Egoismus bzw. Selbstsucht im bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts

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Transkript:

Universiteit Gent Academiejaar 2011-2012 Egoismus bzw. Selbstsucht im bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts Eine Analyse Lessings Emilia Galotti und Lenz Die Soldaten aus egoistischer Sicht. Promotor: Prof. Dr. C. Kanz Verhandeling voorgelegd aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte voor het behalen van de graad van Master in de Taal- en Letterkunde: Duits-Engels door Jules De Doncker

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3 Dankeswort In erster Linie möchte ich meinen Eltern danken, nicht nur für die jahrelange moralische, sondern auch für die finanzielle Unterstützung, ohne die ich nie einem akademischen Diplom so nahe gekommen wäre. Daneben verdient auch meine Deutschlehrerin im Gymnasium, Frau Ann Vanallemeersch, eine ehrenvolle Erwähnung, da sie mir eine besonders angenehme erste Bekanntschaft mit der deutsche Sprache besorgt hat, die zweifellos die Grundlage meiner heutigen Liebe für dieses Land, seine Sprache und seine Kultur bildet. Drittens möchte ich auch der vollständigen Fachschaft deutsche Literaturwissenschaft, zusammen mit allen Professoren, von denen ich in den letzten vier Jahren Unterricht bekommen habe, danken für die akademischen Kompetenzen, und insbesondere das kritische Denken, die sie mir beigebracht haben. Eine besondere Erwähnung verdient auch mein Promotor, Prof. Dr. Christine Kanz, nicht nur für Ihre Hilfe und professionelle Meinung während des Schreibprozesses dieser Arbeit, sondern auch für Ihre besonders interessanten Vorlesungen über das 18. Jahrhundert, die mich auf die Idee bzw. das Thema der Arbeit gebracht haben. Schließlich möchte ich auch noch meiner Freundin, Charlot Tanghe, und meinen Zimmergenossen, Gilles Suply, Pieterjan Dehaene, Jelle Dierckens und Matthias Goeminne, danken für ihr konstruktives Feed-back, das mir bei dem Denkprozess hinter dieser Arbeit zweifellos weitergeholfen hat.

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5 Inhalt Inhalt...5 0. Einführung...7 1. Egoismus in den Lexika des 18. Jahrhunderts: eine Begriffsbestimmung...10 2. Egoismus im bürgerlichen Trauerspiel...14 2.1. Der Egoismus des intriganten Hofes...15 Emilia Galotti...15 Die Soldaten...27 2.2. Der Egoismus der bürgerlichen Kleinfamilie...35 Emilia Galotti...36 Die Soldaten...51 3. Schlussfolgerung...74 3.1 Folgen für die Gattungsbestimmung des bürgerlichen Trauerspiels: eine Neudefinierung?...74 3.2 Folgen für die gesellschaftliche Position des bürgerlichen Trauerspieles: exemplum ex negativo?...77 3.3 Ausblick...80 4. Bibliographie...82

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7 0. Einführung Traditionell wird dem bürgerlichen Trauerspiel in der Forschung ein festes Personal, einen typischen Handlungsablauf und eine kennzeichnende gesellschaftliche Funktion beigemessen. Die ersten zwei Voraussetzungen können aus folgendem Zitat Alexander Košenina abgeleitet werden: Auf dem Theater und in der Literatur wird Stimmung gegen die Verführung bürgerlicher Mädchen durch adlige Nichtsnutze gemacht, gleichzeitig gewähren erste Väter ihren Töchtern freie Partnerwahl [ ] und große Bösewichter öffnen den Zuschauern das Innerste ihrer Verbrecherseelen[.] 1 Im ersten Satz wird offensichtlich auf oben genannte typische Handlungsablauf, nach der ein adliger Verführer bzw. Soldat ein unschuldiges, tugendhaftes Bürgermädchen zu verführen versucht und auf diese Weise die Ehre bzw. Tugend dieses Mädchens gefährdet, hingewiesen. Der Rest des Zitats weist dann die anderen zwei wichtigsten Rollen auf: Einerseits gibt es der Vaterfigur, der immer das Glück seiner Tochter anzustreben scheint. Andererseits darf auch der bürgerliche Intrigant, der, indem er jedermann zur Erfüllung seiner eigenen Ziele bzw. seines eigenen Nutzens zu gebrauchen versucht, sich oft als größter Bösewicht des Stückes erweist, nicht vergessen werden. Die dritte, funktionale Voraussetzung dieser Gattung besteht darin, dass das Drama eine Gefühlserregung, Reinigung der Affekte und moralische Besserung 2 bei dem Publikum veranlassen soll. Dazu hat Lessing u.a. die Begriffe der Mitleidspoetik, der gemischten Charaktere und der poetischen Wahrheit eingeführt, auf die aber vor allem in der Schlussfolgerung noch näher eingegangen wird. Diese Arbeit hat aber vor, das bürgerliche Trauerspiel aus einer ganz neuen Sicht zu analysieren, indem auf der Suche nach egoistischem bzw. selbstsüchtigem Verhalten in dieser Gattung gegangen wird. Mit einem Versuch, in verschiedenen Stücken möglichst viele Belege des egoistischen Verhaltens aufzuzeigen, will diese Arbeit einerseits die vorherrschenden Auffassungen über das bürgerliche Trauerspiel und seine gesellschaftliche Position bzw. Funktion in Frage stellen, andererseits einen alternativen und nuancierteren Blick auf diese Gattung, die traditionell das tugendhafte Burgertum statt des intriganten Adels bevorzugt und eine moralisierende Wirkung beigemessen 1 Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin: Akademie Verlag 2008, S. 9. 2 Košenina: Literarische Anthropologie, S. 165.

