M.Faraday: Naturgeschichte einer Kerze (1861) und schwerlich möchte sich ein bequemeres Tor zum Eingang in das Studium der Natur finden lassen.



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Transkript:

1 Wagenscheins Anliegen, dargestellt am Beispiel Kerze Vortrag an der Ecole d Humanité, 29.11.2008; Ueli Aeschlimann, PHBern Peter Buck zum 70.Geburtstag gewidmet Liebe Anwesende, es ist für mich eine Ehre und eine grosse Freude, hier an der Ecole einen Wagenschein-Vortrag zu halten. 1990 durfte ich ein Trimester an der Ecole als Gastlehrer verbringen. Damals hat meine intensive Beschäftigung mit Martin Wagenschein begonnen. Ich erinnere mich, dass mich zuerst seine Beispiele angesprochen haben. Und deshalb möchte ich auch meinen Vortrag so aufbauen: Ich werde Ihnen anhand von Bildern den Unterricht zur Kerze vorstellen mit einigen von Ihnen habe ich die Experimente heute morgen durchgeführt und ich werde am Beispiel der Kerze die didaktischen Ideen von Wagenschein entfalten. Ich habe hier an der Ecole im Chemieunterricht bei Frau Waaser zum ersten Mal erlebt, wie man mit der Kerze einen nachhaltigen Unterricht gestalten kann. Später habe ich im Rahmen von Christoph Bergs Lehrkunst bei Eberhard Theophel aus Wetzlar das Lehrstück Faradays Kerze kennengelernt 1. Inzwischen habe ich die Kerze regelmässig im Unterricht durchgeführt, einmal in einer vierten Klasse 2, mehrmals im Lehrerseminar, im Gymnasium und jetzt im Rahmen der Physikdidaktik Sekundarstufe1 an der PH Bern. Dazu kommen viele Kurse in Liestal für Studierende und für Praxislehrkräfte. Sehr viel gelernt habe ich in dieser Zeit von Peter Buck 3, Chemiedidaktiker aus Heidelberg, hier an der Ecole ein guter Bekannter. Mit Peter Bucks Hilfe habe ich Faradays berühmte Vorlesung über die Kerze 4 studiert und viele intensive Diskussionen zu fachlichen und fachdidaktischen Fragen geführt. Weil Wagenschein und die Kerze Peter Buck und mich verbinden möchte ich ihm diesen Vortrag zu seinem am 20. Januar 2008 bevorstehenden 70.Geburtstag widmen, als Dank für viele wichtige Gespräche und für die wertvolle Freundschaft. M.Faraday: Naturgeschichte einer Kerze (1861) und schwerlich möchte sich ein bequemeres Tor zum Eingang in das Studium der Natur finden lassen. 1 E.Theophel: Alle im Weltall wirkenden Gesetze in Berg / Schulze: Lehrkunst, S. 288 ff 2 U.Aeschlimann, Warum leuchtet die Kerzenflamme?, auch in der Marburger Dissertation: Mit Wagenschein zur Lehrkunst aufgenommen (Seite 69 ff) 3 Das Bild zeigt Peter Buck 1996 in Bern, mit seinem Objekt: Viermal Die beiden Monde, ein Geschenk, das mir sehr wertvoll ist. 4 erhältlich als reprint bei Franzbecker, herausgegeben von Peter Buck.

