Vorwort... 7. Verena Kast Übergänge Krisen Visionen... 10 Psychotherapeutische und psychosoziale Perspektiven



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Transkript:

Inhalt Vorwort............................................ 7 Verena Kast Übergänge Krisen Visionen.......................... 10 Psychotherapeutische und psychosoziale Perspektiven Brigitte Dorst Altern als Lebenskrise und Reifungschance................ 31 Hans Jellouschek Krisen, Übergänge und Visionen im Zusammenleben von Paaren.......................................... 51 Wilhelm Schmid Die Liebe neu erfinden................................. 59 Von der Lebenskunst im Umgang mit anderen Peer Abilgaard Musikalische Vision.................................... 73 Musik als Ausdruck schwerer seelischer Erschütterung und deren Bewältigung! Christa Diegelmann Diagnose Krebs Ressourcen gegen die Angst............. 95 Joachim Galuska Die Entwicklung des Bewusstseins in einer beseelten Psychotherapie....................................... 124

Jutta Höcht-Stöhr Woran orientieren? Krisenreaktionen der Kirchen.......... 139 Gerhart Baum Gedanken über Freiheit................................ 160 Anhang............................................. 168 Zitatnachweis............................................ 168 Bildnachweis............................................. 168 Kurzbiografien............................................ 169

Vorwort»Alles fließt und nichts bleibt, es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln«(Plato, Kratylos 402 a) so wird Heraklit von Plato zitiert. Wichtig für Heraklit war die Einheit aller Dinge, die Verbindung vom Ganzen mit dem Nichtganzen, von Zusammengehendem und Auseinanderstrebendem, von Einklang und Missklang. So wird aus allem immer wieder eins und aus einem alles. In diesem Sinne ist alles in Bewegung. Nichts bleibt so, wie es ist tröstlich oder beunruhigend, je nachdem, ob man Bewegung gerade ersehnt oder auch nicht. Der Titel, unter dem dieser Sammelband steht und unter dem auch die Arbeitstagung der IGT stand, suggeriert, dass zwar alles im Fluss ist, alles auch Übergang ist, dass dieser Fluss aber nicht nur ruhig fließt; dieses Fließen kommt immer wieder einmal ins Stocken, trifft auf Hindernisse, die allerdings auch überwunden werden können. Der Fluss kann weiterfließen, in neue Landschaften hinein. Wir Menschen verändern uns, die gesellschaftlichen Kontexte, in denen wir stehen, sind im Wandel, neue Probleme brauchen neue Lösungen. Diese Veränderungen werden als mehr oder weniger markante Übergänge erlebt. Viele von ihnen, im eigenen Leben, aber auch in gesellschaftlichen Kontexten, vollziehen sich wie von selbst, können dann aber rückblickend rekonstruiert und reflektiert werden. Ganz anders, wenn notwendige Übergänge nicht vollzogen werden können und sich dann Krisen ereignen. Die Krise nimmt den Menschen in die Zange: So kann es nicht weitergehen. Jetzt muss reflektiert werden, jetzt braucht es eine neue Art, mit dem Leben umzugehen. Krisen sind auch mögliche Geburts- 7