8 wird, propagieren. Dabei wird vielmehr versucht, die bisherigen Theorien über diese Art Dramen mit den neuen Befunden in Übereinstimmung zu bringen, als dass diese als völlig falsch beiseitegeschoben werden. Da der Umfang dieser Arbeit gezwungenermaßen beschränkt ist, beschäftigt sich die Analyse konkret mit nur zwei bürgerlichen Trauerspielen. Dabei darf, besonders in Hinsicht auf seinen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung einer Theorie dieser Gattung und auf das Dramas des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen, ein Stück des Theatertheoretikers und Dramatikers, Gotthold Ephraim Lessing, nicht fehlen. Obwohl sich eine Analyse des Dramas Miss Sara Sampson, infolge seines Status als erstes Bürgerliches Trauerspiel Deutschlands einerseits, als Gattungsparadigma 3 andererseits, aufdrängt, optiert diese Arbeit für eine Analyse Emilia Galottis, das laut Alexander Košenina ebenso gut als Bürgerliches Trauerspiel par excellence [gilt] 4. Daneben wird auch Jakob Michael Reinhold Lenz Die Soldaten, als Theaterstück, in dem die Voraussetzung der gemischten bzw. zwiespaltigen Charaktere, die Lessing als Theatertheoretiker zwar propagiert, laut Inge Stephan als Dramatiker aber nicht eingehalten hat 5, tatsächlich erfüllt wird, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Obwohl die Analyse die vorhergehende Verneinung der Anwesenheit gemischter Charaktere in den Dramen Lessings widerlegen wird, kann trotzdem an einem Unterschied zwischen den zwei Stücken festgehalten werden, und zwar in dem Sinne, dass Lenz in Die Soldaten offensichtlich auf eine solche realistischere Darstellung des Personals zu zielen scheint, während Lessing tatsächlich versucht, die Helden bzw. Heldinnen seiner Stücke [ ] [als] Vertreter eines abstrakten bürgerlichen Tugendideals 6 darzustellen, dieser Versuch aber, wegen des in dieser Arbeit aufgezeigten egoistischen Substrats, scheitert. 7 Methodisch wird in erster Linie auf close reading zurückgegriffen, um eine möglichst detaillierte und umfassende, d.h. auch nuancierte, Charaktervorstellung der verschiedenen Schlüsselfiguren machen zu können, bei der unter dem Ausdruck Schlüsselfigur diejenige Gestalten verstanden werden, die unmittelbar mit dem 3 Peter-André Alt: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2007, S. 215. 4 Alexander Košenina: Literarische Anthropologie, S. 165. 5 Inge Stephan: Aufklärung. In: Deutsche Literaturgeschichte. Stuttgart Weimar: Verlag J.B. Metzler 2008, S. 167. 6 Stephan: Aufklärung, S. 167. 7 Auf diesen Unterschied zwischen den beiden Stücken wird in der Schlussfolgerung ausführlicher eingegangen.

