Architektur von Silke Steets



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Transkript:

Architektur von Silke Steets Beobachtet man, mit welcher Leidenschaft und mit welch großer medialer Aufmerksamkeit in manchen Städten die Auseinandersetzung um den Neubau, die Umgestaltung oder die Rekonstruktion innerstädtischer Bauensembles geführt wird, dann drängt sich die Vermutung auf, dass dabei weit mehr auf dem Spiel steht als die Platzierung von Gebäuden an bestimmten, wenn auch prominenten Stellen der Stadt. Auch mehr als die oft in den Vordergrund gerückten Fragen der Ästhetik oder Vorzüge und Schwächen eines bestimmten Baustils. Wenn man in Frankfurt am Main das Technische Rathaus, einen Bau aus den siebziger Jahren, gegen das neue alte Bild des kaiserlichen Krönungsweges ausspielt, wenn man in Köln oder München die Notwendigkeit beziehungsweise Überflüssigkeit von Hochhäusern erörtert, in Stuttgart für den Erhalt des Hauptbahnhofes kämpft oder sich in Braunschweig und Berlin mit dem Wiederaufbau von Schlössern beschäftigt, dann werden zwei zentrale Aspekte urbanen Zusammenlebens verhandelt: erstens die Frage nach dem richtigen oder guten Leben und zweitens die Debatte um das je Eigene, das Einzigartige einer Stadt. Letztere kulminiert in der Frage: Passt diese Brücke, dieses Schloss, dieses Hochhaus tatsächlich in diese Stadt? Gebäude reden, so schreibt der in London lebende Philosoph Alain de Botton (2008) in seinem Buch Glück und Architektur, sie reden von Demokratie und Aristokratie, von Offenheit und Arroganz, von Bedrohung und freundlichem Willkommen, von Sympathie für die Zukunft oder Sehnsucht nach dem Vergangenen (ebd.: 71f.). Botton schließt daraus, dass wir in unseren ästhetischen Vorlieben, für die ein Bauwerk mit Dach, Türgriffen, Fensterrahmen, Treppenformen und Möbeln wirbt (ebd.: 72f.), auf einen materiellen Ausdruck unserer Vorstellung vom guten Leben stoßen. Im Gegensatz dazu, so führt er weiter aus, finden wir ein Gebäude nicht deshalb hässlich, weil es unsere ureigene, unerklärliche visuelle Vorliebe verletzt, sondern weil es unserem Verständnis von der richtigen Art zu leben widerspricht (ebd.: 73). Nicht zuletzt darin sieht er einen wichtigen Grund, warum Debatten über Architektur mit solcher Intensität und Bösartigkeit geführt werden (ebd.). Architektur, sozialer Sinn und die Eigenlogik der Städte Aus soziologischer Perspektive lässt sich die gebaute Umwelt als Ausdruck und Verkörperung sozialen Sinns begreifen (vgl. ausführlich Steets 2010). Ihre gesellschaftliche Bedeutung ergibt sich durch das Zusammenspiel von drei miteinander verbundenen Aspekten: 1. Gebäude sind stets symbolisch, das heißt, sie sind Sinnbilder für Lebensweisen, Machtansprüche, Geschlechterverhältnisse oder für ein nach außen kommuniziertes Selbstverständnis. 2. Gebäude sind zugleich physisch-materiell, das heißt sie werden stets körperlich erfahren. 3. Gebäude sind immer an Orte und damit an lokale Kontexte gebunden.

