Günter H. Seidler. Psychotraumatologie. Das Lehrbuch. Verlag W. Kohlhammer



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Transkript:

Günter H. Seidler Psychotraumatologie Das Lehrbuch Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind. 1. Auflage 2013 Alle Rechte vorbehalten 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Umschlagabbildung:»Traumatisiert«Ursula Rogmann (Galinova) 2012 Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-023560-1

Gewidmet Annelise Heigl-Evers (1921 2002) und Franz Heigl (1920 2001) in dankbarer Erinnerung.

Inhalt Vorwort.................................... 11 Einleitung: Metareflexion zur Psychotraumatologie... 13 1 Einführung in Geschichte und zentrale Themen der Psychotraumatologie............................. 21 1.1 Die Eisenbahn, der Vietnamkrieg und die Frauenbewegung: Stationen der Entwicklung eines Krankheitsmodells........ 21 1.2 Die Psychotraumatologie: Eine neue»integrative«orientierung in den Humanwissenschaften...................... 28 1.2.1 Zentrale Begriffe der Psychotraumatologie......... 32 1.2.2 Unterschiede zwischen herkömmlicher psychodynamischer Neurosenpsychologie und Traumapsychologie....... 44 2 Ökopathogenetische Zusammenhänge in der Entstehung, Rückbildung und Chronifizierung von Traumafolgestörungen.. 56 2.1 Epidemiologie............................. 56 2.2 Prävalenz............................... 57 2.3 Prädiktoren Risikofaktoren.................... 58 2.4 Schutzfaktoren............................ 60 2.5 Pathogenese:»Das zerstörte Selbst«................. 60 2.6 Chronifizierungsprozesse als psychosoziales Geschehen...... 65 2.7»Du gleichst dem Geist, der nach Dir greift«: Spaltung und Introjektbildung als chronifizierende Spuren von Gewalterfahrung 68 2.8 Naturwissenschaftliche Ansätze zum Verständnis seelischer Traumatisierung........................... 73 2.9 Religiosität, Spiritualität, Rache und die Frage heilsamer Versöhnung bei traumatisierten Menschen............. 78 2.10 Trauma und Scham.......................... 82 2.11 Trauma und Schuld.......................... 87 2.12 Trauma und Ekel........................... 92 3 Ausgewählte Traumafolgestörungen und ihre Diagnostik..... 95 3.1 Diagnostik und Differenzialdiagnostik von Traumafolgen..... 96 7

Inhalt 3.2 Akute Belastungsreaktion (ABR) ICD-10 F43.0 Akute Belastungsstörung (ABS) DSM-IV 308.3.......... 103 3.3 Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1 und DSM-IV 309.81)........................... 105 3.3.1 Die PTSD in ICD-10 und DSM-IV (DSM-IV-TR)..... 106 3.3.2 Zukunftsperspektiven: Die PTSD in DSM-V und ICD-11. 109 3.3.3 Erläuterungen zu den aktuellen diagnostischen Kriterien der PTSD.............................. 109 3.3.4 Der Zusammenhang der Symptome untereinander..... 117 3.3.5 Die Verlaufsgestalt der PTSD ihr Vollbild und ihre unvollständige Form..................... 117 3.3.6 Wichtige Differenzialdiagnosen der PTSD.......... 118 3.4 Die Zentralität der Gedächtnisstörung in Symptomatik und Therapie traumatisierter Menschen und Aspekte der»false memory«- Diskussion............................... 119 3.5 Die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung und die Schwierigkeiten ihrer Konzeptualisierung.............. 128 3.6 Andauernde Persönlichkeitsänderung (ICD-10 F62.0) und Posttraumatische Verbitterungsstörung................. 130 3.7 Psychoforme, somatoforme und persönlichkeitsstrukturelle Erscheinungsformen dissoziativer Traumafolgestörungen..... 135 3.7.1 Dissoziative Störungen in ICD-10 und DSM-IV...... 138 3.7.2 Dissoziative somatoforme Störungen............ 142 3.7.3 Persönlichkeitsstrukturelle Dissoziationsformen...... 144 3.8 Komplizierte (traumatische) Trauer................. 145 3.9 Häufig gemeinsam vorkommende Krankheitsbilder nach Traumatisierungen»Komorbiditäten«.............. 146 3.10 Der komplizierte Zusammenhang von Trauma und Sucht, Depression und Psychose....................... 147 3.11 Trauma und Persönlichkeitsstörungen............... 150 3.12 Trauma und internistische Erkrankungen.............. 154 3.13 Soziale und existenzielle Folgen von psychischer Traumatisierung. 156 4 Ausgewählte Gruppen speziell Betroffener............. 160 4.1 Altersgruppenspezifische Psychotraumatologie: Traumapädagogik 160 4.2 Gibt es traumatisierte Täter?..................... 162 4.3 Transgenerationale Traumatisierung................. 164 4.4 Sekundäre Traumatisierung beim Einzelnen, im Team und in bestimmten Berufsgruppen...................... 169 4.5 Angehörige von Traumatisierten................... 176 5 Ausgewählte spezifische Ereignisse und ihre Folgen... 178 5.1 Vergewaltigung............................ 178 5.2 Misshandlung, Missbrauch und Inzest............... 181 8

