Sehr geehrte Damen und Herren, wir stellen Ihnen heute den Depressionsatlas vor. Er ist ein spin-off unseres TK- Gesundheitsreports, den wir - wie die meisten von Ihnen vermutlich wissen - einmal im Jahr an dieser Stelle veröffentlichen. Er enthält traditionell die Auswertungen zu Fehlzeiten und Arzneimittelverordnungen der über vier Millionen Erwerbspersonen (4,11 Millionen), die bei uns versichert sind, sowie ein Schwerpunktthema. Der TK-Gesundheitsreport 2014 widmet sich in seinem Schwerpunkt den Rückenbeschwerden. Unsere Auswertungen zeigen jedoch auch, dass die depressive Episode bei den Hauptursachen von Krankschreibungen inzwischen die gleiche Relevanz hat wie Rückenschmerzen. Fasst man die Fehlzeiten unter dieser Diagnose mit den sogenannten rezidivierenden depressiven Störungen zusammen, entfallen allein auf diese beiden Erkrankungen gut sieben Prozent (7,13 Prozent) der Gesamtfehlzeiten. Das entspricht bei der TK 4,3 Millionen Fehltagen aufgrund von Depressionen. Mehr als jede siebte Erwerbsperson - dazu zählen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und ALG I-Empfänger - ist derzeit bei uns versichert. Rechnet man unsere Daten auf die Gesamtbevölkerung hoch, ergeben sich über 31 Millionen depressionsbedingte Fehltage bundesweit. Das sind übrigens fast 70 Prozent mehr als im Jahr 2000. Auch die Antidepressiva-Verordnungen sind in diesem Zeitraum um ein Drittel gestiegen. Dies möchten wir zum Anlass nehmen, heute darüber zu sprechen. Später werden wir Ihnen auch noch einen Einblick in die allerersten Daten für 2014 geben, die wir gerade hereinbekommen haben. Ist Depression eine Volkskrankheit? Doch zunächst zum Depressionsatlas. Viele Gesundheitsexperten sprechen inzwischen von der Volkskrankheit Depression. Aber ist der Begriff richtig gewählt? Nicht, wenn man als Volkskrankheit Beschwerden versteht, die viele Menschen betreffen. Wir wissen aus Umfragen, dass 80 Prozent der Beschäftigten in Deutschland bereits Erfahrung mit Rückenschmerzen haben. Wir verzeichnen unter dieser Diagnose fast viermal so viele Fälle wie unter Depressionen. Allerdings dauert eine Arbeitsunfähigkeit bei Patienten mit Rückenschmerzen mit durchschnittlich 13,6 Tagen auch nicht annähernd so lang wie eine depressive Episode mit knapp zwei Monaten (58,4 Tage) bzw. eine rezidivierende Depressi- 1
on, bei der die Betroffenen fast drei Monate arbeitsunfähig sind (89,7 Tage). Misst man eine Volkskrankheit daran, welche Auswirkungen sie gesamtgesellschaftlich hat, ist der Begriff dagegen gut gewählt. Depressionen sind nicht nur für die Patienten und ihr persönliches Umfeld langwierig, sondern auch für die Unternehmen und durch den hohen medizinischen Versorgungsbedarf und den meist damit einhergehenden Krankengeldbezug auch für Krankenkassen ein Thema. Jede(r) ist einen Tag im Jahr zu deprimiert zum Arbeiten Statistisch gesehen war 2013 jede bei uns versicherte Erwerbsperson 14,7 Tage krankgeschrieben. 2,5 Tage davon waren psychisch bedingt, ein Tag entfällt allein auf die Depressionen. Besonders betroffen sind Beschäftigte im Dialogmarketing, die sogenannten Callcentermitarbeiter, mit 2,8 Tagen pro Kopf sowie in der Altenpflege (2,5 Tage), Erziehungsberufen (1,6 Tage) und Sicherheitsberufen (1,4 Tage). Auf 100 Erwerbspersonen verzeichneten wir 1,6 Krankschreibungen aufgrund von Depressionen. Das mag zunächst wenig erscheinen. Aber wenn ein Unternehmen 250 Beschäftigte hat, fehlten ihm vier Leute für durchschnittlich gut zwei Monate. Berücksichtigt man noch den Urlaubsanspruch, bleibt also mindestens ein Arbeitsplatz in diesem Betrieb allein aufgrund von Depression unbesetzt. Neben dem Produktionsausfall muss das Unternehmen in der Regel in den ersten sechs Wochen für die Lohnfortzahlung aufkommen. Im Anschluss haben die Betroffenen Anspruch auf Krankengeld von ihrer Krankenkasse. Dazu kommen die Ausgaben für medizinische Versorgung wie Arzneimittel, Psychotherapie und gegebenenfalls Krankenhaus. Allein die Kosten für die stationäre Versorgung