"Wie lange noch, Herr?" Von der Einklage der dramatischen und deshalb beziehungsreicheren Bindung an Gott (Ps 13)



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Transkript:

Bibelarbeit im Juli: "Wie lange noch, Herr?" Von der Einklage der dramatischen und deshalb beziehungsreicheren Bindung an Gott (Ps 13) Hinfürung zum Text: Es ist auffallend: Im Gotteslob, dem katholischen Gebet- und Gesangbuch, gibt es kein Klagegebet. Einzig der Psalm 22 ist bei den Psalmengesängen abgedruckt, sogar in voller Länge. Was bedeutet dieser Befund, dass die Klage sowohl im Gottesdienst als auch im persönlichen Gebet ausfällt? Haben die erlittenen und erfahrenen Verwundungen und Verletzungen keinen Platz in der Gottesbeziehung? Bedeutet die fehlende Klage gegenüber Gott, die ja in der biblischen Überlieferung und Gebetspraxis ein so breites Fundament hat, dass die Gottesbeziehung entdramatisiert, ja verharmlost wird? Eben diese Ausblendung menschlicher Nöte und Schreie aus der persönlichen und gemeinschaftlichen Gebetspraxis wird zum Glaubensverlust vieler Menschen heute beigetragen haben, weil sie einen wesentlichen Teil ihrer Lebenserfahrungen nicht angesprochen und ernst genommen spüren. Auf den ersten Blick ist die Reaktion auf ein dunkles, verschattetes Gottesbild, das lange Zeit dominant war, verständlich. So wurde dann der Gott der Liebe herausgestellt. Allerdings kann bei einseitiger Betonung genau das eine zersetzende Wirkung entfalten: Ein Gott, der alles und jedes liebt und niemandem zu nahe tritt, wird letztlich wie ein Softy-Gott, wie ein unwirklicher Teddybär wahrgenommen. Niemand braucht ihn und sich selbst mehr ernst zu nehmen. Dabei gab es schon vor der Erstellung des Gotteslobes sensible Beobachtungen zu unserer Alltagskultur, etwa in einer Zeitungsglosse unter dem Stichwort "Verlust der Klage": "Uns ist ein Wort und damit ein Tatbestand abhanden gekommen, dessen Verlust zu bedenken wäre: die Klage. Es gibt die Klage nicht mehr. Es gibt an jeder Straßenecke, auf jeder Parkbank, in jedem Kaufladen, in jedem Omnibus, an jedem Kaffeehaustisch, wo nur zwei oder drei zusammensitzen, die Mitteilung von Beklagenswertem. Ihr Gegenstand ist vor allem Krankheit und vielerlei Leiden, sind steigende Preise, missratene Kinder, sind Zeitverhältnisse insgesamt. Man lamentiert. Man lässt Ärger und Sorge und Kummer, wovon man voll ist, überlaufen in des Nachbarn Ohr, unkontrolliert, geschwätzig, und hält als Gegengabe das eigene Ohr hin, um des Nachbarn Ärger, Sorge und Kummer aufzunehmen ein stillschweigendes Abkommen. Solche Art von Kleine-Leute-Lamento ist nicht gemeint. Es ist auch nicht gemeint das ärgerliche, das zornige Lamento der jungen Leute, denen alles ein Scheißdreck ist, was sie vorfinden, die auf soziologesisch schimpfen und die Väter der Revolution zitieren. Dieses Lamento ist nicht Klage. Klage ist weder geschwätzig noch ärgerlich

noch intellektuell. Sie ist ganz und gar geprägt von einem großen Gefühl, von der alles hinwegschwemmenden Trauer über eine Verlust. In der Totenklage erhebt sie sich am höchsten über die alltäglichen, von Kummer und Ärger begleiteten Begebenheiten. Hier schließt sie sich an ein elementares Ereignis an Steht es dem Ereignis nicht an, dass wir bekunden, wie es uns traf und schlug?.. Wer klagt, funktioniert nicht. Er steht da, über sich selbst gebeugt und seinen Schmerz und sieht die Welt nicht, die sich drehen will. Trauerarbeit muss geleistet werden aber nicht stumm, sondern Laut und Sprache gewinnend in der Klage. Jeremias