Inhalt 5.3 Gewaltverbrechen und ihre Folgen................. 187 5.4 Folgen von Naturkatastrophen und von Menschen verursachten Katastrophen............................. 188 6 Traumatherapie Prinzipien und Methoden... 193 6.1 Hilfe in der Akutsituation...................... 193 6.2 Frühintervention bei Traumatisierten................ 195 6.3 Akuthilfe im Großschadensfall................... 196 6.4 Grundsätzliche Orientierungen in der Traumatherapie...... 199 6.5 Einzelne therapeutische Methoden................. 211 6.5.1 Information über die Situation»Psychoedukation«... 212 6.5.2 Ressourcenaktivierung, Stabilisierung und Exposition... 214 6.5.3 Imaginative Therapie..................... 219 6.5.4 EMDR............................. 221 6.5.5 Psychodynamisch begründete Verfahren.......... 224 6.5.6 Verhaltenstherapie...................... 225 6.5.7 Ego-state-Therapie...................... 229 6.5.8 Internet-Therapie....................... 233 6.5.9 Gruppentherapie....................... 235 6.5.10 Pharmakotherapie....................... 238 6.5.11 Traumatherapie im Setting einer Station.......... 239 6.6 Fallstricke und Probleme in Diagnostik und Therapie von Traumatisierten mit Lösungsanregungen.............. 245 7 Einige Gedanken zum Abschluss.................. 250 Literatur.................................... 253 Stichwortverzeichnis............................. 281 9

Vorwort Dieses Buch stellt eine theoretisch und empirisch fundierte, praxisorientierte Einführung in die Psychotraumatologie da. Die Betonung liegt dabei auf»praxisorientiert«. Wer vorwiegend an aktuellen empirischen Forschungsergebnissen interessiert ist, sei auf Originalarbeiten in Fachzeitschriften oder etwa auf das»handbuch der Psychotraumatologie«(Seidler et al. 2011) verwiesen. Aus»praktischer«Sicht gilt es auch mitunter, Befunde und Erfahrungen darzustellen, die nicht oder noch nicht mit statistisch-empirischen Methoden untersucht wurden oder mit statistisch-empirischen Befunden kongruent sind, die sich aber in der Praxis bewährt haben. Das vorliegende Buch wendet sich an erfahrene wie auch angehende Ärztinnen und Ärzte, Psychologen und Psychologinnen und weitere Zugehörige der psychosozialen bzw. helfenden Berufe, die in ihrem beruflichen Alltag seelisch traumatisierten Patientinnen und Patienten begegnen. Gegenüber dem genannten Interessentenkreis verfolgt das Buch vier Ziele: Fachlich fundierte Informationen darüber zu vermitteln, um was es sich bei der Psychotraumatologie handelt; die Leser und Leserinnen zu befähigen, eine eigene fachlich abgesicherte Einschätzung treffen zu können, ob es sich beim Leiden eines bestimmten Menschen um eine seelische Traumatisierung handelt 1 ; die Leserschaft zudem dazu befähigen, eine kenntnisbasierte Haltung einem traumatisierten Menschen gegenüber einnehmen zu können und eine Entscheidung darüber zu ermöglichen, ob ein traumatisierter Mensch auf der Grundlage der auch mithilfe dieses Buches erworbenen Handlungskompetenz beraten bzw. behandelt werden kann, oder ob ihm eher Anregungen zu geben sind, an wen oder wohin er oder sie sich wenden könnte. Diese Ziele erscheinen auch erreichbar bei Verzicht auf die Darstellung und Diskussion von Themenbereichen der Psychotraumatologie, die sowohl für sich genommen, wie auch für die Psychotraumatologie insgesamt wichtig sind, deren Einbeziehung aber den hier gewählten Rahmen einer Einführung sprengen würde. Allerdings war insbesondere die Entscheidung für eine Schwerpunktsetzung auf Störungsbilder statt einer Diskussion von bestimmten Gewaltformen mit ihren Folgen nicht leicht. Die möglichen Krankheitsbilder etwa nach Vergewaltigung, 1 Wenn in diesem Buch von»traumatisiert«oder»traumatisierung«die Rede ist, ist immer die»seelische Traumatisierung«gemeint. 11

