Was wir von transgenen Mäusen über unsere integrativen Körperfunktionen lernen können



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Transkript:

Dezember 1997 Nr. 48 Der Verein «Forschung für Leben» informiert: Was wir von transgenen Mäusen über unsere integrativen Körperfunktionen lernen können Prof. Dr. med. Christian Bauer Dr. Thierry Hennet PD Dr. Max Gassmann

Impressum Der Verein «Forschung für Leben», gegründet 1990, bezweckt die Information der Bevölkerung über die Ziele und die Bedeutung der biologisch-medizinischen Forschung. Er bringt den Nutzen, aber auch die Gefahren, die sich aus der Forschung ergeben, einfach und klar zur Sprache und baut durch Aufklärung Ängste und Misstrauen ab. «Forschung für Leben» besteht aus gegen 200 Mitgliedern und Gönnermitgliedern. Die Einzelmitgliedschaft beträgt jährlich Fr. 50., die Gönnermitgliedschaft Fr. 500.. Bei Interesse oder für weitere Informationen kontaktieren Sie bitte die Geschäftsstelle: Verein «Forschung für Leben» Postfach, 8033 Zürich Geschäftsführerin: Dr. Regula Pfister Tel. 01 361 49 47, Fax 01 361 53 32 E-Mail: vffleben@access.ch Internet: http://www.access.ch/vffleben 2

Was wir von transgenen Mäusen über unsere integrativen Körperfunktionen lernen können Einführung Über die Aussagekraft von transgenen Tieren für den Erkenntnisgewinn von biologischen Funktionen am intakten Organismus wird im Vorfeld der Genschutzinitiative sehr ausführlich, aber auch sehr kontrovers diskutiert. Vor allem wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob die Ergebnisse, die sich mit solch transgenen Tiermodellen gewinnen lassen und hier sind vor allem Mäuse gemeint, da sie am häufigsten im Labor verwendet werden, auf den Menschen übertragbar sind. Da viele Lebensvorgänge bei den Labortieren sehr ähnlich ablaufen wie beim Menschen, lautet die Antwort grundsätzlich «ja». Ob dies für den Einzelfall vollumfänglich zutrifft, muss jeweils sorgfältig abgeklärt werden. In der folgenden kurzen Abhandlung wird anhand von einigen Beispielen aufgezeigt, dass eine Wechselwirkung zwischen Zellen, Organen und Organsystemen stattfindet, welche die komplexen Reaktionen des Gesamtorganismus überhaupt erst möglich machen. In der Fachsprache bezeichnet man das Wechselspiel der normalen Körperfunktionen als «integrative» Physiologie und im Krankheitsfalle als Pathophysiologie. Erst die Analyse solcher Funktionszusammenhänge führt dann zu aussagekräftigen Erkenntnissen für den Menschen, die z.b. an isolierten Zellkulturen oder gar durch Computersimulationen keinesfalls vollständig gewonnen werden können. Bevor diese Aussage durch einige Beispiele beleuchtet und untermauert wird, soll dargelegt werden, was man sich unter transgenen Tieren vorzustellen hat. Es sei darauf hingewiesen, dass die Mäuse im Labor unter streng kontrollierten Bedingungen leben, die durch das jeweilige kantonale Veterinäramt überwacht werden. Der beweiskräftigste Test zur Bestimmung der Funktion eines Genproduktes besteht darin, das entsprechende Gen in einen Gesamtorganismus einzuschleusen oder aber es zu inaktivieren. Danach wird beobachtet, welcher biologische Effekt durch diese Genveränderung hervorgerufen wird. Im Idealfall sollte das normale Gen durch ein abgewandeltes Gen ersetzt, ausgetauscht oder inaktiviert werden, damit dann die Funktion des