klagte und Hiob warum meinen wir, dass wir stumm sein müssten? Es sollte nicht als mannhaft, als tapfer, als diszipliniert gelten, Klage zu unterdrücken. Die nicht in der Klage herausgerufene Trauer verschimmelt zu dumpfer Melancholie " (aus: Vilma Sturm, Nebenbei, Frankfurt 1972, 57-60). Wo die Klage verschwunden ist, könnte es sein, dass wir wie auf einem Brunnenrand hocken, dessen Brunnenschacht zugemauert ist. Wenn wir es dann und wann raunen hören, klingt es hohl. Wir hören die Klage nicht. Der Text: Palm 13 1: Dem Chorleiter. Ein Psalm Davids. 2: Wie lang noch, JHWH, vergisst du mich dauernd? Wie lang noch wendest du dein Gesicht von mir ab? 3: Wie lang noch muss ich mit Sorgen meinem Leben zusetzen, (Klage) Kummer nähren im Herzen all Tag? Wie lang noch erhebt sich mein Feind über mich? 4: Schau her, antworte mir, JHWH, mein Gott! Leuchten lass meine Augen, wend weg den Todesschlaf. (Bitte) 5: Nicht dass mein Urfeind sage: Ich hab ihn überwältigt Mein Gegner nicht juble, weil ich wanke. 6: Ich aber, in deiner Huld bin ich sicher, es juble mein Herz deiner rettenden Tat. Singen will ich JHWH, denn er hats an mir vollbracht. (Vertrauen) (Übersetzung: Fridolin Stier, Mit Psalmen beten, Stuttgart 2001, 38) Hintergründe Die Psalmen des Alten Testaments bringen elementare Erfahrungen ins Wort. Sie atmen im Ganzen den Geist der Zustimmung zum Leben, in das Gott die Menschen gesetzt hat. Zugleich wehren sie sich in aller Form mit einem Nein zum Leben, wenn in dessen Gestalt nicht mehr erkennbar ist, dass es gut ist, zu leben und mit Gott zu leben. Allerdings geschieht das alles nicht ohne Gott, sondern mit Gott.

Wer betet, holt sich ausgesprochenermaßen den Glauben ins Leben und das Leben in den Glauben! Das Beten ist der Raum, wo der Mensch mit Gott eine Verbindung aufnimmt, in der alles erzählt und auch herausgeschrien wird: die erinnerten Geschichten Gottes mit den Menschen und die eigenen, gerade auch die notvollen Geschichten. Deshalb gehen die Psalmen insgesamt einen Weg, auf dem nichts an Erfahrungen ausgelassen werden muss. Es ist freilich ein Weg von der Klage hin zum Lob. Beten heißt in der Schule der Psalmen: Sich mit seinen Erfahrungen und seiner Situation auszusprechen und zwar in die Beziehung zu dem Gott hinein, den wir Christen als den Gott Jesu Christi gegenwärtig und zukünftig glauben! Dieser Adressat unseres Betens wird wie in den erzählten Erfahrungen der Menschen mit ihm seit je in unserem Beten und Leben aktuell! Beten will die Erinnerung an diesen Gott, an seine Heilsgeschichte in den überbrachten Geschichten der Bibel, benennen: nicht in ein paar abstrakten Stichworten, sondern in ganz konkreten Begebenheiten. Der Beter beginnt mit der heftigen Frage: "Wie lang noch?". Es gehört wesentlich zur theo-logischen (Gott anredenden) Bestimmung des Gebetsanfangs, dass der Psalmist unmittelbar aus seiner Situation heraus mit Gott ein Gespräch, auch einen Streit beginnt, worin nicht nur die Verstandeskraft des Menschen, sondern seine ganze Emotionalität, die aus der bedrängenden Situation erwächst, zum Zuge kommt. Hier kommt nicht nur die Klage über den Notzustand zu Wort, sondern in der Frageanrede wird dieser Notzustand auf Gott hin ausgesprochen, fast als Anklage, jedenfalls als Einklage dessen, was Gott doch offenkundig an heilvollem Mitgehen versprochen, was aber jetzt unverständlicher - und schockierenderweise nicht mehr der Fall ist: Gott versagt sich! Dieser Gott ist JHWH, der unverwechselbare Gott Israels. Der Beter bleibt allein bei seiner