2 Ich habe meinen Unterricht immer so begonnen, dass die Schüler und Schülerinnen die Flamme einer Kerze aus der Erinnerung zeichnen sollten. Das ist gar nicht so einfach. Zwar haben wir alle schon oft Kerzen gesehen und die besinnliche Stimmung ihres warmen Lichtes genossen. Wir erinnern uns an Gelb, denken im Zusammenhang mit Feuer an Rot, und war da nicht auch Blau? Aber wo soll welche Farbe gezeichnet werden? Wir sammeln uns dann im Kreis, sprechen über die Zeichnungen und dabei tauchen auch Fragen auf. Zum Beispiel: Was brennt denn eigentlich? Ich zitiere aus dem Unterricht mit den Viertklässlern: André: Der Docht Lehrer (zögernd): Seid ihr alle einverstanden? Michel: Das Gas vom Feuerzeug [mit dem ich die Flamme angezündet habe]. Lehrer: Ja, bei Feuerzeug brennt das Gas. Aber bei der Kerze? Einige Schüler miteinander: Der Docht. Lehrer (fragend): Ist es wirklich der Docht? Einige Schüler (überzeugt): Ja, ja der Docht. André: Der Docht ist aus Schnur und Schnur brennt auch. Michel: Das Wachs verbrennt. André: Wachs verbrennt nicht, es wird nur flüssig. Michel: Aber wenn die Kerze brennt, hat es ja immer weniger Wachs. André: Weil es schmilzt und wegläuft. Wenn Wachs brennen würde, stünde ja die ganze Kerze in Flammen. Michel (überrascht): Ah, ja! 5 Martin Wagenschein hat gesagt: Am Anfang muss ein Phänomen da sein, das die Eigenschaft hat, dass man darüber stolpert. Man wundert sich, es ist rätselhaft, eine Sache, die in höchstem Masse erstaunlich ist. Ich habe nur die Aufgabe, das Rätsel zu stellen und es sogar noch zu verstärken. Kann man das verstehen? Seht Euch das an, und dann sagt, was ihr meint, und dann geht es los. 6 Wir haben alle schon oft Kerzen angeschaut. Warum können wir nicht so leicht sagen, was brennt und wozu die Kerze einen Docht braucht? Diese Verunsicherung ist es hier, die die Kinder, aber auch Studierende in die Sache hineinzieht. Eine wichtige Aufgabe des Lehrers, der Lehrerin liegt darin, in allem Wissen die Keime des Staunens, des Zweifels, der faszinierenden Beunruhigung aufzuspüren und für andere spürbar zu machen. 7 In der Naturwissenschaft sind Experimente ganz entscheidend. Wir müssen nun also ausprobieren. Ich zünde ein Stück Docht an, es verglimmt, ohne richtig zu brennen. Ich halte mit einer Pinzette ein Stück Wachs in die Flamme, es schmilzt, brennt nicht. Ratlosigkeit. Es ist ganz wichtig, hier Geduld zu haben, den leeren Kopf auszuhalten, wie Horst Rumpf sagt. Eine schnelle Erklärung verdirbt alles. Der polnische Satyriker Lec hat provokativ formuliert: Ich hätte vieles verstanden, hätte man es mir nicht erklärt. 5 U.Aeschlimann: Warum leuchtet die Kerzenflamme?, S.2 6 M.Wagenschein: Über das exemplarisch-genetische Lehren. Video-Interview, 1988 7 H.Rumpf/E.M.Kranicgh: Welche Art von Wissen braucht der Lehrer, S.94

3 Vielleicht könnte man Wachs anzünden, wenn es flüssig ist? Wir schmelzen Wachs in einer Porzellanschale und versuchen, das flüssige Wachs anzuzünden, es geht nicht. Wenn wir noch mehr erhitzen, beginnt ein weisser Rauch aufzusteigen, und den kann man anzünden. Damit haben wir einen ersten Erfolg erzielt: Es ist der Wachsdampf, der brennt. Nur: Wo ist dieser Wachsdampf bei der Kerze? Erinnerungen tauchen auf: beim Ausblasen gibt es doch auch einen solchen weissen Rauch. Dann müsste man den anzünden können? Wir versuchen es. Und tatsächlich kann man beobachten wie die Flamme auf den Docht zurückspringt. Leuchtende Augen, das will jeder selber ausprobieren. Zeichnung von André, 4.Klasse Hefteintrag von Sabine, 4.Klasse