von Depressionen bei Erwerbspersonen belaufen sich bei der TK auf knapp 130 Millionen Euro im Jahr. Antidepressiva-Verordnungen malen eine bunte Republik Da nicht alle Beschwerden mit einer Krankschreibung einhergehen, analysieren wir in unseren Gesundheitsberichten auch die Arzneimitteldaten. Auch für den Depressionsatlas haben wir uns die Antidepressiva-Verordnungen angesehen. Das Verschreibungsvolumen verteilt sich sehr unterschiedlich über die Landkarte und steht nicht immer im Zusammenhang mit den Fehlzeiten. Auch Regionen mit vergleichsweise niedrigen depressionsbedingten Fehlzeiten können relativ hohe Verordnungsraten aufweisen. 2
Fast zwei Wochen Antidepressiva für jeden Statistisch bekam jede Erwerbsperson im letzten Jahr Antidepressiva für knapp zwei Wochen (12,75 Tage). Ich hatte bereits erwähnt, dass 1,6 Prozent der Erwerbspersonen aufgrund einer Depression krankgeschrieben waren. Bei den Verordnungen liegt der Anteil mit knapp sechs Prozent fast viermal so hoch. Frauen sind mit knapp acht Prozent nicht nur von psychisch bedingten Fehlzeiten, sondern auch von Verschreibungen deutlich mehr betroffen als Männer, bei denen nur 4,4 Prozent Antidepressiva erhielten. Ein nicht unerheblicher Anteil von Erwerbspersonen ist also nicht arbeitsunfähig, wird aber dennoch behandelt. In Rheinland-Pfalz beispielsweise entfallen 6,4 Prozent der Fehlzeiten auf Depressionen, also weniger als im Bundesdurchschnitt (7,1 Prozent). Mit gut 14 Tagesdosen Antidepressiva liegt das Land aber bei den durchschnittlichen Pro-Kopf-Verordnungen bundesweit vorn. Auch in Bayern, das traditionell zusammen mit Baden-Württemberg den niedrigsten Krankenstand aufweist (2014 waren bayerische Erwerbspersonen mit 12,5 Fehltagen gut zwei Tage weniger krankgeschrieben als der Bundesdurchschnitt), liegt bei den depressionsbedingten Fehlzeiten knapp unter dem Bundesdurchschnitt, bei den Antidepressiva-Verordnungen liegen die Süddeutschen aber mit 13,9 Tagesdosen pro Kopf mit vorn. Woran liegt s? Enke-Effekt, Etikettierung oder entnervte Beschäftigte? Dass die psychisch bedingten Fehlzeiten zunehmen, Verordnungsraten steigen, dass immer mehr Menschen psychotherapeutische Leistungen in Anspruch nehmen, dass seelische Erkrankungen immer häufiger der Grund von Frühverrentungen sind, ist seit Jahren bekannt. Viel wurde über die Ursachen spekuliert. Nach prominenten Schicksalen wie Sebastian Deisler, Sven Hannawald und Robert Enke stieg die gesellschaftliche Akzeptanz psychischer Störungen. Sicherlich ist auch die Diagnostik besser geworden. Vieles, was früher unter somatischen Diagnosen verbucht wurde, wird heute als psychische Belastung identifiziert. Allerdings gibt es natürlich auch den umgekehrten Effekt. Wir wissen aus einer früheren Untersuchung, dass etwa jede fünfte Erwerbsperson (jede dritte Frau und jeder sechste Mann) einmal im Jahr eine psychische Diagnose erhält. Bezeichnet man ein Drittel der Frauen im erwerbsfähigen Alter als psychisch krank, stellt sich allerdings auch die Frage, wo wir die Grenze zwischen gesund und krank ziehen. 3
Sicherlich hat sich auch die Arbeitswelt in den letzten Jahren verändert. In unserer Stress- Studie haben zwei Drittel der Berufstätigen angegeben, dass ihr Leben in den letzten drei Jahren stressiger geworden ist. Hauptstressfaktor ist bei den meisten der Job. Die Arbeitswelt hat sich rasant verändert. Dank mobiler Kommunikation verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Familie und Beruf in Einklang zu bringen, fällt vielen schwer, immer mehr Menschen kümmern sich nicht nur um ihre Kinder, sondern auch um ihre Eltern. Weitere Risikofaktoren, die wir in unseren Gesundheitsberichten in den letzten Jahren identifiziert haben, sind unsichere Arbeitsverhältnisse, Diskrepanzen zwischen Job und Qualifikation sowie das Pendeln. Vorwärtskommen durch Runterkommen Das alles können Faktoren sein, die zum Entstehen einer Erkrankung beitragen. Ob jemand aber tatsächlich krank wird, hängt vor allem von seinen persönlichen