Was passiert in der Pubertät?



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14 Entwicklung Was passiert in der Pubertät? Das Kind in der Pubertät, der Jugendliche, ist ein Mensch im Übergang vom Kind zum Erwach senen. Vieles verändert sich, weniges bleibt, wie es war. Körper, Seele und auch die Beziehungen zum Umfeld werden anders. Die Fotografin Christine Bärloher porträtierte für das vorliegende Themenheft 12- bis 15-jährige Mädchen und Knaben in ihrem Zimmer herzlichen Dank an diese Jugendlichen fürs Mitmachen! Die abgebildeten Personen stehen in keinem Zusammenhang mit den in den Texten erwähnten Personen.

Text Urs Eiholzer* Fotos Christine Bärlocher Zwischen Kindheit und Erwachsenenalter liegen Pubertät und Adoleszenz. Fachleute brauchen den Begriff «Pubertät» eher für die körperlichen Veränderungen und «Adoleszenz» für die seelische Anpassung an den «neuen» Körper und die damit verbundenen sozialen Veränderungen. Man kann auch von einer biologischen, einer psychischen und einer sozialen Reifung sprechen. 16 Die Pubertät oder Adoleszenz ist eine ganz besondere Zeit. Der Körper verändert sich von Tag zu Tag, und immer wie der stellt sich dem Jugendlichen die Frage, ob seine Ent wicklung normal verlaufe. Er vergleicht sich mit weiblichen oder männlichen Idealbildern. Der sich verändernde Körper muss neu kennengelernt werden. Auch die Beziehungen zu Eltern und Gleichaltrigen werden neu definiert, und die eigene männliche oder weibliche Geschlechterrolle muss gesucht und gefunden werden. Und dann kommen in diesem Alter noch die Auseinandersetzung mit den schulischen An forderungen und die Berufswahl dazu. Start im Gehirn Der Beginn der Pubertät findet im Gehirn etwa im Alter von acht bis zehn Jahren statt, ohne dass die Kinder zunächst etwas davon merken. Der Hypothalamus, also das Zwischen hirn, wo die sogenannten vegetativen Funktionen wie Blut druck, Herzschlag, Atmung, Hunger, Schlaf oder Aktivität des Körpers gesteuert werden, schickt Signale an die Hirn anhangsdrüse. Die Hirnanhangsdrüse wiederum produziert dann das luteinisierende Hormon (LH) sowie das follikel stimulierende Hormon (FSH). Diese beiden Hormone gelan gen in den Blutkreislauf und wirken insbesondere auf die Keimdrüsen, also auf Eierstöcke und Hoden. Beim Mädchen setzt die Produktion des weiblichen Geschlechtshormons Östradiol ein, und die Eizellen beginnen zu reifen. Beim Knaben werden das männliche Geschlechtshormon Testos teron und Samenzellen produziert. Die Geschlechtshor mone wiederum lösen die unterschiedlichen körperlichen Veränderungen aus. * Professor Urs Eiholzer ist Gründer und zusammen mit Dr. Udo Meinhardt Leiter des PEZZ (Pädiatrisch-Endokrinologisches Zentrum Zürich, www.pezz.ch), des grössten Schweizer Instituts für Wachstums- und Hormonstörungen und Diabetes bei Kindern. Das PEZZ verfügt über die drei Standbeine Behandeln, Forschen und Bewegen. Forschungsprojekte sind Fragen zu Wachstums- und Pubertätsstörungen, Auffälligkeiten der Körperzusammensetzung sowie zur Effizienz von Sporttraining.