4 Wenn wir genau hinschauen, sehen wir auch, wo der weisse Rauch 8 herkommt: aus dem Docht. Und so kommen wir zur Idee: in der Mitte der Flamme, dort wo sie etwas dunkler ist, dort könnte aus dem Docht der Wachsdampf herauskommen und in der gelb leuchtenden Zone verbrennen. Kann das stimmen? Kann man das überprüfen? Wieder sind wir an einer schwierigen Stelle. Wer hat eine Idee? Der entscheidende Gedanke und es braucht oft eine intensive Suche, bis wir soweit sind ist der folgende: ein Glasrohr mitten in die Flamme halten und versuchen, den Wachsdampf aus der Flamme herauszuholen. Zeichnung von Mariano, 8.Klasse Wir können den Wachsdampf auch in einem Glas sammeln: 4.Klasse Lehrerseminar Die Bilder zeigen, wie fasziniert die Lernenden jeder Altersstufe dieses Experiment beobachten. Es ist bekannt, dass Emotionen für das Lernen eine grosse Bedeutung haben. Deshalb sind solche Experimente, die sich im Gedächtnis einprägen, ganz wichtig! 8 die richtige Bezeichnung ist Nebel, denn es handelt sich um ganz feine Wachströpfchen in der Luft. Das Bild zeigt, dass der Nebel erst einige Millimeter ausserhalb des Dochts entsteht; aus dem Docht kommt der unsichtbare Wachsdampf. Wagenschein weist aber nachdrücklich darauf hin, dass es in dieser Phase des Suchens nicht um die genaue Fachsprache geht. (M.Wagenschein: Die Pädagogische Dimension der Physik, Seiten 132/133)

5 Natürlich müssen diese Versuche in den Heften der Schüler und Schülerinnen festgehalten werden. Die persönlichen Hefteinträge, in selber formulierter Sprache, mit Zeichnungen, sind mir ganz wichtig. Hier wird das im Gespräch Erarbeitete gesichert, Unklarheiten werden deutlich und müssen geklärt werden. Theodor Schulze schreibt: In der Erinnerung gehen wir den gegangenen Weg noch einmal zurück und überdenken ihn, wo er schwierig wurde, und wie man zum Ziel fand. 9 Peter Buck weist darauf hin, dass zum Lernen nicht nur das Einatmen, sondern auch das Ausatmen gehört, dass die Aufnahme der Weltzusammenhänge einen schöpferischen, künstlerischen Ausdruck der Wiedergabe unabdingbar braucht. 10 Schöpferisch, künstlerisch : ich bin nicht sicher, ob die Hefteinträge, die ich Ihnen hier zeige, diese Ansprüche erfüllen. Ich will einfach den Unterschied deutlich machen zwischen selbst verfassten Texten und originalen Zeichnung und den vom Lehrer, von der Lehrerin verteilten Kopien, die ins Heft geklebt und angefärbt werden 11. Hefteintrag von Andrea, 4.Klasse Hefteintrag Annie, Lehrerseminar 9 T.Schulze: Lehrstück-Dramaturgie, in Berg/Schulze: Lehrkunst, S.409 10 P.Buck: Einwurzelung und Verdichtung, S.55 11 vgl. dazu: U.Aeschlimann / W.Stadelmann: Lernen mit Wagenschein, S.15