veränderten Genproduktes, also eines Eiweisses, untersucht werden kann. Diese Vorgehensweise, die, wie wir noch sehen werden, zu erstaunlichen neuen Erkenntnissen geführt hat, klingt einleuchtend und einfach, in der Durchführung ist die Sache jedoch sehr viel komplizierter. Wenn nämlich ein Stück DNS (Desoxyribonukleinsäure = Erbmaterial), welches den zu untersuchenden Genabschnitt enthält, in die befruchtete Eizelle eines Säugetiers durch Mikroinjektion eingeführt wird (Abb. 1), baut sich dieses veränderte Genfragment im Erbgut (Genom) ein. In etwa 10 bis 30 Prozent der mikroinjizierten Eizellen wird erfahrungsgemäss der modifizierte Genabschnitt fest in das Genom integriert. Ziel ist es, dass dieses neue Gen überexprimiert und dauerhaft an die Nachkommen vererbt wird. Mäuse, die auf diese Weise selektioniert und gezüchtet wurden, werden als «klassische» transgene Mäuse beziehungsweise transgene Tiere bezeichnet. Eine weitere Methode zur Untersuchung der Genfunktion wird im nächsten Abschnitt besprochen. Die knock-out Maus Direkte Gen Austausche oder auch die Inaktivierung eines ganz bestimmten Gens (Fachausdruck: knock-out Mäuse) werden durch aufwendige Labormethoden selektioniert und gezüchtet. Ein DNS Abschnitt, welcher die gewünschte genetische Veränderung (Mutation) enthält, wird zunächst in eine spezielle Linie von undifferenzierten (pluripotenten) embryonalen Stammzellen gebracht, welche zeitlich unbegrenzt in Kultur wachsen. Wie es im Zellkern zu einem Austausch des im Erbgut 3

Erzeugung von transgenen Mäusen und von Mäusen, die durch gezielte Veränderung der Erbinformation (homologe Rekombination) gewonnen werden. Linker Teil: Das geänderte Gen (Transgen) wird in den männlichen Vorkern injiziert, da er grösser und leichter zu erreichen ist als der weibliche. Eine gewisse Anzahl injizierter DNS-Fragmente (Transgene) wird in das Erbgut (Genom) der Maus eingebaut (integriert). Rechter Teil: Das gewünschte DNS-Konstrukt wird in einige undifferenzierte (pluripotente) embryonale Stammzellen, die aus der inneren Zellmasse (IZM) von Blastozysten etabliert worden sind, eingeführt. Nach Selektion werden diejenigen Zellen, in denen der gewünschte Gen-Austausch stattgefunden hat (sog. homolog rekombinierte Zellen), in eine Empfängerblastozyste injiziert. Die Verwendung von embryonalen Stammzellen von einem sog. Agouti Maus- Stamm (beige Haarfarbe) und einer Empfängerblastozyste von einem Maus- Stamm mit schwarzer Haarfarbe, führt zu den sog. Mosaikmäusen (Chimären) mit zweierlei Haarfarben. (Für weitere Einzelheiten siehe Text). vorhandenen DNS Abschnittes mit dem übereinstimmenden (homologen), neueingeführten Gegenstück kommt, ist bis heute noch nicht restlos geklärt. Dieser Vorgang wird in der Fachsprache als «homologe Umlagerung» (Rekombination) bezeichnet. Nach einer Vorselektion werden die wenigen Zellkolonien, in denen die genetischen Rekombinationsmechanismen im Genom einen Gen-Austausch verursacht haben, mit Hilfe einer speziellen Nachweismethode identifiziert und danach in einen noch jungen Embryo (Blastozystenstadium) injiziert (Abb. 1). Diejenigen Mäuse, die das veränderte Gen in ihrer Keimbahn integriert haben (Chimären), erzeugen bei der Weiterzüchtung weibliche und männliche Nachkommen, die jeweils heterozygot bezüglich des veränderten Gens sind. Heterozygot