Entwicklung Die Entwicklung bei Mädchen Die Entwicklung bei Jungen Bei Mädchen beginnt die Pubertät im Durch schnitt mit 11 Jahren. Bei den Jungen beginnt die Pubertät im Durchschnitt zwei Jahre später als bei den Mädchen, im Alter von etwa 13 Jahren. Die Brust beginnt zu wachsen, und der Pu bertätswachstumsschub setzt ein, das Be cken wird breiter, Scham- und später Achsel haare beginnen sich zu zeigen. Es ist durch aus möglich, dass die Brüste unterschiedlich schnell grösser werden und eine Brust vor übergehend grösser ist als die andere. Diese Unterschiede wachsen sich allerdings in den meisten Fällen wieder aus. Mit dem ersten Eisprung, der unter Umstän den erst nach einigen unauffälligen Monats blutungen einsetzen kann, wird das Mäd chen geschlechtsreif und empfängnisbereit. Mit durchschnittlich 15 Jahren ist das Wachstum abgeschlossen, und die fruchtba ren Zyklen werden häufiger. Wenn bei einem Mädchen die Brustentwicklung früh, zum Beispiel im Alter von 9 Jahren einsetzt, dann wird es auch die erste Periode zwei Jahre frü her als die gleichaltrigen Kolleginnen be kommen und zwei Jahre früher ausgewach sen sein. Bei den Mädchen, die sich spät entwickeln, verläuft dann die ganze Entwick lung entsprechend um ein bis zwei Jahre verzögert. Etwa zwei Jahre nach Beginn des Hoden wachstums tritt der erste Samenerguss auf. Mit ihm werden männliche Jugendliche fort pflanzungsfähig. Dem ersten Samenerguss können allerdings Ejakulationen ohne Samen vorausgehen. Wie die Menarche bei den Mädchen ist der erste Samenergruss bei den Jungen der Beginn der sexuellen Fruchtbarkeit. Auch beim Jungen kann es unter dem Einfluss der Geschlechtshor mone zu einer kurzzeitigen Entwicklung der Brustdrüse kommen. Diese kann ein- oder beidseitig auftreten und ist praktisch immer, was die körperliche Seite betrifft, völlig harmlos und verschwindet auch meist nach ein bis zwei Jahren wieder vollständig. Aber die meisten betroffenen Knaben leiden dar unter und tragen in dieser Zeit nur noch weite Pullis und T-Shirts und gehen nicht mehr ins Schwimmbad. Im Durchschnitt sind das Wachstum und die Pubertätsentwicklung beim jungen Mann mit 17 Jahren abgeschlossen. 17 Die erste Regelblutung, die sogenannte Men arche, setzt meist erst ein, wenn die Brüste schon ziemlich weit entwickelt sind, im Mit tel etwa zwei Jahre nach Beginn des Brust wachstums. Begann die Menstruation der Mädchen vor einigen Generationen noch mit etwa 15 Jahren, erleben sie heute ihre erste Regelblutung im Durchschnitt mit 13 Jahren. Allerdings gibt es für die Regel keine Regel. Sie kann sowohl erstmals mit 11 oder auch mit 15 Jahren einsetzen. Auch sind Dauer und Stärke der Periode unterschiedlich. Im Durchschnitt wächst ein Mädchen nach der ersten Periode noch etwa acht Zentimeter. Als erstes äusseres Anzeichen für den Be ginn der Pubertät wachsen bei ihnen die Hoden. Dann setzt auch bei den Jungen ein kräftiger Wachstumsschub ein und erreicht mit 14 bis 15 Jahren den Höhepunkt. Puber tätswachstumsspurt bedeutet, dass die Wachstumsgeschwindigkeit von zuvor etwa vier bis fünf Zentimeter pro Jahr auf bis zu zehn Zentimeter pro Jahr ansteigt. Gleich zeitig nimmt bei Jungen die Muskelmasse stark zu. Der Penis wird grösser, die ersten Schamhaare werden sichtbar, Körperbehaa rung und Oberlippenflaum beginnen all mählich zu spriessen, der Kehlkopf und die Stimmbänder wachsen, und auch der Stimm bruch setzt ein.