Gesundheitsressourcen ab, also seiner Fähigkeit, mit psychischen Belastungen wie Stress umzugehen. Dazu kann Ihnen bei Bedarf unser Psychologe Herr Scheller sicherlich gleich noch mehr erzählen. Und es ist natürlich auch eine Frage des persönlichen Lebensstils. Wer also in seinem privaten Umfeld für einen gesunden Ausgleich sorgen kann, wer Unterstützung durch Freunde und Familie erhält, wer Stress mit Bewegung abbauen kann, hat ein deutlich geringeres Risiko zu erkranken, als jemand, der im Privaten zusätzlichen Belastungen ausgesetzt ist und beispielsweise nach einem Arbeitstag am Bildschirm wieder vor der Mattscheibe versinkt. Die Frage, wie man psychischen Erkrankungen durch Präventionsangebote, individuelle oder auch im Betrieblichen Gesundheitsmanagement, vorbeugen kann, ist für uns also sehr wichtig. Über 1.000 Unternehmen haben wir im letzten Jahr dabei unterstützt, gesunde Arbeitsbedingungen zu schaffen, mehr als eine viertel Million unserer Kunden besuchten einen Gesundheitskurs. Über 100.000 Versicherte haben am Anti-Stress-Coaching teilgenommen, das wir online anbieten, weitere 20.000 nutzten den Burn-out-Coach. Wenig überraschend: Die meisten Teilnehmer sind zwischen 40 und 49 Jahren, also in der Lebensphase, die wir auch als Rush-Hour des Lebens bezeichnen, weil viele durch Familie und Beruf mehrfach belastet sind. Überrascht hat uns allerdings, dass im Burn-out-Coach die Gruppe der 20- bis 29-Jährigen stark vertreten ist. In der Stress-Studie lag der Stresslevel bei jungen Erwachsenen zwar auch über dem Durchschnitt, allerdings empfanden die meisten in 4
diesem Alter den Stress noch positiv. Wir werden uns dies noch einmal genauer ansehen und im Gesundheitsreport 2015, den wir wieder im Frühsommer vorstellen, einen genauen Blick auf die Belastungen der jüngeren Generation werfen. Gesundheitsreport 2015: Trend steigender Fehlzeiten setzt sich fort Apropos Gesundheitsreport 2015: Die ersten Krankenstandsdaten bekommen wir erfahrungsgemäß im Februar. Diesmal haben sich Herr Dr. Grobe und sein Team dankenswerter Weise noch mehr beeilt, damit wir Ihnen heute die ersten Daten mitgeben können. Es gibt noch keinen Bericht, aber wie sich der Krankenstand und der Anteil psychisch bedingter Fehlzeiten 2014 weiterentwickelt hat, dazu wird Ihnen gleich Dr. Grobe etwas mehr sagen. Gute Versorgung ist Patientenrecht und Lebensqualität Eine Depression beeinträchtigt Patienten und ihre Familien in allen Bereichen ihrer Lebensführung. Wichtig ist deshalb die bestmögliche medizinische Versorgung, damit die Betroffenen schnellstmöglich in ihr gewohntes Leben zurückkehren können. Die TK hat vor einiger Zeit das Netzwerk psychische Gesundheit (NWpG) auf den Weg gebracht, das inzwischen fast bundesweit angeboten wird. Über 10.000 Patienten haben 2014 daran teilgenommen. Es ermöglicht, dass Patienten ambulant in ihrem Lebensumfeld betreut werden können. Es werden rund um die Uhr professionelle Betreuung und Rückzugsräume angeboten, Angehörige werden mit einbezogen. Wir bekommen sehr positives Feedback von den Patienten, wie Sie an der Karikatur sehen, die wir von einem unserer Kooperationspartner, der Caritas in Darmstadt bekommen haben. Eine Versicherte hat darin ihre Erfahrungen mit dem Angebot illustriert. So etwas freut uns immer sehr. Deshalb haben wir uns ausnahmsweise entschieden, es mit in die Pressemappe zu legen. Die Netzwerke richten sich an Patienten mit schwereren Erkrankungen, die zum Teil auch schon stationäre Aufenthalte hinter sich haben. Wichtig ist uns allerdings auch eine verbesserte ambulante Versorgung, die TK engagiert sich seit langem in der Arbeitsgruppe Strukturreform für eine Reform der Psychotherapierichtlinien. Eine Diskussion dazu würde hier sicherlich zu weit führen. Wenn Sie sich für dieses Thema interessieren, finden Sie dazu in unserem Internetauftritt aber ein Thesenpapier. Jetzt übergebe ich an Dr. Grobe, der ihnen gleich zeigt, wie es in Lübeck, Gelsenkirchen und Kulmbach um die Depressionen bestellt ist. 5