bedeutet, dass die so gewonnenen Mäuse je ein normales und ein verändertes Gen tragen. Werden diese Mäuse untereinander weitergezüchtet, so wird nach den Mendel - schen Gesetzen ein Viertel ihrer Nachkommenschaft gleichgenetisch (homozygot) für das veränderte Gen sein. Anhand sorgfältiger Untersuchungen an den hetero und homozygoten Tieren kann auf die Funktion dieses Gens geschlossen werden. Obschon viele Fragen, soweit sie die Funktion einzelner Gene betreffen, auf zellulärer Ebene mit Zellkulturmodellen angegangen werden können, muss man sich doch immer wieder vor Augen führen, dass ein Gen oder ein im Zusammenspiel wirkender Genverband im Laufe der Evolution entwickelt wurde, um im Gesamtorganismus zu wirken. Dies heisst wiederum, dass ein Gen seine Wirkungen im gesamtheitlichen Funktionsverbund ausübt. Aus diesem Grund kann ein Gen also auch nicht als «Minimalbaustein» angesehen werden, sondern es muss immer berücksichtigt werden, dass seine Funktion oder seine Funktionen und dies sei noch einmal betont nur im «Gesamtzusammenhang», d.h. am intakten Organismus, vollständig untersucht werden können. Die Gültigkeit dieser Aussage ist durch zahlreiche Beispiele belegbar, wobei zunächst einige allgemeine physiologische Organ- und Regulationssysteme aufgezählt werden sollen, die von der Natur der Sache her eben nicht in Zellkulturmodellen untersucht werden können: Blutdruckregulation (Organdurchblutung; Umverteilung des Blutes z.b. bei körperlicher Belastung); Nierenfunktion (Harnaufbereitung, Regulation des Salz-Wasserhaushaltes); Atmungsregulation (Lungenmechanik, Mehratmung, Lungenrefle- 4

xe), Temperaturregulation inkl. Fieberzustände; Verdauung (Kauen, Schlucken, Darmbeweglichkeit); Fortpflanzung und Schwangerschaft; die vielfache Wechselwirkung hormoneller Systeme zur Aufrechterhaltung angepasst-integrativer Körperfunktionen oder auch die koordinierten Leberfunktionen. Diese Vielzahl von ineinandergreifenden Regelmechanismen kann durch transgene Tiermodelle in ihrer Komplexität derzeit noch nicht restlos aufgeklärt werden. Dennoch gibt es eine Anzahl von Beispielen, die im folgenden kurz dargelegt werden sollen, um aufzuzeigen, dass weiterführende und richtungsweisende Erkenntnisse mit transgenen Tieren gewonnen werden konnten. Erkenntnisgewinn aus genveränderten Tiermodellen Bis heute sind mehr als 20 000 transgene Mäuse beschrieben worden, von denen im folgenden einige ausgewählte Beispiele näher ausgeführt werden sollen: i) Überexpression eines Fettstoffwechselenzyms führt zu hohen Lipoproteinkonzentrationen und zur Atherosklerose. Unter Atherosklerose versteht man die der Arteriosklerose zugrundeliegende Veränderung der Innenschicht (Intima) und der mittleren Schicht (Media) der Arterienwand. Sie wird hervorgerufen durch die Einlagerung fettiger Massen (Cholesterin, Fettsäuren, später Kalkeinlagerungen), schliesslich gefolgt von Einengung der Gefässe und evtl. auch Durchbruch in die Gefässlichtung (atheromatöses Geschwür). Bestimmte Patientengruppen haben in ihrem Blut erhöhte Konzentrationen eines Fette transportierenden Plasmafaktors, der in pathologisch veränderter Form zu einer verstärkten Atherosklerose führt (s.u.). Dieser Faktor ist das HDL (engl. Abkürzung für High Density Lipoprotein). In einem kürzlich entwickelten transgenen Mausmodell