9 tragischen Ablauf des Stückes verbunden sind, was heißt, dass sie entweder einen Anteil an diesem Ablauf haben, oder die negativen Folgen dieses Ablaufes am eigenen Leibe erfahren. Daneben werden, womöglich, mehrere Aspekte dieser Figuren Charakters und Verhaltens anhand von gendertheoretischen Befunden, als den Geschlechtscharakteren des 18. Jahrhunderts (nicht) entsprechend, weiter gedeutet. Zum Aufbau dieser Arbeit lässt sich schließlich sagen, dass es, neben dieser Einführung, drei Kapitel gibt, in dem jeweils eine wichtige Komponente einer Analyse der Selbstsucht im bürgerlichen Trauerspiel besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. So beschäftigt sich das erste Kapitel mit dem genauen Festlegen des Forschungsgegenstandes, indem versucht wird, anhand von Einträgen aus verschiedenen Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts eine Arbeitsdefinition des Egoismus bzw. der Selbstsucht aufzustellen. Im zweiten Kapitel, auf das auch das Hauptgewicht dieser Arbeit liegen wird, folgt dann die eigentliche Analyse des Egoismus bzw. egoistischen Verhaltens in den zwei oben genannten bürgerlichen Trauerspielen. Dabei wird nach der traditionellen Figurenkonstellation dieser Gattung eine Zweiteilung zwischen dem intriganten Adel und der tugendhaften bürgerlichen Kleinfamilie gemacht, bei der in jedem Teil zwar komparativ vorgegangen wird, die Figuren der beiden Tragödien aber nacheinander analysiert werden. Das dritte Kapitel, das zugleich auch die Schlussfolgerung der Arbeit bilden wird, reserviert, neben den üblichen Schlüssen, die unmittelbar aus der vorhergehenden Analyse gezogen werden können, auch Raum für eine ausführliche Reflexion über die etwaige Notwendigkeit einer Neudefinierung bzw. Adaption der heutigen Gattungsbestimmung einerseits, über die Folgen für die gesellschaftliche Position des bürgerlichen Trauerspiels als moralisierende bzw. erzieherische Gattung andererseits. Schließlich wird in einem Ausblick das enorme Potenzial einer Erweiterung der Analyse auf andere (nicht-) literarischen Gattungen dieser Epoche, oder sogar auf die Mentalität des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen, aufgezeigt.

10 1. Egoismus in den Lexika des 18. Jahrhunderts: eine Begriffsbestimmung Dieses erste Kapitel wird sich, wie auch der Titel schon sagt, mit einer Begriffsbestimmung des Forschungsgegenstandes, d.h. die Bedeutung der Wörter Egoismus, Selbstsucht und semantisch verwandter Begriffe im 18. Jahrhundert, beschäftigen. Dazu wird in erster Linie die Entstehungsgeschichte dieses semantischen Feldes besondere Aufmerksamkeit gewidmet, worauf in einem zweiten Teil versucht wird, anhand von Einträgen aus Wörterbüchern dieser Epoche eine Arbeitsdefinition des Egoismus bzw. der Selbstsucht, die den Ausgangspunkt der darauffolgenden Analyse Lessings Emilia Galotti und Lenz Die Soldaten bilden wird, aufzustellen. Wenn man sich die wichtigsten Wörterbücher des 18. Jahrhunderts anschaut, so ist die Abwesenheit eines Eintrags für Egoismus, vor allem in Hinsicht auf die Menge semantisch verwandter Einträge, wie Selbstsucht, Ichsucht oder Eigenliebe, besonders auffällig. Trotzdem muss man in dieser Epoche im deutschen Sprachgebiet schon Kenntnis von diesem Wort gehabt haben, denn sowohl im Deutschen Wörterbuch, mit dem die Brüder Grimm 1838 angefangen haben, wie auch in dem noch älteren Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, das zwischen 1774 und 1786 von Johann Christoph Adelung hergestellt wurde, wird Egoismus in ihren jeweiligen Erklärungen als Synonym verwendet. Ein möglicher Grund, weshalb diese bedeutenden Lexikologen ihn nicht als selbstständigen Eintrag aufgenommen haben, liegt darin, dass Egoismus, so stellt Hans Schulz in seinem Deutschen Fremdwörterbuch, das von Otto Basler fortgeführt wurde, fest, [i]m frühen 18. Jahrhundert über französisch égoïsme in den deutschen Sprachraum gelangt 8 und daher den Status eines Fremdwortes bekommen hat. In diesem Sinne erregt das Fehlen von Egoismus schon weniger Staunen und in Hinsicht auf die Feindlichkeit bzw. (leichte) Abneigung Fremdwörtern gegenüber, die die Brüder Grimm und Adelung in ihren jeweiligen Vorworten zeigen, ist eine solche Auslassung sogar zu erwarten: Alle sprachen solange sie gesund sind, haben einen naturtrieb, das fremde von sich abzuhalten und wo sein eindrang erfolgte, es wieder auszustoszen, wenigstens mit den heimischen elementen auszugleichen. [ ] Es ist pflicht der 8 Hans Schulz, Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Berlin: Walter de Gruyter 2004, Band 5, S. 33.