Erlebnisperspektive. Wie grundlegend sein Erleben ist, drücken die drei Dimensionen aus, die er anspricht. Und damit ist deutlich, dass sein ganzes Leben zutiefst von der Not betroffen ist. Er beginnt mit der Beziehung zu Gott, mit der theologischen Dimension. Er beklagt das Vergessensein durch Gott. Wer vergessen ist, der verdorrt und stirbt, der ist von der Lebensquelle getrennt. Bei Gott in Erinnerung zu sein, bedeutet Leben, bedeutet, dass Gott sich für mich engagiert. Genau das kann der Beter in nichts mehr entdecken. Und Gott wendet sein Angesicht von ihm ab. Auch damit ist ein Grundwort der Beziehung angesprochen. Verliere ich alle Zuwendung und Liebe, die sich vor allem im zugewandten Angesicht verleiblicht, wird das Leben bleischwer, unglücklich und nichtig. Deshalb ist die Angst vor Liebesverlust so verständlich. Wo sollte ich dann mein An-sehen hernehmen, wenn niemand mehr mich liebevoll ansieht? Wie sollte ich weiterhin sprechen und mich mitteilen können, wenn ich für niemanden mehr ansprechend und vielversprechend wäre? Zweimal fragt der Beter in dieser Situation zu Gott hin, so tief ist sein Gefühl der Gottverlassenheit, der Grundstörung seines Lebens. Dann, mit einer Frage, leuchtet er die anthropologische Dimension seines Leids aus: Die Beziehung zu sich selbst ist zerstört. Er kann nicht anders, als mit Sorgen seinem Leben zuzusetzen, den Kummer im Herzen nähren. Genau umgekehrt zum sonstigen Leben richten sich die Lebensimpulse gegen ihn selbst. Das Herz als die geistige und lebenswillige Mitte des Menschen ist auf den Kopf gestellt, ohne Ausweg, ohne Rückwegmöglichkeit zum früheren Leben. Die vierte Frage "Wie lang noch?" betrifft die soziale Dimension des Lebens. Der Beter sieht sich "klein" gemacht von Feinden. Wer sind nun die Feinde? Diese Frage muss in den Blick rücken, weil die in diesem Wort "Feind" angesprochene Frage tief verwurzelt ist in dem, was im Beten bei uns lange Zeit vorkommen durfte oder nicht. Einmal sind es hier vermutlich ganz reale Zeitgenossen, vielleicht Verwandte und Bekannte, die sich in der sozialen Umgebung des Beters befinden. Es sind diejenigen, die vielleicht Angst vor seiner Not haben. Aus dieser Angst heraus suchen sie womöglich nach Gründen für die Not des anderen: Denn wer die Gründe zu wissen meint, meint etwas in der Hand zu haben, um Krankheit und Not abzuwehren. So muss in ihren Augen der Beter möglicherweise etwas Schlimmes getan haben, er muss irgendwie selbst daran schuld sein, dass er in diese Katastrophe

hineingefallen ist. Das sind auch die verletzenden Argumentationen der sogenannten Freunde des Ijob. Sehr wahrscheinlich sind die Umstehenden gar nicht so schlimm, dass sie den Beter vernichten wollen. Möglicherweise handelt es sich um eine charakteristische Akutreaktion eines Notleidenden, etwa eines Kranken, der die Ängste um sein Anders-Geworden-Sein auf die Gesunden wirft und diesen unterstellt oder eben in ihnen besonders scharf wahrnimmt, dass sie bzw. wenn sie etwas gegen ihn haben. Solch projektives Verhalten darf im Gebet mit aller Vehemenz, mit all seiner nervenden Kraft zum Ausdruck kommen. Denn das ist die Bedingung dafür, dass die im Gebet eröffnete Beziehung zu Gott nicht Situation und Emotion des Beters missachtet und sich damit auf dessen Kosten behauptet. Nun ist der Psalm keine Biographie, sondern die Durcharbeitung eines schier unvorstellbaren Extremfalls, dem auf die Spur zu kommen der Beter sich müht. Klage, das ist die Sprache der Leidenden, weil nur die Klage den Bannkreis von