6 Damit haben wir nun schon viel gelernt über die Kerze. Mirjam aus der vierten Klasse hat es in einem Satz beschrieben, Simone aus dem Lehrerseminar hat die wichtigsten Experimente gezeichnet: Die Verbrennung findet also nicht in der Mitte der Flamme statt, dort müsste es demnach auch kühler sein. Mit einem einfachen Versuch kann das bestätigt werden: wir halten ein Holzstäbchen mitten durch die Flamme: zwei schwarze Stellen zeigen, dass es dort heiss ist und das Holz anbrennt, während dazwischen in der Tat eine kühlere Stelle ist. Mit etwas Vorsicht kann man diesen Versuch auch mit einem Papier durchführen: ein dunkler Ring zeigt, wo das Blatt zuerst angesengt wird 12. Was ich hier in knappen Worten, mir einigen Bildern dokumentiert habe, braucht im Unterricht viel Zeit: Mit den Viertklässlern drei Nachmittage, mit Studierenden zwei Stunden. Wagenschein: Genetisch-sokratische Entdeckungszüge sind nicht umsonst. Sie fordern Zeit. Aber sie sind nicht zeit- raubend, sondern zeit- lohnend 13 Was haben wir nicht alles erreicht: Wir haben viel über die Kerzenflamme gelernt, aber wir haben auch gelernt, wie wichtig das genaue Beobachten ist, wir haben erkannt, welche Bedeutung das Experiment in den Naturwissenschaften hat, und wir haben das gemeinsame Gespräch geübt, das für das Verstehen so wichtig ist. Hentig hat geschrieben: Verstehen ist eine wichtige Fähigkeit. Man kann sich in ihr üben, und manches versteht man am Ende des Lernvorgangs auch. Noch wichtiger aber will mir scheinen, dass man erfahren hat, was Verstehen ist: wie schwierig und doch möglich, wie notwendig und immer neu. 14 12 Wenn man ein Drahtgitter in die Flamme hält, brennt die Flamme nur unterhalb des Gitters. Von oben kann man den Ring der leuchtenden Zone gut sehen, und aus der Mitte strömt der weisse Wachsdampf. Man kann ihn anzünden und mit einigem Geschick gelingt es, eine kleine Flamme einige cm über dem Netz schweben zu lassen. 13 M.Wagenschein Verstehen lehren S. 148 14 H.v.Hentig, Bildung, S.198

7 Das wirkliche Verstehen bringt uns das Gespräch. Ausgehend und angeregt von etwas Rätselhaftem, auf der Suche nach dem Grund. 15 Man führe das Gespräch möglichst schweigend und zuhörend, geduldig wartend. Zuerst muss man ja erreichen, dass die Schüler miteinander reden und nicht immer auf den Lehrer schielen, wenn sie etwas gesagt haben. 16 Martin Wagenschein (1896-1988) Ganz wichtig: Die Phase der Erarbeitung braucht Ruhe und Geduld. Jeder muss den schwierigen Weg von der Frage bis zur Erkenntnis selber zurücklegen Verstehen heisst: selber einsehen, wie es kommt 17 hat Wagenschein formuliert. Theodor Schulze schreibt: Zwischen Lehren und Lernen liegt ein tiefer Abgrund 18. Wenn wir als Lehrende diesen Sätze ernst nehmen, dann muss das Konsequenzen für die Gestaltung des Unterrichts haben! Ich zitiere nochmals Wagenschein: Ein naturwissenschaftliches Ergebnis kann gar nicht verstanden werden ohne Kenntnis des Weges, der zu ihm führte. 19 Abkürzungen sind fatal, denn in Rumpfs Worten - : Die umstandslose Mitteilung einer Formel, einer Erkenntnis, einer Information kann bewirken, dass die mitgeteilte Sache ein Fremdkörper bleibt. Man hat sich ihr nicht nähern können, man musste gleich dort sein. 20 Und noch etwas ist wichtig: Der Lehrende muss Vertrauen ausstrahlen. Das habe ich 1990 an der Ecole bei Armin Lüthi besonders intensiv erlebt. Mit seiner Ausstrahlung hat er eine Atmosphäre geschaffen, die die Schüler und Schülerinnen zum Lernen von Mathematik ermutigte. Mir ist dabei klar geworden, wie wichtig die Persönlichkeit der Lehrperson ist. Schüler und Schülerinnen müssen spüren, dass sie ernst genommen werden und dass der Lehrer oder die Lehrerin ihnen etwas zutraut, und dass die Sache für die Lehrperson wichtig und interessant ist. Wagenschein: Es gibt keine echte Motivation ohne Emotion 21. Horst Rumpf warnt zu Recht: Unsere Universitäten und Schulen sind zutiefst bedroht von der Gleichgültigkeit gegenüber den dort behandelten Inhalten. Man lernt, studiert, eingeschüchtert von einem Expertentum, ohne sich verantwortlich für Bedeutsamkeit und Wahrheit der verhandelten Sache zu spüren. 22 Das bedingt natürlich, dass man sich auf eine Sache ernsthaft und gründlich einlässt. Der bekannte Physiker Max Planck hat es so formuliert: Es kommt weniger darauf an, was in der Schule gelernt wird, als darauf, wie gelernt wird. Ein einziger mathematischer Satz, der von einem Schüler wirklich verstanden wird, besitzt für ihn 15 M.Wagenschein: Die Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft, S.74 16 M.Wagenschein: Verstehen lehren, S.118 17 M.Wagenschein: Verstehen lehren, S.120 18 H.Chr.Berg / T.Schulze: Lehrkunst Ein Plädoyer für eine konkrete Inhaltsdidaktik 19 M.Wagenschein: Die Pädagogische Dimension der Physik, S.99 20 H.Rumpf: Diesseits der Belehrungswut, S.33 21 M.Wagenschein: Verstehen lehren, S.87 22 H.Rumpf / E.M.Kranich: Welche Art von Wissen braucht der Lehrer?, S.7