11 sprachforschung und zumal eines deutschen wörterbuchs dem maszlosen und unberechtigten vordrang des fremden widerstand zu leisten und einen unterschied fest zu halten zwischen zwei ganz von einander abstehenden gattungen ausländischer wörter, wenn auch ihre grenze hin und wieder sich verläuft. 9 Ich hatte bey der ersten Bearbeitung dieses Wörterbuches anfänglich den Entschluß gefasset, alle theils aus Noth, theils aus Unverstand und Mangel des Geschmackes in die Deutsche Sprache eingeführte fremde Wörter gänzlich bey Seite zu legen, und mich bloß auf eigentlich Deutsche einzuschränken. Allein ich wurde doch sehr bald selbst überzeugt, daß die ganzliche Abwesenheit aller Wörter dieser Art leicht für einen wesentlichen Mangel gehalten werden könnte, zumahl da ein großer Theil derselben nunmehr unentbehrlich ist, und für viele vielleicht noch mehr einer Erklärung bedarf, als eigentlich Deutsche Wörter. 10 Das Zitat Adelungs erklärt zugleich auch, weshalb Egoist wohl als selbstständiger Eintrag von ihm aufgenommen worden ist, indem laut ihm das Wort wegen des Fehlens eines deutschen Äquivalents tatsächlich unentbehrlich wäre, während auf Egoismus, der, wie schon gesagt, mit Selbstsucht (und bei den Brüdern Grimm auch Ichsucht ) eigenständig deutsche Synonyme hat, verzichtet werden könne. Dass selbstsüchtiges bzw. egoistisches Verhalten im 18. Jahrhundert immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und an Einfluss zu gewinnen beginnt, zeigt die Entstehungsgeschichte dieses semantischen Wortfeldes, die, im Rahmen einer Wiederentdeckung des Menschen unter dem Impuls der Aufklärung, das Bedürfnis nach einer Terminologie, mit der man jenes menschliche Handeln beschreiben könne, aufzeigt. So gelangt, wie schon gesagt, das Wort Egoismus laut dem deutschen Fremdwörterbuch schon im frühen 18. Jahrhundert über das französische Wort égoïsme in den deutschen Sprachraum. Wie man im Grimmschen Wörterbuch lesen kann, entsteht seine deutsche Variante, Selbstsucht, erst mehrere Jahrzehnte später, in 1759. 11 Auffälligerweise, aber nicht zufälligerweise, ist der Einfluss aus Frankreich, das zusammen mit England die Wiege der Aufklärungsbewegung bildet, in dieser Epoche auch im Bereich der Lexik spürbar. 9 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854-1961. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/wbnetz/wbgui_py? sigle=dwb&mainmode=vorworte&file=vor01_html#abs1.25.05.2012. 10 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1793-1801. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/wbnetz/wbgui_py?sigle=adelung&mainmode=vorworte.25.05.2012. 11 Grimm: Deutsches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgibin/wbnetz/wbgui_py? sigle=dwb&mode=vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=gs26199.25.05.2012.