Was Symbolhaftigkeit und Materialität von Architektur für das soziale Zusammenleben bedeuten, lässt sich am besten im Vergleich beziehungsweise im Kontrast zur Sprache verdeutlichen: Die Sprache gilt als wichtigstes Zeichensystem der menschlichen Gesellschaft (vgl. Berger/Luckmann 2004: 39). In und über Sprache ordnen wir unsere Erfahrungen mit der Welt und machen sie anderen Menschen zugänglich. Sprache ist in der Lage, die Wirklichkeit einer Welt zu konservieren, denn Sprache ist der Speicher angehäufter Erfahrungen und Bedeutungen, die sie zur rechten Zeit aufbewahrt, um sie kommenden Generationen zu übermitteln (ebd.). Letzteres kann Architektur auch. Das Speichern von Erfahrungen und Bedeutungen und ihre Fähigkeit, diese zwischen verschiedenen Zeiten und Generationen zu vermitteln, ist eine ihrer wichtigsten Funktionen (vgl. Halbwachs 1967; Fischer 2009: 402ff.). Gebäude führen uns vor Augen, wie Menschen in anderen Zeiten und sobald wir reisen in anderen Ländern gelebt und gewohnt, gefeiert und repräsentiert oder regiert und bestraft haben. In diesem Sinne sind Gebäude also Zeichen, die wir im Rahmen des architektonischen Zeichensystems deuten können. Anders als Sprache aber ist Architektur in der Regel weniger festgelegt in der Vermittlung von Bedeutung und lässt deshalb mehr Spielraum für Interpretationen. Die zweite, physisch-materielle Eigenschaft von Architektur impliziert, dass Gebäude stets mit allen Sinnen des Körpers erfahren werden. Das ist der wichtigste Unterschied zwischen dem Zeichensystem der Sprache und dem der Architektur. Gebäude lenken unsere Blicke und Bewegungsweisen, sie lösen Wohlbehagen oder Fluchtimpulse aus, auch wenn wir die Gründe dafür in vielen Fällen gar nicht in Worte fassen können oder die Versprachlichung in der Alltagspraxis der Bewegung in der Stadt überflüssig scheint. Das heißt, die Erfahrung von Architektur ist zu einem wesentlichen Teil an unser praktisches Bewusstsein (Giddens 1988: 91ff.), an unser unreflektiertes Bewegungs- und Körperwissen im Alltag geknüpft. Mit anderen Worten: Im Alltag wird Architektur meist beiläufig und implizit bedeutsam über die Art und Weise, wie wir Gebäude, Straßen und Plätze gebrauchen. Die Eigenlogik der Städte kommt beim dritten Punkt der Ortsgebundenheit von Architektur ins Spiel, denn die Bedeutung architektonischer Artefakte lässt sich letztlich nur vor dem Hintergrund des lokalen Kontextes (in dem sie zwangsläufig und unverrückbar stehen) entschlüsseln. Das ist der relevante Aspekt bei der Frage, ob dieses Gebäude tatsächlich in diese Stadt passt. Ein einfaches Beispiel möge dies verdeutlichen: der Eiffel-Turm, dessen Original in Paris steht und von dem es mehr als ein Dutzend Kopien rund um den Globus gibt. Eine davon befindet sich in Las Vegas. Doch Turm ist nicht gleich Turm, selbst wenn die Simulation in Las Vegas identische Materialien, identische Größe und identische freiräumliche Nahbezüge aufwiese (was sie nicht tut) wie in Paris. Und zwar deshalb nicht, weil Las Vegas Las Vegas ist und Paris Paris. In Paris steht der Turm für die Verbindung von Technik und Eleganz und den Stolz einer ganzen Nation, in Las Vegas ist er Teil einer Themenlandschaft, die ikonische Gebäude aus aller Welt verdichtet. Städte sind Sinnkontexte, die Gebäuden eine lokal gerahmte Bedeutung verpassen. Bezogen auf unser Beispiel, heißt dies nichts anderes, als dass man in Las Vegas mit selbstverständlicher Gewissheit anders lebt, fühlt, denkt, geht, schaut und baut als in Paris.

