Roland Schimmelpfennig An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Roman



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Unverkäufliche Leseprobe aus: Roland Schimmelpfennig An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Roman Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts überquerte ein einzelner Wolf kurz nach Sonnenaufgang den zugefrorenen Grenzfluss zwischen Deutschland und Polen. Der Wolf kam von Osten. Er lief über das Eis der zugefrorenen Oder, erreichte das andere Ufer des Flusses und bewegte sich dann weiter Richtung Westen. Hinter dem Fluss stand die Sonne noch tief über dem Horizont. Der Wolf lief im Morgenlicht unter dem wolkenlosen Himmel über weite, schneebedeckte Felder, bis er den Rand eines Waldes erreichte und darin verschwand. Einen Tag später fand ein Jäger dreißig Kilometer westlich des zugefrorenen Flusses in einem Wald die blutigen Überreste eines Rehs. Neben dem toten Reh im Schnee fand der Jäger die Spuren eines Wolfs. Das war in der Nähe von Vierlinden bei Seelow. Den letzten Wolf hatte man hier vor über hundertsechzig Jahren gesehen, im Jahr 1843. Der Wolf blieb bis Mitte Februar in dieser Gegend. Nie- 5

mand sah den Wolf selbst, man fand nur seine Spur und das blutige Wild im Schnee. Es war ein sehr kalter und langer Winter. Gegen Ende der zweiten Februarwoche begann es mehrere Tage lang ununterbrochen zu schneien. 6

Am Abend des 16. Februar geriet auf der völlig verschneiten Autobahn zwischen Polen und Berlin ein Tanklastwagen ins Schleudern. Der Tanklastwagen stellte sich quer und kippte auf die Seite. Zwei weitere Lastwagen fuhren in den Tanklastwagen hinein und fingen Feuer. Der Tanklastwagen explodierte. Keiner der Fahrer überlebte. Sechzig Fahrzeuge rutschten in der Folge dieses Unfalls auf der schneeglatten Fahrbahn ineinander und verkeilten sich. Die Menschen kamen nicht aus ihren zerquetschten Fahrzeugen, und das Feuer breitete sich weiter aus. Das war etwa auf der Höhe des Glieningmoors. Innerhalb kurzer Zeit baute sich ein über vierzig Kilometer langer Stau bis zur polnischen Grenze auf. Die Autobahn wurde in beiden Richtungen gesperrt. Es wurde Nacht. Die Fahrer der Wagen im Stau machten die Motoren und die Scheinwerfer aus. Der Schnee legte sich auf die Autobahn und auf die stehenden Fahrzeuge in der Dunkelheit. Auf dem Standstreifen zogen die Feuerwehrautos und 7

Rettungswagen an der nicht endenden Reihe der Fahrzeuge vorbei. Es schneite immer weiter. Alles stand still. Der junge Pole war auf dem Weg von einem Dorf in der Nähe von Warschau nach Berlin, und er war seit elf Stunden unterwegs. Seit drei Stunden stand er auf der Autobahn im Schnee. Er sah in der Entfernung den Feuerschein der immer noch brennenden Fahrzeuge. Der explodierte Tanklastwagen und das Feld der ineinander verkeilten Fahrzeuge lagen etwa drei Kilometer vor ihm. Der Motor des alten Toyota war aus. Der junge Mann fror. Er hatte nicht genug Benzin, um den Motor laufen zu lassen. Manchmal bewegte er den Zündschlüssel um eine halbe Drehung und ließ kurz die Scheibenwischer laufen. Er hatte Angst um die Batterie. Er ließ das Licht in dem Auto aus, er hörte kein Radio. Er saß in dem Toyota in der Dunkelheit. Das hier dauert noch zwanzig Stunden, hatte er vorhin einen polnischen Lastwagenfahrer auf der Fahrbahn rufen hören. Das hier dauert noch zwanzig Stunden, hatte der Mann immer wieder gerufen. Der junge Pole stieg aus dem Wagen und machte mit seinem Telefon Fotos von dem entfernten Feuerschein in der Nacht. Dann stieg er wieder in den Wagen. Auf den Bildern war nichts zu erkennen. Er rief seine Freundin an, Agnieszka, die in Berlin auf ihn wartete. 8