12 Am wichtigsten für eine Analyse der Selbstsucht im bürgerlichen Trauerspiel bleiben aber die Definitionen, die die Lexikografen dieser Epoche für Selbstsucht (mit Egoismus als Synonym) und andere, semantisch verwandte Begriffe gegeben haben. So umschreiben die Brüder Grimm Selbstsucht als begierde, streben nach dem eignen vortheil 12 ; eine Definition, die mit der Umschreibung dieses Begriffes durch Adelung fast identisch ist: die ungeordnete Begierde, in allen Vorfällen seine eigenen Vortheile zu suchen 13. Beide betonen, dass es sich um ein Nachstreben des eigenen Vorteil bzw. eine Erfüllung des eigenen Nutzens, oder Eigennutzes, handelt. Ab diesem Punkt ist es aber vor allem Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch, das eine weitere Begriffsbestimmung der Selbstsucht ermöglicht, indem das semantische Feld dieser Selbstsucht bei ihm viel stärker vertreten ist als bei den Brüdern Grimm, die nur noch Ichsucht als dem Egoismus gleichbedeutend auflisten. Adelung dagegen gibt schon eine umfassendere Definition des Selbstsucht -Begriffes, indem er einerseits diese Begierde nach dem eigenen Vorteil ungeordnet nennt und sie auf diese Art und Weise negativ konnotiert, andererseits mittels des Ausdrucks in allen Vorfällen einen temporalen Aspekt hinzufügt, der die Beharrlichkeit des selbstsüchtigen Handelns stark hervorhebt. Daneben enthält das Grammatisch-kritische Wörterbuch auch einen ausführlichen Eintrag für Eigennutz, der oben unmittelbar mit der Selbstsucht verknüpft worden ist: 1. Der eigene Nutzen, besonders in engerer nachtheiliger Bedeutung, der Nutzen, welchen man mit Ausschließung und auf Kosten des Nutzens anderer hat. Seinen Eigennutz suchen. Noch mehr und häufiger aber, 2. die Neigung seinen eigenen Nutzen zu befördern. 1) So wohl in weiterer und unschuldiger Bedeutung, da dieses Wort mit der Eigenliebe im guten Verstande beynahe von einerley Bedeutung ist, und in dem Triebe bestehet, seinen eigenen Nutzen zu befördern. Allein in diesem Verstande wird das Wort nur zuweilen von den Philosophen gebraucht. Am häufigsten nimmt man es, 2) in engerer und nachtheiliger Bedeutung, von dem Triebe, seinen eigenen Nutzen mit Ausschließung und zum Nachtheile des Nutzens anderer zu befördern 14 12 Grimm: Deutsches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgibin/wbnetz/wbgui_py? sigle=dwb&mode=vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=gs26199.25.05.2012. 13 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/wbnetz/wbgui_py? sigle=adelung&mode=vernetzung&lemid=ds03972.25.05.2012. 14 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/wbnetz/wbgui_py? sigle=adelung&mode=vernetzung&lemid=de00333.25.05.2012.

13 Neben die oben genannte negative Konnotation werden hier auch die nachteiligen Folgen des Eigennutzes, der in seinem zweiten Bedeutung fast synonym mit Selbstsucht ist, betont: Ein Eigennutziger nimmt einfach keinen Rücksicht auf den Nutzen seiner Umgebung, was zu einer Beeinträchtigung anderer Personen führen kann. Achtet man schließlich auch auf Adelungs Eintrag für Egoist als ein[en] Mensch[en], welcher aus ungeordneter Eigenliebe in allen Dingen nur sich und seine Vortheile sucht 15, so lässt sich aus allen diesen Anregungen folgende Arbeitsdefinition derivieren: egoistisches, selbstsüchtiges oder eigennütziges Handeln ist ein beständiges und beharrliches Streben nach dem eigenen Vorteil, das, um sein Ziel zu erreichen, nichts oder niemanden scheut, was oft eine Beschädigung des Nutzens bzw. des Wohles anderer Personen zur Folge hat. Indem in dieser Definition die Komponente des Handelns eine zentrale Stelle einnimmt (ob man ein Egoist ist oder nicht, ist durch die Handlungen des Persons bedingt), scheint eine Analyse des Dramas des 18. Jahrhunderts, und zwar des bürgerlichen Trauerspiels, da in dieser Gattung die Handlung am direktesten, unmittelbar vor dem Publikum, fast lebensecht hervortritt, besonders gerechtfertigt. Zugleich bildet die Unmittelbarkeit aber auch die größte Schwierigkeit einer Analyse dieser Gattung, denn genau diese ist in dem konkreten Forschungsobjekt, das von dem Autor niedergeschriebene Theaterstück, zum Teil verloren gegangen. Die Handlung, und mithin die Selbstsucht, muss daher teils aus Regieanweisungen des Autors, teils aus den Worten der Personen abgeleitet werden, wie sich aus der nachfolgenden Analyse ergeben wird. 15 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/wbnetz/wbgui_py? sigle=adelung&mode=vernetzung&lemid=de00086.25.05.2012.