Vorwort häuslicher Gewalt, Kriegseinsatz, Großschadensereignis, Folter und bei anderer Dimension und Form der Gewalt keinesfalls folgenlos Mobbing sind zwar abgehandelt, aber im Wesentlichen eben als Krankheitsbilder, insofern wieder»dissoziiert«, abgespalten vom jeweiligen Gewaltereignis. Nur einige wenige ausgewählte Ereignisse sind mit ihren Folgen dargestellt. Sicherlich wird manch ein Leser auch etwas vermissen, das als unverzichtbar betrachtet wird die Thematik von Diagnostik und Therapie von Kindern und Jugendlichen etwa oder von Älteren, die von Migranten und Behinderten, die von körperlich chronisch Kranken usw. Hier kann nur darauf verwiesen werden, dass dieses Lehrbuch darauf abzielt, eher Grundlagen der Psychotraumatologie und deren zentrale Themen darzustellen als eine Gesamtübersicht zu geben. In keinem noch so umfassendem Lehr- oder Handbuch kann bei dem mittlerweile erreichten Stand der Psychotraumatologie deren gesamte Fülle dargestellt werden. Dankbar bin ich vielen Kolleginnen und Kollegen für anregende Gespräche in den letzten Jahren, auch wenn zu einigen kein Kontakt mehr besteht, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Lehr- und Supervisionsveranstaltungen sowie insbesondere den Patientinnen und Patienten, die sich mir anvertrauten. Den Leserinnen und Lesern wünsche ich Freude bei der Lektüre und ein zunehmendes Interesse, sich intensiver mit den vielen Aspekten der Psychotraumatologie zu beschäftigen. Günter H. Seidler 12

Einleitung: Metareflexion zur Psychotraumatologie Die Frage ist immer angebracht: In welchem Kontext stehe ich eigentlich, wenn ich dieses oder jenes tue, denke, betreibe? Es erhöht den Handlungsspielraum und die Freiheitsgrade, mit denen man sich dann hier oder da positioniert, wenn man zumindest etwas reflektiert hat: In welchem historischen Kontext steht die eigene Position, welchen Interessen dient diese möglicherweise, was könnte aus der aktuell vertretenen Position werden? Einer solchen Selbstreflexion dient diese Einleitung. Überblickt man die Geschichte der Psychotherapie seit der vorletzten Jahrhundertwende Freud datierte seine»traumdeutung«vor auf das Jahr 1900 (Freud 1900 a) 1, sind im Zeitablauf sich wandelnde»schwerpunktthemen«zu erkennen, die jeweils für eine gewisse Zeit die Aufmerksamkeit der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Forschung und Praxis auf sich zogen, bis dann das nächste Thema zentral wurde. Diese Themen können auch als»brillen«bezeichnet werden, durch die auf die Welt der Phänomene geblickt wird, oder als»filter«, die den Wahrnehmungsbereich strukturieren und organisieren. Nur zur Veranschaulichung, nicht als lückenlose historische Nachzeichnung, seien einige dieser»aufmerksamkeitsorganisatoren«, dieser»themen«genannt. Die ersten Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts standen psychotherapeutisch im Zeichen des Ödipus. Die Qualität der intrapsychischen Niederschläge der triadischen Konfiguration von Mutter, Kind und Vater wurde als konstitutiv für das Gelingen der seelischen Entwicklung eines jeden Menschen betrachtet. In dem Konstrukt von Ödipalität kommt dem Vater für die seelische Strukturbildung große Bedeutung zu. Die insbesondere, aber nicht nur aus der Auseinandersetzung und der Identifizierung mit ihm hervorgehende psychische Struktur des Über-Ich ist, was heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, insbesondere ein Schutz vor einer Regression in undifferenzierte Erlebens- und Funktionsweisen. Es ist nicht schwer, in diesem Konstrukt die Widerspiegelung eines paternalistischen Familien- und Gesellschaftsmodells zu sehen, in dem Ordnung nur durch männliche Macht vorstellbar und eine Nähe zur Weiblichkeit mit Ängsten vor Entdifferenzierung verbunden ist (Theweleit 1977, 1978) vor allem bei denen, die die»deutungsmacht«hatten, also bei den Männern. Ruth Brunswick (1940) lenkte dann die Aufmerksamkeit auf die»präödipalen Phasen der Libidoentwicklung«und thematisierte damit noch immer innerhalb des klassischen Triebmodells einen Bereich der menschlichen Individualentwicklung, der über mehrere Jahrzehnte im Fokus der Aufmerksamkeit stehen sollte: die 1 Die Arbeiten von S. Freud werden entsprechend der»freud-bibliographie mit Werkkonkordanz«(Meyer-Palmedo und Fichtner 1975) zitiert. 13