Nein, das dauert hier noch Stunden. Was machst du?, fragte sie. Hast du eine Decke? Ich habe den Schlafsack im Kofferraum. Lass den Wagen stehen und lauf zu dem nächsten Dorf. Hier ist kein Dorf. Da ist irgendwo ein Dorf. Da muss ein Dorf sein. Hier ist nichts, man sieht nichts. Da muss ein Dorf sein, Tomasz, lauf zu dem nächsten Dorf, du erfrierst da. Hier ist kein Dorf. Ich kann den Wagen hier nicht stehen lassen. Nachdem er eine weitere Stunde in dem Stau gestanden hatte, stieg Tomasz aus dem Wagen, um zu der Unfallstelle vorzulaufen. Bevor er losging, suchte er sich einen Orientierungspunkt, denn er wusste, dass er ohne Orientierungspunkt den eingeschneiten Toyota nicht wiederfinden würde. Am Straßenrand rechts vor ihm stand ein Schild mit Kilometerangaben, Berlin 80 km. Ich bin ein Pfadfinder, dachte er, ich bin ein Scheißpfadfinder. Tomasz lief vor zu der Unfallstelle. Es schneite immer weiter. Die Blaulichter der Rettungswagen drehten sich in der Dunkelheit. Als er näher kam, sah er die weißblauen Flammen der Schweißbrenner, mit denen die Feuerwehrmänner versuchten, die Menschen aus den 9

verkeilten Fahrzeugen zu befreien. Er hörte Rufe und Schreie. In dem dichten Schneetreiben stand ein etwa sechzigjähriger Mann am Rand der Fahrbahn, kräftig, im Unterhemd, blutig, vermutlich ein Fernfahrer. Kann ich dir helfen, rief Tomasz dem Mann auf Polnisch zu, er glaubte, ihn zu kennen, aus Warschau, aber der Mann schrie zurück: Kümmre dich um deinen eigenen Scheiß. Ein Hubschrauber landete auf der anderen Seite der Autobahn. Man hatte Scheinwerfer aufgebaut. Rettungssanitäter brachten jemanden auf einer Trage zu einem der Krankenwagen. Sie liefen, so schnell sie konnten. Eine Frau rannte neben der Trage her. Sie schrie immer wieder etwas, ein Wort, vielleicht einen Namen, und dann rutschte sie aus und fiel in den Schnee. Die Sanitäter rannten weiter. Tomasz drehte um. Er lief zwischen den stehenden Autos zurück in die Dunkelheit. Drei Rettungswagen mit Blaulicht kamen ihm auf dem Standstreifen entgegen. Er suchte in dem Schneetreiben nach seinem Orientierungspunkt, dem Straßenschild mit den Entfernungsangaben. Er fand den eingeschneiten Toyota und ging um den Wagen herum, um den Schlafsack aus dem Kofferraum zu holen. Tomasz lebte seit drei Jahren mit Agnieszka in Berlin. Meistens arbeitete er für einen Polen, für Marek. Marek 10

und seine Mannschaft entkernten Häuser, oder sie renovierten sie. Sie machten alles. In Polen hatte Tomasz immer allein gearbeitet. Er hatte, wenn er außerhalb von Warschau Arbeit bekam, manchmal nachts in dem Schlafsack auf den Baustellen oder im Auto geschlafen, allein aber in Deutschland ging das nicht mehr. Seitdem Tomasz in Deutschland lebte, hielt er es nicht mehr aus, allein zu arbeiten. Seitdem er in Deutschland war, hielt Tomasz es nicht mehr aus, allein zu sein. Das Kofferraumschloss des Toyota war eingefroren. Rechts vor ihm stand das Schild am Straßenrand, achtzig Kilometer bis Berlin. Dann sah er den Wolf. Der Wolf stand vor dem Schild am Rand der verschneiten Straße, sieben Meter vor ihm, nicht mehr. Ein Wolf, dachte Tomasz, das sieht aus wie ein Wolf, vermutlich ein großer Hund, wer lässt hier seinen Hund rumlaufen, oder ist das doch ein Wolf? Er machte ein Foto von dem Tier vor dem Schild im Schneetreiben. Der Blitz in der Dunkelheit. Einen Augenblick später war der Wolf verschwunden. 11