situationen: Jetzt können auch Einstellungen verändert werden. Bei der individuellen Krise eines Menschen bleibt das Krisengefühl bestehen, bis eine neue Einstellung, eine neue Idee gefunden worden ist, wie mit anstehenden Herausforderungen umgegangen werden kann. Bei Krisen, die die ganze Gesellschaft betreffen (Weltwirtschaftskrise, Wertekrise, ökologische Krise), sind wir als Einzelne mitbetroffen, spüren wir, dass wir als Menschen an dieser Gesellschaft Anteil haben, uns mit ihr auch verändern müssen. Es gibt so etwas wie eine Krisenatmosphäre, die mit der Dynamik von Krisen zusammenhängt: Alle Sicherheit, alle vermeintliche Sicherheit, wird infrage gestellt, und damit stellt sich die Frage des Vertrauens. Kann man vertrauen, und in wen oder in was? Angst, Panik, generelle Ängstlichkeit werden anstelle der normalen Geborgenheit erlebt. Umfassende Befürchtungen zeigen sich, bis hin, dass alle möglichen und unmöglichen Machenschaften gewittert werden. Die Befürchtungen, die Angsterfahrungen werden mit Aggressivität oder mit Resignation abgewehrt. Wir finden Schuldige, möchten diese bestraft sehen, oder wir geben vor, die Krisen zu managen. Wer beschäftigt sich wirklich tiefgründig mit den gesellschaftlichen Krisen? Die Krise kann eine Chance sein, eine Chance, sich neu im Leben zu positionieren, sodass die Bedingungen dafür, dass das Leben in einer guten Weise weitergehen kann, besser sind, sodass deutlicher wird, was denn gut ist für das eigene Leben, für das Leben der anderen, der Nachkommenden, der Natur. Die großen Krisen können nur gelöst werden, wenn wir sie miteinander lösen miteinander können wir Visionen entwickeln. Auch das ist Krisendynamik, an der wir Anteil haben, die aber auch eine Eigendynamik entwickelt, die wir nicht beeinflussen können. Nehmen wir die Krisen ernst, dann nehmen wir auch die Visionen ernst. Es wird immer wieder beklagt, wir wären in einer Zeit, in der es keine Visionen gebe, keine großen Würfe mehr. Das mag sein, große Visionen sind möglicherweise auch gar nicht gefragt, sondern bescheidener Wertvorstellungen, die uns wichtig sind für das menschliche Zusammenleben, die alte neue Frage nach 8

Geben und Nehmen, nach Gerechtigkeit auch gegenüber der Natur. Wir werden uns mit den Visionen schwertun, nicht weil sie in unserer Welt nicht vorhanden seien, sondern weil sie uns immer zu wenig groß, zu wenig spektakulär sind. Als Visionen wollen wir innere Vorstellungen verstehen, die auf die Zukunft bezogen sind. Wie könnte Zukunft werden, was könnte aus der Krise herausführen? Es geht um Perspektiven für die Zukunft. Wie könnte das Leben wieder zum Fließen kommen? Pragmatischer auch: Wie lösen wir die Probleme, die mit der Krise verbunden sind? Aber auch grundsätzlicher: Bleiben wir auf die Zukunft bezogen? Wie wollen wir uns verstehen? Als Menschen, die sich in einer Krise befinden, oder auch als Menschen, die auch in schwierigen Situationen das Not-Wendige anpeilen? Es geht um die Gestaltung kritischer Lebensphasen, sowohl beim Einzelnen als auch in der Gesellschaft. Da ist es gut, dass Menschen viele Ideen haben, dass man diese Ideen zusammenlegen kann und dass daraus immer wieder auch neue Perspektiven erwachsen. Zusammengelegt wird auch in diesem Sammelband: Aus verschiedenen Perspektiven denken die Autorinnen und Autoren nüchtern über anstehende Übergänge, über damit verbundene Krisen, aber auch über Visionen nach. Implizit ist damit immer die Frage verbunden, in was für einer Welt wir leben möchten. Verena Kast 9