konnte die menschliche Form eines Enzyms überexprimiert werden, die Lezithin-Cholesteryl-Acyltransferase (LCAT), welche bei der Modulation der Plasma HDL-Funktion und -Konzentration eine wichtige Rolle spielt. Dieses Enzym wird vor allem in der Leber gebildet und ist im Plasma hauptsächlich mit HDL assoziiert. Das Enzym ist notwendig für die Freisetzung von Cholesterin aus HDL und für dessen Transport zurück zur Leber, wo es dann weiterverarbeitet wird. Dieser Rücktransport von Cholesterin in die Leber stellt wahrscheinlich einen wichtigen Mechanismus dar, durch welchen das Lipoprotein HDL die Entstehung der Atherosklerose beeinflusst, jedoch sind die genauen pathobiochemischen Zusammenhänge noch weitgehend ungeklärt. Eine Überexpression des Enzyms LCAT in transgenen Mäusen resultierte überraschenderweise zur verstärkten Bildung von abnormem HDL, was wiederum den normalen Cholesterintransport in die Leber beeinträchtigt. Diese pathobiochemische Veränderung führt schliesslich zu einer ausgeprägten Atherosklerose. Studien an transgenen Mäusen zeigen, dass Mechanismen, die zu einer übernormalen Erhöhung von verändertem HDL führen, zur Entstehung der Atherosklerose wesentlich beitragen. Aus diesem Grund stellen diese neuen, an transgenen Mäusen gewonnenen Erkenntnisse einen wichtigen Beitrag zum Verständnis und zur möglichen Therapie derjenigen Form von Atherosklerose dar, die durch ein abnormes Lipoprotein, in diesem Fall das HDL, hervorgerufen wird. ii) Teilaspekte der Alzheimer schen Erkrankung: Was können transgene Mäuse an neuen Erkenntnissen beitragen? Die sog. Amyloidose besteht in einer Störung des Eiweiss-Stoffwechsels, wobei körpereigene Eiweisse, die normalerweise in gelöster Form vorliegen, in Geweben abgelagert werden, und zwar in abnormen, unlöslichen Proteinsträngen, die sowohl strukturelle als auch funktionelle Störungen verursachen. Alle erworbenen und vererbten Formen der systemischen Amyloidose, welche die meisten Körpergewebe betreffen, enden meist tödlich. Werden die Amyloidstränge im Gehirn abgelagert, so entsteht die Alzheimer sche Erkrankung, eine schwammartige «Gehirnerweichung». Die Amyloidstränge können aus verschiedenen Eiweissen entstehen und sind widerstandsfähig (resistent) gegen Eiweiss-abbauende Enzyme (Proteinasen). Es gibt zahlreiche Hinweise dafür, dass diese Amyloid-Fibrillen an der Amyloidose ursächlich beteiligt sind. Ein 5

weiteres wichtiges biochemisches Kennzeichen aller Amyloidose-Formen ist die Anlagerung eines normalen Plasmaproteins an diese Fibrillen, welches den Namen Serum Amyloid P-Komponente (SAP) erhalten hat. Aus früheren Untersuchungen ist bekannt, dass SAP die Amyloid-Fibrillen stabilisiert und somit zu einem schnelleren Fortschreiten der Amyloidose-Erkrankung führen kann. Diese Annahme wird durch die Beobachtung unterstützt, dass bei Mäusen und Hamstern eine hochsignifikante, positive Korrelation zwischen den zirkulierenden SAP-Konzentrationen und der Entwicklung der Amyloidose besteht. Bei Mäusen, in denen das SAP-Gen gezielt ausgeschaltet wurde (SAP knock-out Mäuse), konnte die Ablagerung von Amyloid verzögert werden. Weitere Versuche zeigten, dass der pathobiochemische Beitrag zur Amyloid-Erkrankung beim Menschen sogar noch bedeutsamer ist als bei der Maus. Da SAP in allen Amyloid-Ablagerungen vorhanden ist, einschliesslich