Resignation und Verzweiflung zu durchbrechen vermag und den Leidenden Worte verleiht, wenn jedes andere Wort zu Gott im Hals stecken bleibt. Indem die Klage sich unmittelbar an Gott wendet und sich gegen jedes Suchen nach dem Grund des Leidens richtet, erteilt sie dem Blick zurück in die Vergangenheit eine Absage und schaut statt dessen nach vorne. Allerdings geschieht Klage nicht so, dass der Beter sich dabei in einem chaotischen Wortschwall verliert und darin selber untergeht, sondern dass ihn gerade das Aussprechen dieser Not auch wieder in einen Abstand zu dem bringt, was er erleidet. Das Klagegebet hat die heilsame Wirkung, den Beter von seiner eigenen Notsituation nämlich dadurch, dass er sie auf Gott hin ausspricht und aus den entsprechenden verzweifelten Fixierungen ("jetzt ist alles aus") zu lösen, um von daher einen neuen Blick zu gewinnen und womöglich auch noch etwas anderes wahrnehmen zu können. Hier erweist sich deutlich die Kraft der "Wie lang noch" - Frage aus dem Eingang des Psalms. Deshalb folgt auf die Klage als zweiter Schritt die Bitte um ein Ende der Not. Oft arbeitet sie sich an den drei Dimensionen des Leides ab. So tut es dieser Psalm. Die Gottesbeziehung soll wieder belebt werden: Gott soll den Beter anschauen und ihm antworten. Der Beter will Gott wieder spüren, will in innerer Gewissheit leben, gerade im Leid von Gottes Nähe umfangen und gehalten zu sein. Die zweite Bitte betrifft sein eigenes Ergehen. Er will wieder leben. Leuchtende Augen sind Lebenszeichen, gebrochene Augen sind Todeszeichen. Darum soll Gott den Todesschlaf von ihm weg wenden. Er will sich in seiner Integrität als lebendiger Mensch erfahren. Schließlich geht es um den Feind. Er soll sich nicht an der Gebrochenheit des Beters freuen. Mit seiner Lebenskraft will er den Angriffen aufrecht standhalten können. Nicht dass Gott gegen den Feind vorgehen soll, ist hier die Bitte, sondern dass der Beter erstarkt und dem Leben gewachsen ist, getragen von der Gewissheit der Verbundenheit mit Gott. An diesem Punkt des Psalms betritt der Beter den "Raum" seiner Bitten, er tritt in die Wirklichkeit ein, von der seine Bitten gesprochen haben. Hier findet er geradezu unvermittelt hin zum Bekenntnis. Das Gebet, beginnend mit der vehementen Klage, hat den Beter in eine rettende Gebetsbewegung versetzt. Der Klagepsalm will den Raum für die Erfahrung der Gottesnähe gründen und eröffnen. Immer wieder will dieser Raum begangen werden; so kann der Weg beginnen, wie der Psalter im Ganzen von der Klage zum Lobpreis voranschreitet. Die Klage ist vom Wesen her ein Hoffnungsgebet. Hier, am Ende, erweist sich, dass die Hoffnung nicht enttäuscht wird. An der Wende von der Bitte zum Bekenntnis konzentriert sich das Unglaubliche, was überhaupt den biblischen Glauben an Gott charakterisiert: In der Situation der Not und der Bedrängung entsteht die Erhörungs- und Glaubensgewissheit, dass Gott hört und in irgendeiner Form den Beter nicht zugrunde gehen lässt, auch wenn diese Form noch in keiner Weise sichtbar ist. Die äußere Situation des Beters ändert sich offenbar nicht. Geändert hat sich das Bewusstsein, dass im Klagen das Vertrauen verankert ist: An dieser Stelle bricht nämlich ein höchst