18 Entwicklung Weitere körperliche Veränderungen Die Ausschüttung von Sexualhormonen bewirkt bei Jungen eine Veränderung der Körperzusammensetzung zugunsten von Muskelmasse, bei Mädchen zugunsten von Fettgewebe. Die weibliche Figur wird vor allem durch das Fettgewebe modelliert. Die männliche Figur wird im Idealfall haupt sächlich durch die Muskeln geformt. Vor der Pubertät be trägt die Zunahme der Muskelmasse pro Jahr etwa 5 Pro zent, während des Pubertätswachstumsspurtes bis zu 25 Prozent. Im Alter von 20 Jahren haben Männer im Durch schnitt einen Fettanteil von 13 bis 20 Prozent, Frauen da gegen einen von 26 bis 35 Prozent. Durch den verstärkten Einfluss männlicher Geschlechtshormone verändert sich auch die Haut. Pickel und Mitesser entstehen häufig wäh rend der Pubertät. Betroffen sind die Talgdrüsen, die durch die vermehrte Talgproduktion und eine übermässige Ver hornung verstopft werden. Das Wachstum findet nicht synchron statt. Es kommt zu vor übergehenden Verschiebungen in den Körperproportionen. Zuerst wachsen Kopf, Hände und Füsse. Der Oberkörper wächst hingegen erst gegen Ende der Pubertät völlig aus. Darum ist es typisch, dass Jugendliche ungelenk wirken. Das biologische und das tatsächliche Alter Bei einigen Kindern hält sich der Körper nicht so genau an die Zeit, die durch Geburtstage und Kalender vorgegeben wird. Wenn es der Körper eilig hat, lässt er die Entwicklung beschleunigt ablaufen, das biologische Alter ist dem tatsäch lichen Alter voraus, und die Pubertät beginnt früher. Als Kind bei den Kleinsten als Erwachsener durchschnittlich gross. Als Kind bei den Grössten als Erwachsener keines wegs grossgewachsen. Aber wie kommt es dazu? Wie lässt sich dieses Paradox erklären? Der springende Punkt ist die Pubertätsentwicklung, genau genommen der Zeitpunkt, zu dem die Pubertät beginnt. Wenn die Pubertät früh beginnt, ist das Wachstum früh zu Ende. Beginnt dagegen die Puber tät erst spät, dann endet das Wachstum ebenfalls erst spät. Es gibt also «Frühentwickler» und «Spätentwickler». Im medizinischen Jargon heisst das «konstitutionelle Verzöge rung» oder «konstitutionelle Beschleunigung von Wachstum und Pubertätsentwicklung». Hier ist die Vererbung am Werk, denn der Fahrplan, also die Tendenz, sich früh oder spät zu entwickeln, wird vererbt. Die Fahrplanmuster wie derholen sich in den gleichen Familien immer wieder. Eine durchschnittlich grosse Mutter berichtet: «Ich war in der Schule immer die Kleinste und bin sehr langsam gewach

Entwicklung sen. Meine erste Periode hatte ich erst mit 16 Jahren. Und jetzt gehört meine Tochter auch zu den Kleinen.» Wie es sich mit dem Wachstum verhält, kann man bereits ab dem Vorschulalter mehr oder weniger genau voraussagen. Schon ab dem zweiten Geburtstag kann man das biologische Alter mit Hilfe eines Handröntgenbildes bestimmen. An hand dessen können erfahrene Ärzte berechnen, wann un gefähr die Pubertätsentwicklung beginnen wird. Daraus lässt sich ableiten, wie gross ein Kind als Erwachsener wird. Wenn sich alles verzögert 20 Bei der Beratung von Jugendlichen, die sich Sorgen wegen ihrer verzögerten Reifung machen, helfen das Handröntgen bild und das daraus bestimmte Knochenalter sehr. Zum einen hilft es dem Jugendlichen, wenn man ihm voraus sagen kann, dass er normal gross und wann etwa die Puber tätsentwicklung sichtbar einsetzen wird. Zum anderen kann der Arzt so prüfen, ob eine Störung vorliegt. Vor allem ver zögerte Knaben leiden oft mit 14 bis 15 Jahren sehr. Die Mäd chen in diesem Alter sind bereits weitgehend erwachsene Knaben, die in ihrer körperlichen Entwicklung verzögert sind, schämen sich oft für ihr kindliches Aussehen. Frauen, und die gleichaltrigen Jungen sind meist auch schon deutlich entwickelt. Dies führt dazu, dass insbeson dere sportlich aktive Jugendliche noch mehr Probleme be kunden. Sie können wegen Körpergrösse und fehlender Muskelmasse leistungsmässig nicht mehr mithalten und meiden nicht selten das Duschen nach dem Training, weil sie sich wegen des kindlichen Körpers schämen. Sie werden oft nicht für voll genommen, weil ihre Kollegen meist hohe Geschlechtshormonspiegel haben und sie die Gefühlswelt der Weiterentwickelten nicht nachvollziehen können, denn dazu fehlt ihnen die hormonelle Grundlage. Dies kann auch zu einer schwierigeren Berufswahl führen, weil ein ange hender Lehrmeister Mühe hat, sich vorzustellen, dass aus so einem kleinen Jungen bald ein starker Mann wird. Bei verzögerten Jungen und Mädchen kann das Einsetzen der Pubertätsentwicklung und damit auch des Pubertäts