derjenigen, die bei der Alzheimer- Krankheit vorkommen, ist eine ursächliche Beteiligung von SAP für die Pathogenese der Amyloidose sehr wahrscheinlich. Aufgrund der Tatsache, dass die Hemmung der Anlagerung von SAP an die Amyloid-Fibrillen die Amyloid-Ablagerung signifikant verzögert, eröffnet eine therapeutische Hemmung von SAP in vivo neue mögliche therapeutische Zugänge, die zwar die Alzheimer sche Erkrankung wohl nicht heilen, aber doch verzögern können. Dies bedeutet sicher einen klinischen Vorteil und eine deutlich verbesserte Lebensqualität für die betroffenen Patienten/innen. iii) Neuigkeiten zum Prozess der Wundheilung Nach einer mechanischen Verletzung werden zahlreiche Vorgänge aktiviert, wie z.b. die Aktivierung von Blutplättchen, welche zu einem ersten Wundverschluss führen, die plasmatische Blutgerinnungskaskade, die Neubildung von verletzten Gefässen (Angiogenese), die Einwanderung von Abwehrzellen oder die Neubildung von Bindegewebszellen (Fibroblasten). Die endgültige Abdeckung, z.b. einer verletzten Hautstelle, geschieht durch die Vermehrung von sog. Keratinozyten, derjenigen Zellen also, die in ihrer Gesamtheit die Oberhaut (Epidermis) bilden. Seit langer Zeit wurde vermutet, dass ein Plasmafaktor, das Plasminogen, die geschädigte Bindegewebsmatrix («Kittsubstanz» des Gewebes) der Lederhaut (Corium) im Verlauf der Wundheilung auflöst, um so den Keratinozyten «Platz zu schaffen», welche die Wunde endgültig verschliessen. Jedoch konnte diese Annahme nicht schlüssig bewiesen werden, bis es gelang, das Gen, welches für Plasminogen kodiert, in der Maus zu inaktivieren. Zusätzlich sei noch erwähnt, dass auch die Angiogenese, die Einwanderung von Abwehrzellen, sowie die Neubildung von Bindegewebszellen eine Aktivierung des Plasminogensystems zu benötigen scheinen. Es zeigte sich, dass die Heilung einer Verletzung bei diesen Mäusen vermindert ist, wahrscheinlich, weil die mangelnde Auflösung der zwischen den Bindegewebszellen gelegenen «Kittsubstanzen» gestört war und so eine Ausbreitung der Keratinozyten und andere Wundheilungsvorgänge verhindert wurden. Die therapeutischen Ansätze, die sich aus diesen Versuchen ergeben, beziehen sich auf eine ganze Anzahl von pathologischen Vorkommnissen: So ist es durchaus denkbar, dass die Anwendung von Plasminogen bei Krankheiten, die im weitesten Sinn als Verwundung aufgefasst werden können, einen positiven, d.h. heilenden Effekt hat. Hierzu gehören die oben beschriebene Atherosklerose, die entzündliche Dickdarmerkrankung (Colitis) oder die Hautentzündung (Dermatitis), Erkrankungen, welche alle mit schweren Gewebeschäden einhergehen. Auch an diesen Beispielen zeigt sich, dass transgene Tiermodelle nicht nur für die krankheitserzeugende (pathogenetische) Aufklärung eines so alltäglich erscheinenden Vorkommens wie der Wundheilung entscheidende neue Erkenntnisse vermitteln, sondern auch für die Therapie von schweren Krankheiten hoffnungsvolle Ansätze bieten. iv) Der Tumornekrose-Faktor als unerwarteter Schutzmechanismus bei Minderdurchblutung des Gehirns. Gehirnverletzungen, wie sie bei Schlaganfällen oder einer Schädelverletzung auftreten, verursachen einen dramatischen Anstieg des sog. Tumornekrose-Faktors (TNF), jedoch ist die Rolle dieses Faktors bei Gehirnverletzungen unklar. 6