Raumsoziologische Architekturforschung Die britische Humangeografin Doreen Massey hat vorgeschlagen, Städte sowohl einzeln als auch in den Relationen zwischen ihnen als räumliche Phänomene zu begreifen (Massey 1999: 159), also darüber zu definieren, dass sie spezifische Räume hervorbringen. Städte, so Massey, seien Orte gesteigerter Intensitäten, deren ursächliche Faktoren in der Größe einer Ansiedlung, der Heterogenität der dort aufeinander treffenden Menschen und Lebensweisen, der Dichte der gebauten Umwelt und Infrastruktur und in einer Beschleunigung der Zeit zu finden seien (ebd.). Diese stadtspezifische Räumlichkeit produziere ihrerseits Effekte wie soziale Distanzierung aufgrund physischer Nähe oder das Entstehen von Neuem als Folge des Zusammentreffens heterogener Strömungen. Ähnlich argumentiert der Soziologe Gerd Held (2005) in seiner Untersuchung zur räumlichen Differenzierung der Moderne. Held unterscheidet das räumliche Anordnungsprinzip der Großstadt von dem des Nationalstaates, indem er beide Prinzipien auf spezifische Modi der Vergesellschaftung zurückführt. Während der Nationalstaat als Territorialform auf dem Prinzip des Ausschlusses basiert er braucht die Grenze als konstituierendes Element und produziert Homogenität im Inneren, funktioniert die räumliche Form der Stadt nach dem Prinzip des Einschlusses im Sinne einer Intensitätssteigerung. Die Stadt, so Held, verneint die Eindeutigkeit der Grenze und erhöht auf diese Weise Dichte und Heterogenität. Ihre Raumstruktur wird sozusagen als Häufung von Kontaktflächen gebildet (ebd.: 230). An diesen Gedanken knüpft der Soziologe Helmuth Berking (2008) an. Seine These lautet, dass als Folge spezifischer Verdichtungsprozesse in jeder Stadt unterschiedliche Konstellationen zusammenhängender Wissensbestände und Ausdrucksformen entstehen. Jede Stadt, so Berking, verdichtet sich auf diese Weise zu einem spezifischen Sinnzusammenhang, der durch eine Wahlverwandschaft zwischen räumlicher Organisation, materieller Umwelt und kulturellen Dispositionen (ebd.: 23) geprägt ist. Architektur verstanden als ortsgebundenes, zugleich kognitiv wie körperlich erfahrbares Sinnsystem hat an diesen urbanen Verdichtungsprozessen einen kaum zu überschätzenden Anteil, was man sich ganz einfach vor Augen führen kann: Jede Bevölkerungsgeneration oder zugewanderte Gruppe fügt der Stadt neue Symbole, gebaute Strukturen und Umgangsweisen mit diesen hinzu. So kommt es, dass sich eine Stadt aus Straßen, Plätzen und Gebäuden verschiedener Epochen und Kulturen zusammensetzt. Mittelalterliche und barocke Ensembles stehen neben rational organisierten Blockrandbebauungen des Industriezeitalters, postmodernen Bauwerken, Kirchen, Synagogen und Moscheen. In diesem kumulativen Prozess lagern sich Bedeutungsschichten übereinander, oder wie es Rolf Lindner formuliert hat es häufen sich Texte an, die mit der Zeit eine Textur, ein Gewebe bilden, in dem die Stadt im wahrsten Sinne des Wortes verstrickt ist (Lindner 2008: 84). Diese gebaute und verdichtete Textur hat in ihrer Eigenschaft als materiale Grundlage einer Stadt die Funktion einer Selbstvergewisserung im doppelten Sinne: In ihrer Architektur gibt sich jede Stadt eine Gestalt, die umgekehrt Sinn stiftet und Halt verleiht. Denn die Orte, Gebäude, Plätze, Häuser und Straßen, die im kollektiven Leben einer sozialen Gruppe relevant sind, vermitteln, so hat es der Anthropologe Maurice Halbwachs formuliert, ein Gefühl der Regelmäßigkeit und Stabilität inmitten einer sich permanent im Fluss befindlichen Gesellschaft (Halbwachs 1967: 127).