wachstumsspurtes mit sehr niedrigen Dosen des entspre chenden weiblichen oder männlichen Geschlechtshormons vorverlegt werden. Eine solche Behandlung ist in der Hand einer geübten Fachperson problemlos und einfach in der Durchführung. Sie dauert rund sechs Monate und kann die Lebensqualität erheblich verbessern, weil die Pubertätsent wicklung sofort einsetzt und der Fortschritt für den betroffe nen Jugendlichen kalkulierbar wird. Die verwendeten Hormondosen liegen weit unter denjenigen, welche die Gleichaltrigen bereits selbst bilden. Die seelische Ebene Die Einheit, welche über lange Jahre zwischen kindlichem Körper und kindlicher Seele bestand, muss auf einer er wachsenen Ebene neu geschaffen werden. Nicht nur im emotionalen, sondern auch im geistigen Bereich stellen sich in der Pubertät Veränderungen ein. Philosophische Fragen zum Sinn des Lebens, zu Werten, Gerechtigkeit und Politik, aber auch zur eigenen Identität beschäftigen den Jugendli chen. Normen und gesellschaftliche Strukturen werden hin terfragt und neue Identifikationsfiguren gesucht. Besonders beliebt werden Vorbilder aus dem Showbusiness. Stim mungsschwankungen sind häufig, es können eine Art Welt schmerz und das Gefühl von Einsamkeit entstehen. Weil sie 21 Neue, bisher unbekannte Gefühle entstehen. Diese haben ihren Ursprung im Anstieg der Sexualhormone und im veränderten Erscheinungsbild. Jugendliche erleben die körperlichen Veränderungen zuerst einmal als fremd, als etwas, das mit ihnen geschieht. Die Veränderungen müssen laufend in das innere Bild von sich selbst eingebaut werden. Jugendliche sind deswegen oft beunruhigt. Dies beein trächtigt ihr Wohlbefinden und ihre Leistungsfähigkeit. Es kann zu einer Diskrepanz zwischen der wachsenden Wahr nehmung der eigenen Unzulänglichkeit und Begrenztheit und phantasierten Idealbildern kommen: Das eigene Aus sehen, aber auch Ausbildungsmöglichkeiten, spätere soziale Stellung oder sportliche Fähigkeiten werden immer wieder mit Idolen verglichen. Je weiter die Entwicklung fortschrei tet, desto offensichtlicher wird die Unerreichbarkeit. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als von solchen Ideal bildern Abschied zu nehmen. Dies ist und macht traurig. Und nicht nur der Körper setzt Grenzen, auch in der Schule zeigen sich Grenzen. Grenzen der Leistungsfähigkeit oder des Fleisses. Es wird immer klarer, dass nicht jeder, der da von träumt, Astronaut oder auch «nur» Fotograf, Gold schmied oder Computerspezialist zu werden, es auch tat sächlich werden kann.

Entwicklung sich unverstanden fühlen, ziehen sich einige Jugendliche stärker zurück oder leben zeitweise sogar isoliert. Die soziale Ebene Die sozialen Regeln unter Gleichaltrigen in der Schul klasse oder in Jugendgruppen unterscheiden sich grund Konformität und Uniformität erlauben es, in die Peergruppe einzutauchen wie ehemals in die Familie. legend von denjenigen Erwachsener. In diesen Gruppen Jugendlicher ist Konformität mit den andern Mitgliedern eine zentrale Eigenschaft, von der auch die Aufnahme in die Gruppe abhängt. Die körperliche Reife ist von zentraler Wichtigkeit für die Hierarchiebildung. Rothaarige, Adipöse und Kleinwüchsige, um nur einige Beispiele zu nennen, beginnen in diesem Alter deshalb vermehrt unter ihrer «Unkonformität» zu leiden. Dasselbe gilt auch für exzessiv Grosse. Das Bedürfnis nach Konformität zeigt sich selbst verständlich auch in der Art, sich zu kleiden. Konformität und Uniformität erlauben es, in die Gruppe einzutauchen und darin zu verschwinden wie ehemals in der Familie. Das uniformierend wirkende identische Outfit bestimmter Jugendgruppen bekommt aber noch eine weitere Bedeu tung: In der Pubertät setzt die Uniformierung ein äusseres Gegenzeichen und signalisiert: Wir sind alle gleich, es gibt keine Unterschiede, nichts verändert sich. 23 Den Umwälzungen im körperlichen und seelischen Bereich entsprechen Veränderungen in der Beziehung zum sozialen Umfeld, in welchem eine neue Autonomie gefunden werden muss. Die Entwicklung dieser Autonomie bringt typischer weise und notwendigerweise eine Phase mit sich, in der die Autonomie von der Ursprungsfamilie durch eine neue Ab hängigkeit von den Gleichaltrigen abgelöst wird. Mit Beginn der körperlichen Pubertätsentwicklung kommt es zu einer Bewegung aus der Familie hinaus, hinein in die Gruppe Gleichaltriger und Gleichgesinnter. Die Integration in diese ist unumgänglich, wenn die Bewegung aus der Familie hin aus gelingen soll. Diese wiederum muss sein, wenn aus dem Kind später ein selbständig denkender und selbstverant wortlich handelnder Erwachsener werden soll.