TNF gehört zu einer Familie von sog. Zytokinen, die meist in der unmittelbaren Nähe ihres Bildungsortes spezifische Wirkungen entfalten. Die Bildung von TNF wird durch verschiedene Substanzen angeregt, wie z.b. Wachstumsfaktoren (Mitogene) oder Entzündungssubstanzen, zu denen die Interleukine 1 und 2 sowie das bekannte Interferon gehören. Nach Bildung und Freisetzung von TNF in vielen Gehirngebieten bindet diese Substanz an spezifische «Andockstellen» (Rezeptoren), die ihrerseits intrazelluläre biochemische Signalwege aktivieren. Die Auswirkungen dieser Rezeptor-Bindung in vivo sind aber noch keineswegs vollständig aufgeklärt, vor allem nicht unter Bedingungen einer Minderdurchblutung des Gehirns. Um dieser Frage nachzugehen, wurden wiederum knock-out Mäuse erzeugt, denen die beiden in vivo vorkommenden TNF-Rezeptoren fehlen, sodass dieses Zytokin seine zelluläre Wirkung nicht entfalten kann. Die so veränderten Tiere verhielten sich in sämtlichen Verhaltensversuchen unauffällig, woraus der Schluss gezogen werden kann, dass die Lernfähigkeit und die Gedächtnisfunktion sowie die zerebralen, biochemischen Übertragungssysteme bei diesen genveränderten Tieren normal sind. Wurde jedoch die Durchblutung einer Gehirnarterie eingeschränkt, was beim Menschen einer lokalen Mangeldurchblutung des Gehirns entspricht, so ergaben sich bei den Tieren mit inaktivierten TNF-Rezeptoren weit ausgeprägtere Schäden als bei den Kontrolltieren. Diese Daten liefern einen direkten Hinweis für die Schutzfunktionen von Nervenzellen durch TNF in vivo bei der zerebralen Mangeldurchblutung. Darüber hinaus konnte in dieser Studie gezeigt werden, dass ein sehr ähnlicher neuronaler Schutzeffekt durch TNF auch in organspezifischen Gewebsschnitten von einem besonders empfindlichen Gehirnabschnitt, dem Hippokampus, nachweisbar war. Bezüglich der therapeutischen Konsequenzen der geschilderten Ergebnisse lässt sich hervorheben, dass das Gehirn einen «eingebauten» Schutzmechanismus besitzt, der die Folgen einer Minderdurchblutung reduziert. Ob und wie ärztlicherseits dieser Schutzmechanismus noch verstärkt werden kann, ist derzeit noch unklar, doch zeigt sich einmal mehr, dass in vivo Untersuchungen an genveränderten Tieren äusserst wertvolle Einblicke in die Physiologie und Pathophysiologie liefern. Schlussbemerkung Die oben dargestellten, erfolgversprechenden Ansätze wären nicht mehr möglich, wenn durch die Annahme der Genschutzinitiative die Selektion, Zucht und Weitergabe von transgenen Mäusen verboten würde, da dieser methodische Zugang von weitreichender Bedeutung für die Zukunft der biologisch-medizinischen Wissenschaften ist. Verantwortlich für die Redaktion dieses Beitrages: Prof. Dr. med. Christian Bauer Dr. Thierry Hennet PD Dr. Max Gassmann Physiologisches Institut der Universität Zürich Winterthurerstr. 190, 8057 Zürich Tel. 01 635 50 11 (Sekretariat) Fax 01 635 68 14 E-Mail cbauer@physiol.unizh.ch Internet http://www.unizh.ch/physiol/sgp/mainpage.html Nachdruck mit Quellenangabe gestattet. Die Mechanismen, die diesem TNF-induzierten «Selbstschutz» zugrunde liegen, sind noch nicht vollständig aufgeklärt, jedoch scheint hierbei eine stabilisierende Rolle des intrazellulären Calcium-Haushaltes eine wichtige Rolle zu spielen, da TNF die Bildung eines Calcium-bindenden Proteins, des Calbindins, in den Zielzellen anregt. 7