neues, ja im Gegensatz zu anderen Gottesbildern alternatives Verhältnis zu Gott durch: Es ist radikal entmagisiert! Genau dazu hat die Klage verholfen. Der Beter ist in Bewegung zum Vertrauen gegen den Augenschein: Gott steht auf der Seite der Notleidenden und Armen! Er ist da. Gerade die Gottesbegegnung anstelle aller Antworten bekräftigt, dass die Klage des Beters es ist, die allen Fragen ein Ende macht. Die Frage zuvor nach dem "Wie lang noch?" des Leidens kann der Leidende nur an Gott richten. Und ER wird sie beantworten - persönlich. Gott ist nicht nur da, er ist wirksam da. Die Klage ist zutiefst also eine Vertrauensäußerung, und gerade das erfährt der Psalmbeter als Klagender. Gott enttäuscht sein Vertrauen nicht, vielmehr wird ihm eine Gotteserfahrung gewährt. Die Dynamik Klage Bitte Vertrauen ist freilich ein Prozess, der lange dauern kann, den man nicht "machen" kann. Anregung für eine Bibelarbeit: 1. Der/Die Leiter/in legt in der Mitte ein Plakat aus, auf dem das Stichwort "Klage" steht. Die Teilnehmenden besinnen sich auf das Wort und schreiben schweigend ihre Assoziationen und Kommentare um den Zentralbegriff herum. Dabei können auch schon geschriebene Kommentare der anderen, wiederum schreibend, kommentiert und fortgeführt werden. Ein anschließendes Rundgespräch wertet diese Schreibphase aus. 2. Ps 13 wird gelesen, indem der Reihe nach jede/r ein oder zwei Verse vorträgt und so der Text durch die Runde wandert. Dann folgt eine Phase gemeinsamen Schweigens, in der der Text bedacht wird. In dieses Schweigen hinein können die Teilnehmenden jene Worte oder Versteile sprechen, die sie bewegen. Dann folgt ein gemeinsames Rundgespräch, in dem die Struktur des Psalms, sein innerer Zusammenhang wie auch seine Aussagen erarbeitet werden. Hilfreich kann eine Analyse der Kommunikationsstruktur sein: Wer spricht zu wem, worüber und wann? Für die Kommunikationsform könnte man ein Schema suchen, um die zentrale aussage des Psalms zu verdeutlichen. 3. Am Schluss stellen sich die Teilnehmenden die Frage: Was bedeutet ein Klagepsalm für meine Gebetspraxis? Was könnte ich tun? Wofür müsste ich aufmerksam werden? Was bedeutet diese Art des Betens für meine Gottesbeziehung? Was für meine Menschbeziehung? Alle Teilnehmenden könnten ein Wort von Karl Rahner bekommen, der davon sprach, dass wir den Mut brauchten, "mit dem Herzen zu denken, das wir haben, und nicht mit einem, das wir angeblich haben sollten." Alle könnten ebenfalls ein neuzeitliches Klagegebet in die Hand bekommen mit der Frage, ob sie sich von diesem Gebet inspirieren lassen könnten, ob sie es verändern würden: Gott, wo bist du Gott, was um mich her mit mir geschieht, ich sehe keinen Sinn darin. Warum muss ich gerade hier an diesem Platz im Leben sein? Gedanken bewegen sich im Nebel. Meine Blicke tasten.

Ich seh nicht bis zu dir. Mein Herz! Mit Bitternis ist es gefüllt. Worte, meine Gebete, so ist es mir, prallen ab von deinem Thron fallen ins Leere. Mein Hoffen ist verloren! Ich gehe verloren! Gott, wie hältst du das aus? Meine Wirklichkeit deckst du mit Schweigen zu. In meiner Seele ist tiefes Erschrecken. Sie schreit kämpft lauscht dem Morgen entgegen. Wo bist du? Irmgard Powierski (Wider das Vergessen. 7x7 Psalmen zwischen den Stelen, Vandenhoeck&Ruprecht Göttingen 2008, 9) Literatur: - Frank-Lothar Hossfeld / Erich Zenger, Die Psalmen Psalm 1-50 [NEB] Würzburg 1993 - Georg Steins (Hg.) Schweigen wäre gotteslästerlich. Die heilende Kraft der Klage, Würzburg 2000 - Fridolin Stier, Mit Psalmen beten (hg. von Eleonore Beck), Stuttgart 2001 Spiritual Dr. Paul Deselaers, Münster, Juli 2009 Katholisches Bibelwerk im Bistum Münster (www.bibelwerk.de) Weitere Bibelarbeiten im Internet: www.kirchensite.de/bibelarbeiten in Kooperation mit kirchensite online mit dem Bistum Münster (kirchensite.de) Foto: Michael Bönte