Verena Kast Übergänge Krisen Visionen Psychotherapeutische und psychosoziale Perspektiven 1. Lebensübergänge Menschen leben immer in Übergängen. Alles verändert sich: Wir verändern uns, unsere Mitmenschen verändern sich, die Welt, in der wir leben, verändert sich permanent. Daran sind wir gewöhnt. Es gibt aber Lebensübergänge, an denen wir innehalten, die für uns etwas bedeuten. Zeiten der Lebensübergange haben ihre eigene Dynamik denken Sie z. B. an einen runden Geburtstag. Was kurz zuvor noch gültig und verlässlich schien, wird plötzlich bezweifelt, hinterfragt. Eine latente Unzufriedenheit wird erlebt, Unruhe, Angst. Irgendwie sollte alles anders werden, es sollte sich aber auch nichts verändern. Je mehr wir festhalten wollen, umso mehr hinterfragen wir kritisch das Festgehaltene. Das heißt aber auch, dass wir uns den Lebensabschnitt, der zu Ende geht, in unserer Erinnerung auch noch einmal vergegenwärtigen: Es wird uns bewusst, was war, was gut war, was veränderungsbedürftig und möglicherweise gibt es Ideen, was nun für den Fortgang des Lebens wichtig ist, was in den Mittelpunkt des Lebens gestellt werden soll. Dann können wir loslassen die Erinnerung kann uns niemand nehmen, und aus dieser Erinnerung heraus gibt es eine neue Perspektive für die Zukunft, eine Vision. Halten wir allerdings fest, dann entfremden wir uns von uns selbst, nehmen neue, anstehende Entwicklungen nicht auf und geraten dann oft in eine Krise. 10

Die Psychodynamik von Übergängen Übergangsphasen sind Phasen der Labilität, sie sind mit Angst, Spannungen und Selbstzweifeln verbunden. Weil es labile Phasen sind, können wir uns leichter verändern, es brechen aber auch alte Konflikte auf; Schwierigkeiten, die wir schon immer hatten, werden reaktiviert. So berichten viele Menschen in Übergangsphasen, sie hätten erneut Probleme mit Autoritätsgestalten, etwas, das sie eigentlich schon länger für überwunden hielten. Die Sinnfrage bricht wieder auf, unser Leben leitende Ideen, aber auch Beziehungen werden infrage gestellt. Solche Reaktionen entstehen, weil wir in diesen Phasen durchlässiger sind, auch weil wir nicht mehr so genau wissen, wie wir denn mit dem Leben umgehen sollen. Das ist lästig, aber auch eine große Chance: Veränderungen sind möglich. Der Zweifel weckt die Fähigkeit zur Reflexion und das ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns neue Ziele setzen, anderes Verhalten in den Blick nehmen können. Wir sind in einer labilen Phase, in der wir mehr Zuwendung brauchen. Sind wir aber empfindlicher und empfindsamer, weniger kontrolliert und weniger entschlossen als normalerweise, so ergeben sich mehr Konflikte im Alltag, die uns auch mehr beeindrucken als in Zeiten, in denen unser Leben mehr konsolidiert ist, das Leben seinen»normalen«gang nimmt. Aber auch diese erhöhte Konfliktanfälligkeit birgt eine Chance:»Alte«Konflikte, Konflikte, die sich immer wieder in unserem Leben ereignen, können verstanden und verändert werden (Kast 2008, 2010). Lebensübergänge sind mit vielen Emotionen verbunden: Angst, Hoffnung, Ärger, Freude und anderen mehr, mit Beziehungskonflikten und sie erlauben es, eine neue Passung zwischen sich und den Mitmenschen, aber auch zwischen der bewussten Haltung und den Entwicklungsnotwendigkeiten zu finden. Die 50-Jährige, die angesichts ihres runden Geburtstages sehr unzufrieden mit sich ist, weil sie sieht, dass sie ihre Wünsche immer hintangestellt hat, und die findet, sie würde dafür von ihren Lieben nicht genug»entschädigt«, lernt einen ihrer Wünsche kennen, den sie sich erfüllen will: Sie will endlich Türkisch lernen und 11