8 mehr Wert als zehn Formeln, die er auswendig gelernt hat, und die er auch vorschriftsmässig anzuwenden weiss, ohne aber ihren eigentlichen Sinn zu verstehen 23 Das exemplarische Prinzip ist für Wagenschein ganz zentral. Gemeint ist nicht: irgend ein Beispiel, sondern eines das wichtig ist, an dem wesentliche Erkenntnisse - inhaltliche und kategoriale - gemacht werden können. Christoph Berg verwendet in der Lehrkunstdidaktik den Begriff Menschheitsthema, und er mein damit ein Thema, das die Menschen immer wieder neu beschäftigt hat, das einen grösseren thematischen Bereich erschliesst. 24 Die Kerze ist ein solches exemplarisches Thema, bei dem zentrale Erkenntnisse der Chemie und der Physik deutlich werden. Wagenschein schreibt: Die Kerze zieht die Blicke an, sie macht die Augen rund und sammelt die Köpfe um sich, sie erregt das Nachdenken in ihnen. Faradays Kerze sollte jeder Lehrer kennen. 25 Ich habe in meinem Vortrag nur den Anfang des Kerzen-Unterrichts vorgestellt (und habe damit das Exemplarische auch für diesen Vortrag ernst genommen). Wir wissen jetzt, dass der Wachsdampf brennt und wozu es einen Docht braucht. Warum leuchtet die Flamme? Brennsprit zum Beispiel verbrennt mit einer blauen Flamme. Und: Was passiert mit dem Wachs bei der Verbrennung? Am Schluss ist ja die Kerze weg. Was ist da passiert? Wer diese Fragen so gründlich erarbeitet wie ich das mit dem im Vortrag vorgestellten Anfang beschrieben habe, der hat sehr viel von Chemie begriffen. Ich möchte schliessen mit einem Satz von Horst Rumpf, der das zentrale Anliegen von Martin Wagenschein treffend zusammenfasst und der das Leitmotiv für jeden Unterricht sein sollte; der Satz ist so wichtig, dass ich ihn bei jeder Gelegenheit zitiere: Im Unterricht muss man eine Sache vor sich bringen, nicht hinter sich. Vielleicht denken sie: Das machen wir doch an der Ecole. Ja, das glaube ich ihnen. Aus eigener Erfahrung weiss ich aber, wie gross die Versuchung ist, weiterzugehen, statt stehen zu bleiben, um genau hinschauen zu können. Konsumieren ist einfacher als sich mit der Sache auseinanderzusetzen. Gerade in unserer vielfältigen und schnelllebigen Zeit ist die Beschränkung auf ausgewählte Themen und die intensive Auseinandersetzung mit ihnen, das Staunen, Fragen, das Suchen eine zentrale Aufgabe des Unterrichts. 23 zitiert aus: P.Buck / H.C.Berg: Kristallisationskeime. Weltbund für die Erneuerung der Erziehung, S.80 24 T.Schulze: Lehrstück-Dramaturgie, in Berg/Schulze: Lehrkunst, S.386 25 M.Wagenschein: Naturphänomene sehen und verstehen, S.116/117