Für die Architektur gilt freilich, was auch für viele andere Bereiche der Eigenlogik- Stadtforschung gilt: Hat man wie es dieser Ansatz forciert die ganze Stadt im Blick, geraten sozialräumliche Differenzierungen innerhalb einer Stadt schnell aus den Augen. So hat etwa der Stadtsoziologe Jens Dangschat (2009) darauf hingewiesen, dass insbesondere die ästhetisierende Architektur der Postmoderne mit ihrer Inszenierung von Marken, Macht und Lebensstilen sozial exkludierend wirkt. So interpretiert er die 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr (ebd.: 31) sichtbaren Luxus-Einkaufspassagen, Brandstores und Bürozentren, die jede Großstadt heute hat, als Verkörperung symbolischer Gewalt, als gebautes Statement, das den Anderen aus der Unterschicht zum Gehen auffordert (Dangschat 2009: 32). Architektur und Doxa Der Mehrwert, den eine auf Eigenlogik fokussierende Stadtforschung im Bereich der Architektur erzeugt, liegt in der Erforschung der Rolle gebauter Umwelt für ortspezifische Prozesse der Sinnformung. Vereinfach könnte man sagen, dass diese Perspektive eine Antwort auf die Frage nach der Rolle der Architektur für das Selbstverständnis einer Stadt formuliert. Dabei geht sie und hierin liegt ihr wesentlicher Vorteil über die Deutung der Symbolik einzelner Gebäude weit hinaus. Martina Löw argumentiert, dass sich Prozesse der Sinnformung insbesondere in sozialen Praktiken niederschlagen (Löw 2008). Dazu gehört auch der je unterschiedliche Umgang mit der gebauten Materialität einer Stadt. Um es an einigen Beispielen zu verdeutlichen: Während das Ensemble aus Operngebäude und Vorplatz in der einen Stadt als Ikone und Hort der Hochkultur gepflegt und inszeniert wird, ist es in einer anderen Stadt vielleicht der prominenteste Ort der lokalen Skateboard-Szene. Während man das Kunstmuseum in der einen Stadt im touristischen Zentrum platziert, wählt man in einer anderen vielleicht einen Standort im Umfeld der lokalen Off-Kulturszene. Während der soziale Wohnungsbau in der einen Stadt höchste Priorität genießt, verkauft die andere den kompletten Bestand der städtischen Wohnungsbaugesellschaft an einen globalen Investor. Für all diese Beispiele findet man im Einzelfall auch ökonomische, planungstechnische oder ordnungspolitische Gründe. Und dennoch verraten die Arten des Bauens und Abreißens und die Weisen des Umgangs mit Gebäuden etwas über die natürliche Einstellung zur Welt, die eine Stadt evoziert (vgl. Berking 2008: 24). Helmuth Berking hat dafür in Anlehnung an Pierre Bourdieu den Begriff der Doxa geprägt (ebd.). Gemeint ist damit ein natürliches Inder-Welt-Sein, ein lokale[r], intern durch die Unterscheidung von wie die Dinge sind und wie man etwas macht strukturierte[r] Hintergrund des Handelns (ebd.). Doxische Weltbezüge implizieren Berking zufolge immer doxische Ortsbezüge als Instanz des In-der- Welt-Vertraut-Seins: Unsere Lebenswelt ist ebenso wie Architektur immer an Orte gebunden. Fazit Die gebaute Umwelt hat einen wesentlichen und kaum zu überschätzenden Anteil an jenen Prozessen der Sinnformung, auf denen die Unterschiedlichkeit der Städte aus der Perspektive der Eigenlogik-Forschung basiert. Architektur ist dreifach sinnhaft auf die Welt des Sozialen und damit auch auf Städte bezogen: Gebäude sind zugleich symbolisch, materiell und ortsgebunden. Um sie zu verstehen, müssen wir alle drei Komponenten berücksichtigen. Die Eigenlogik der Städte-Forschung nimmt ihren Ausgang im Aspekt der Ortsgebundenheit von Architektur und betrachtet insbesondere die lokalen Rahmungen, die ein Gebäude zum Teil

