auf die Ausbildung von Marco haben? a) Was müssen Marcos Eltern unternehmen? Beschreiben Sie schrittweise das Verfahren. b) Haben Marcos Eltern mit einer finanziellen Mehrbelastung für die Ausbildung zu rechnen? c) Kann sich Marco nach seinen Wünschen zum Forstingenieur (FH) ausbilden lassen? 5. Wird Marco Anspruch auf eine Invalidenrente erheben können? a) Welche Versicherung(en) kommt(en) in Frage? b) Bei der Prüfung der Rentenberechtigung geht die eine Versicherung von einem hyp. Valideneinkommen eines (kaufm.) Verwaltungsangestellten (Fr. 60'000.-) aus und berechnet einen Invaliditätsgrad von nur 10%. Die andere Versicherung setzt für das hyp. Valideneinkommen eines Forstingenieurs (Fr. 110'000.-) ein und berechnet einen Invaliditätsgrad von 50%. Welches der beiden hyp. Valideneinkommen ist richtig bestimmt worden? c) Hat das verkürzte Bein einen Einfluss auf die Höhe des Invaliditätsgrades? 6. Das kantonale Sozialversicherungsgericht entscheidet auf Grund der von der Versicherung eingeholten Stellungnahmen sofort und erhebt Gerichtskosten im Betrag von Fr. 1000.-. Marcos Eltern können sich dies jedoch nicht leisten. Was würde der Anwalt von Marcos Eltern dazu sagen? 7. Welche sozialversicherungsrechtlichen Folgen treten für den mittlerweile 19- jährigen Marco beim Tod seines Vaters ein? Korrekturschema Sozialversicherungsrecht: 19.6.2008 Allgemeiner Hinweis: - Fehlende Artikelangaben geben 0,25 P Abzug. - Die Antworten werden nach ihrem Sinn bewertet, dh danach, ob das Problem erkannt wurde - Bei Antworten, die ein Ermessen einräumen, werden alle begründeten Varianten gleich bewertet. Zur Frage 1: Unterschiede zwischen IV UV 2
insgesamt. Jeder aufgeführte Unterschied 0,5 Punkt, bei mehr als 6 richtigen 3+ IV UV a) Volksversicherung Arbeitnehmerversicherung b) finale Versicherung kausale Versicherung c) Solidaritätsprinzip Risikobeiträge, Äquivalenzp. d) Lohnbeiträge paritätisch Lohnbeiträge durch Ag bei BU; durch An bei NBU e) Eingliederung/Rente Sachleistungen/Rente/Taggeld f) Tabellenrenten Rente abhängig vom vers. Verd. g) staatl. IV-Stellen suva und andere private Inst. h) Vorbescheidverfahren Einspracheverfahren i) keine Tatfragen vor BGer Tatfragen vor BGer k) IV-Rente ab 40% IV-Rente ab 10% l) gestufte Renten lineare Renten Zur Frage 2: - Abschliessende Positivliste (Listenprinzip) bezüglich Leistungserbringer (Art. 36 KVG) 1 P - Mutter ist als Psychiaterin FMH ausgewiesene Ärztin und daher zugelassene Leistungserbringerin 1P oder auf ärztliche Anordnung delegierte Psychotherapie 0,75 P - Trotz elterlicher Beistandspflicht und Schadensminderungspflicht 0,5 P übernimmt die KK die Kosten der ärztlichen Behandlung durch die Mutter. - Freie Arztwahl (Art. 41 KVG) 0,5 P Zur Frage 3: - Haftpflicht des Hundehalters 0,5 P und Anspruch auf Genugtuung 0,5 P - kein künftiger Erwerbsausfall wahrscheinlich, da ein 9-jähriges Kind sich beruflich entsprechend orientieren kann: keine Erwerbsausfallleistungen 1 P - Hilflosenentschädigung nicht gegeben (Art. 42 IVG) 1 P 3
Zur Frage 4: Marco wird die kaufmännische Lehre auf der Gemeindeverwaltung nicht fortsetzen können. a): Marcos Eltern müssen, als gesetzliche Vertreter, ihren Sohn bei der IV zum Bezug von beruflichen Eingliederungsmassnahmen anmelden (Art. 29 ATSG) oder Meldung zur Früherfassung und Frühintervention mit nachheriger Anmeldung (Art. 3b IVG) 0,33 P. Die IV klärt die gesundheitsbedingt eingeschränkten Berufsmöglichkeiten (Berufsberatung) ab 0,33 P und verfügt eine erstmalige berufliche Ausbildung i.s.v. Art. 16 IVG 0,33 P. b): - Die IV übernimmt alle invaliditätsbedingten Mehrkosten der Ausbildung (Vergleichsrechnung zwischen Kosten der Ausbildung ohne Invalidität und Kosten der Ausbildung mit Invalidität) oder es fallen Kosten von Fr. 400.- an 0,5 P - Schulgeld für Gehörlosenschule, Lehrmittel und Transport, allenfalls Verpflegung und Unterkunft in einer Ausbildungsstätte (Art. 5 IVV) 0,5 P. c): - Eignung, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Ausbildung 0,5 P. - Auf Grund seiner diversen Gesundheitsschäden (psychisch und körperlich) ist das Studium zum Forstingenieur zu streng und daher nicht geeignet oder Forstingenieur ist wegen Intelligenz geeignet, jedoch nur mit zusätzlicher Unterstützung möglich 0,5 P oder Forstingenieur ist geeignet (ohne weitere Begründung) 0,25 P Zur Frage 5: a): - IV 0,5 P - UV, weil Zeckenbiss ein äusserer, ungewöhnlicher, plötzlicher Faktor, der unbeabsichtigt eingetreten ist (Art. 4 ATSG) 0,5 P b): - Massgebend ist das hyp. Valideneinkommen (Fr. 60'000.-) eines Verwaltungsangestellten (weil genügend eingegliedert) gemäss Art. 26 Abs.2 IVV oder gemäss Aufgabe 4c) als Forstingenieur (Fr. 110'000.-) 0,5 P - Art. 28 Abs.1 UVV 0,5 P. c): Nein, wegen fehlender Kausalität resp. das verkürzte Bein hat keinen Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit 1 P Zur Frage 6: 4
- Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs.2 BV) 0,75 P - Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung (Art. 61 lit. f ATSG) 0,75 P - In Abweichung von Art. 61 lit. a ATSG ist das Verfahren gemäss Art. 69 Abs.1 bis IVG nicht mehr kostenlos 0,75 P - Beschwerde ans Bundesgericht innerhalb von 30 Tagen (Art. 62 ATSG) wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs und Ermessensüberschreitung bei der Festsetzung der Prozessentschädigung 0,75 P Zur Frage 7: - Anspruch auf Waisenrente, weil noch in Ausbildung oder kein Anspruch auf Waisenrente, weil mündig und nicht mehr in Ausbildung 1 P - Art. 25 Abs.3 AHVG 0,5 P - Art. 30 Abs.1 UVG, falls Vater unfallversichert oder BVG-versichert 0,5 P - Leistungskoordination zwischen Waisenrenten und allenfalls IV-Rente 1 P Notenskala: 5 6,9 P 3 7 8,9 P 3.5 9 10,9 P 4 11 12,9 P 4.5 13 14,9 P 5 15 16,9 5.5 17-6 5