später mit türkischen Frauen arbeiten. Das macht sie dann auch und ist viel zufriedener sie setzt sich für ihre Wünsche ein. Erfahrungen, die wir an Lebensübergängen gemacht haben, sind Erinnerungen, die aus der Fülle des gelebten Lebens herausragen und die wir auch für Pfeiler unserer Identität halten. Diese Erfahrungen sind es, die vor allem bewirken, dass wir sind, wer wir sind. Das gilt auch von den Übergängen, in die wir hineingeworfen werden, mit denen wir nicht gerechnet haben, etwa der Tod eines uns wichtigen Menschen oder der überraschende Verlust der Arbeit. Diese Erfahrungen teilen unser Leben in ein»vorher«und»nachher«ein, konfrontieren uns mit uns selbst, fordern uns heraus. Im Rückblick auf unser Leben gelingt es uns, dieses Vorher und Nachher miteinander zu verbinden, den Lebensübergang als sinnvoll zu erleben, ihn zu verstehen und manchmal auch Entscheidendes zu verändern. An Lebensübergängen werden Veränderungen sichtbar: Die Selbstdefinition, die bis jetzt gültig war und mit der man sich identifiziert hat, scheint nicht mehr ganz richtig zu sein. Wer bin ich eigentlich? Was macht mich jetzt aus? Das sind Fragen, die sich stellen. 2. Krisen Manchmal gelingen diese Übergänge aber nicht und wir erleben eine Krise. Was verstehen wir PsychologInnen unter einer Krise? Eine Krise ist ein Zustand psychischer Belastung, die außergewöhnlich ist. Sie stellt unsere Identität infrage, sie kann unser ganzes Leben infrage stellen, wir fühlen uns hilflos. Nichts ist mehr selbstverständlich. In Krisensituationen stimmen die an uns gestellten Anforderungen und unsere subjektiv erfahrbaren Möglichkeiten, die Schwierigkeiten zu bewältigen, nicht mehr überein. Ein Ungleichgewicht herrscht. Unsere üblichen Strategien, Kompetenzen und Tricks, mit denen wir normalerweise unser Wohlbefinden wieder einigermaßen herstellen können, greifen nicht mehr: Wir 12

sind von einem Problem oder von Problemen besetzt, die weder mit inneren noch äußeren Strategien bewältigt werden können. Von Krisen sprechen wir in der Psychologie aber nur, wenn das erlebte Ungleichgewicht vorübergehend und mit heftigen Emotionen verbunden ist. Die Krise wird verstanden als ein Durchgangsstadium, als eine Geburtssituation. Keupp (2010) ist der Ansicht, dass Krisen heute die Normalität sind, da wir gar keine Normalität im alten Sinne mehr hätten in dieser unserer Welt, die sich so rasant verändert. Hier wird der Krisenbegriff ausgeweitet und entspricht nicht der psychologischen Sicht der Krise. Nach der psychologischen Definition kann man sich nicht permanent in einer Krise befinden, das würde viel zu viel Energie kosten. Man würde sich stattdessen an die Krise gewöhnen und sie nicht mehr als krisenhaft empfinden. Was allerdings zu bedenken ist: Wir müssen immer wieder mit Krisen rechnen, sie gehören zu uns, und je mehr die Grundgeborgenheit auch gesellschaftlich gesehen verloren geht, desto eher werden wir krisenhafte Erfahrungen machen. Stimmen Anforderungen und die Möglichkeiten zur Bewältigung dieser Anforderungen nicht mehr überein, reagieren Menschen mit Angst, mit gefühlter Ohnmacht, mit Stress; eventuell wird die Angst abgewehrt mit Wut, sie wird verdrängt, sie kann auch somatisiert werden. Diese Formen der Abwehr der Angst bringen diese aber nur vordergründig zum Verschwinden. Sie wirkt trotzdem unbewusst weiter, ja, sie generalisiert sich über verschiedene Lebensthemen und über die Zeit hinweg: Das ganze Leben erscheint einem plötzlich krisenhaft, nicht mehr zu meistern, und man stellt sich vor, dass man das Leben nie wieder in den Griff bekommen wird, es vielleicht überhaupt nie im Griff hatte. Hoffnung auf eine bessere Zukunft, Vertrauen in eigene Fähigkeiten und in Selbstwirksamkeit sind weitgehend verschwunden. Die Orientierung im Leben, die Kontrolle über das eigene Leben, zumindest in einem bestimmten Maße, ist aber ein Grundbedürfnis des Menschen. Wird dieses Grundbedürfnis erfüllt, vermittelt das existentielle Sicherheit; wird es nicht mehr erfüllt, reagieren wir mit Angst. 13