einer Stadt und der Lebenswelt ihrer Bewohner macht. Als sinnhafte soziale Instanz sind Gebäude Verkörperungen vergangenen Sinns, der in gegenwärtigen Deutungen ebenso wie in den Arten des Umgangs aktualisiert, verschoben oder verändert wird. Stadtplanung, Denkmalpflege und Architekturpraxis sollten deshalb stets lokalsensibel und ortsbezogen agieren. Gebäude ziehen immer Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, sie ordnen die Bereiche von Arbeit, Freizeit und Konsum, rücken Dinge ins Zentrum und oder stellen sie an den Rand. Ausgangspunkt für Planungen sollte deshalb die möglichst umfassende Analyse der sozialräumlichen Zusammenhänge einer Stadt sein. Zu fragen ist: Welches Problem soll ein Abriss, ein Neubau oder eine Restaurierung lösen? Welchen Einfluss haben bauliche Eingriffe auf die räumliche Ordnung und die kumulative Textur einer Stadt? Sind diese Effekte gewünscht? Unbedingt empfehlenswert ist die Integration raumund wissenssoziologisch geschulter Sozialwissenschaftler/-innen in die Planungsteams. Begreift man Architektur in dem hier vorgeschlagenen, möglichst umfassenden Sinne, dann wird deutlich, dass die Rekonstruktion von Fassaden in der Regel nicht die adäquate Form des Weiterbauens an einer Stadt darstellt. Architekturprojekte im Geiste der Eigenlogik der Städte-Forschung versuchen das Prinzip der räumlichen und symbolischen Struktur einer Stadt zu verstehen und dieses Prinzip auf die Idee eines Neubaus oder einer Rekonstruktion zu übertragen, um zu Lösungen konkreter Probleme zu kommen. Literatur Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (2004), Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. Berking, Helmuth (2008),,Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen Skizzen zur Erforschung der Stadt und der Städte, in: ders./löw, Martina (Hg.), Die Eigenlogik der Städte: Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt a. M./New York, S. 15 31. Dangschat, Jens S. (2009), Architektur und soziale Selektivität, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Architektur der Gesellschaft. Aus Politik und Zeitgeschichte, 25. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament vom 15. Juni 2009, S. 27 33. De Botton, Alain (2008), Glück und Architektur Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein, Frankfurt a. M. Fischer, Joachim (2009), Zur Doppelpotenz der Architektursoziologie: Was bringt die Soziologie der Architektur? Was bringt die Architektur der Soziologie?, in: Fischer, Joachim/Delitz, Heike (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft, Bielefeld, S. 385 414. Giddens, Anthony (1988), Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie, Frankfurt a. M./New York. Halbwachs, Maurice (1967), Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart. Held, Gerd (2005), Territorium und Großstadt. Die räumliche Differenzierung der Moderne, Wiesbaden. Lindner, Rolf (2008), Textur, imaginaire, Habitus Schlüsselbegriffe der kulturanalytischen Stadtforschung, in: Berking, Helmuth/Löw, Martina (Hg.), Die Eigenlogik der Städte: Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt a. M./New York, S. 83 94. Löw, Martina (2008), Soziologie der Städte, Frankfurt a.m. Massey, Doreen (1999), On Space and the City, in: Massey, Doreen/Allen, John/Pile, Steve (Hg.), City Worlds, London/New York, S. 157 170.

Steets, Silke (2010), Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt: Eine architektursoziologische Skizze, in: Frank, Sybille/Schwenk, Jochen (Hg.), Turn Over: Cultural Turns in der Soziologie, Frankfurt a. M., S. 171 188. Textnachweis: Martina Löw / Georgios Terizakis (Hrg.), Städte und ihre Eigenlogik. Ein Handbuch für Stadtplanung und Stadtentwicklung. Campus-Verlag, Frankfurt/M. 2011, S. 133-140