Einleitung: Metareflexion zur Psychotraumatologie Bedeutung der Beziehung eines kleinen Kindes zu seiner Mutter in seinen ersten Lebensmonaten und -jahren. In Verbindung mit den Arbeiten von Melanie Klein (1928, 1995, 1996, 1997, 2000, 2002 a, 2002 b), dem Kinderarzt und Psychoanalytiker Winnicott (1949 a, b; 1951), Margaret Mahler et al. (1975) und vielen anderen wurde so langsam ein Verständnis von seelischen Entwicklungen möglich, die bei problematischen Mutter-Kind-Beziehungen zu leidvollen Akzentuierungen der Persönlichkeit des späteren Erwachsenen und zu Problemen in seiner Fähigkeit, für beide Teilhaber befriedigende Beziehungen einzugehen, führen können. Die Nennung der Vornamen von Autoren und Autorinnen erfolgt im Übrigen hier und gelegentlich später, um die Aufmerksamkeit auf einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Autorin/des Autors und dem Inhalt des jeweiligen Ansatzes zu lenken. Dieser neue Aufmerksamkeitsfokus war und ist klinisch von nicht zu überschätzender Bedeutung. Gleichwohl reflektiert er auch das Zurücktreten der realen Anwesenheit des Vaters in vielen Kindheiten, die Infragestellung seiner Bedeutung und eine beginnende Relativierung eines paternalistischen Weltverständnisses (Seidler 1994 b). Eine Reihe von Autoren (Riesman 1950; Mitscherlich 1963; Marcuse 1964) hat den Verlust der Bedeutung des Vaters beschrieben. Eine Möglichkeit der Konzeptualisierung des destruktiven Narzissmus baut auf deren Analysen auf (Seidler 1994 a, 1995 c, 2000 b, 2009 b). Die aktuelle Säuglingsforschung (Dornes 2009; Stern 1986) wie auch die Bindungsforschung (Brisch 2009) sind ohne diese Aufmerksamkeitsverschiebung auf die erste Lebenszeit nicht denkbar. Insbesondere diese Hinwendung zu»präödipalen«, lebensgeschichtlich frühen Stufen der menschlichen Individualentwicklung erlaubte es, ein besseres Verständnis für Menschen zu entwickeln, die heute als»persönlichkeitsgestört«bezeichnet werden. Meistens wirken biologische Faktoren mit biografisch-lebensgeschichtlichen zusammen, etwa in dem Sinne, dass biologische Vorgegebenheiten nicht durch günstigere psychosoziale Umgebungsfaktoren kompensiert werden können. Von den verschiedenen Strömungen, die ihren Ursprung schon in der Frühzeit der Psychoanalyse haben und Auswirkungen auf die heutige Psychotraumatologie verdient auch die Ich-Psychologie Erwähnung. Diese Orientierung ist in sich wieder so differenziert, dass eine Gesamtdarstellung zu weit führte. Im Unterschied zur klassischen Psychoanalyse mit dem klinischen Schwerpunktthema des seelischen Konflikts steht in ihr das Ich (Seidler 2000 a) im Fokus der Aufmerksamkeit, seine Entwicklung und seine Funktionen, und von diesen wieder die der Abwehr. Von den der Ich-Psychologie zuzurechnenden Autoren ist Paul Federn (1953) in bestimmter Hinsicht ein Psychoanalytiker, der aktuelle, moderne Theorien vom Subjekt (s. dazu Reckwitz 2006) vorwegnimmt. Sein Denken ist orientiert an»ich- Zuständen«, wobei dieses Konstrukt eine große Ähnlichkeit aufweist zu heutigen Ansätzen von Polypsychismus und Multiplizität. Die Vorstellung, dass in einer Hauthülle immer dasselbe Wesen beheimatet sei mit immer derselben Struktur und immer derselben von ihm erzählten Biografie, ist rührend schlicht, aber unzutreffend. In Kapitel 6.5.7 wird ein aktueller Therapieansatz dargestellt, dessen Hintergrundsannahmen auf Paul Federn zurückgehen. 14