14 2. Egoismus im bürgerlichen Trauerspiel Dieses Kapitel umfasst eine Detailanalyse zweier bürgerlichen Trauerspiele, Emilia Galotti und Die Soldaten, die, wie oben schon erwähnt worden ist, von einer Spaltung zwischen der intriganten höfischen und der tugendhaften bürgerlichen Welt gekennzeichnet wird, die auch Inge Stephan in ihrer Auseinandersetzung über die Aufklärung in der Deutschen Literaturgeschichte erkennt: In der kontrastierenden Gegenüberstellung von >bürgerlich-privat< und >höfischöffentlich< lag nichtsdestoweniger ein starkes gesellschaftskritisches Element; die private Sphäre der Familie wurde als >allgemein-menschliche< reklamiert, der gegenüber die höfische Sphäre als unpersönlich, kalt und menschenfeindlich erschien. 16 Dieses Zitat gibt auch Anlass zu einem zusätzlichen, aber zum Teil spekulativen Grund für eine solche Zweiteilung: Wenn es im bürgerlichen Trauerspiel tatsächlich Egoismus geben würde, so lässt sich der beabsichtigte Kritik an den Höfen nach vermuten, dass sie vor allem bei den Angehörigen der höfischen Welt und ihres Umfeldes zu suchen ist, denn [d]ort in der Erwerbssphäre des Mannes [in der Öffentlichkeit] herrscht die Konkurrenz, der kalte Egoismus, schäbiges Übervorteilen usw. 17 Indem Lessing mittels des bürgerlichen Trauerspiels eine Reinigung der Affekte und moralische Besserung 18 der Zuschauer anstrebte, gewinnt diese Spaltung an Schärfe, denn um das dazu benötigten Midleid zu erregen, braucht man einen krassen Gegensatz zwischen der unschuldigen bürgerlichen Kleinfamilie, die von unmittelbare[n] ökonomische[n] Tugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit, anhaltende Arbeitsamkeit, zugleich aber auch, auf dieser Grundlage aufbauend, [ ] ächte, wahre Würde des Menschen, höhere, bessere Moralität, mehr Güte des Herzens, Wohlwollen, wärmere und aufrichtige Freundschaft und einen wirklich ausgebildeten Geist [ ] 19 regiert wird, und dem schuldigen, intriganten Adel, dessen Kabale den Zusammenbruch dieser geborgenen Privatsphäre herbeiführen. In diesem Sinne wäre der Unterschied zwischen höfischer und bürgerlicher Welt auch ein Unterschied zwischen einem von dem Publikum (und vielleicht auch von dem heutigen Leser) erwarteten und einem 16 Stephan: Aufklärung, S. 164. 17 Barbara Duden, Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Kursbuch 47 (1977), S. 133. 18 Košenina: Literarische Antropologie, S. 165. 19 Duden, Das schöne Eigentum., S. 132.

15 etwaigen unerwarteten Egoismus, dessen Anwesenheit im Text, indem er seiner Überraschung halber vermutlich unbeabsichtigt hereingeschlichen ist, viel weniger eindeutig ist. Daneben ist die charakteristische Figurenkonstellation dieser Gattung der Analyse auch in dem Sinne von Nutzen, dass die in den verschiedenen Stücken wiederkehrenden, prototypischen Figuren eine vergleichende Untersuchung der Dramen nicht nur ermöglichen, sondern sogar wünschenswert machen. Daher werden zuerst, neben den eventuellen einmalig vorkommenden Figuren, dem adligen Verführer und dem bürgerlichen Intriganten Aufmerksamkeit gewidmet. Anschließend wird sich diese Arbeit mit der Frage beschäftigen, ob das selbstsüchtige Verhalten auch in die bürgerliche Kleinfamilie, die sich traditionell aus einem autoritären aber liebenden Vater, einer kupplerischen Mutter und ihrer tugendhaften, unschuldigen Tochter zusammensetzt, eingedrungen ist. Indem Lessings Emilia Galotti häufig als Bürgerliches Trauerspiel par excellence 20 bewertet wird, wird sich die Analyse immer zunächst auf die Darstellung der Figuren in diesem Drama beziehen, worauf diese Prototypen mit ihren Äquivalenten aus dem anderen Stücke verglichen werden können. 2.1. Der Egoismus des intriganten Hofes Emilia Galotti Dem typischen Ablauf des bürgerlichen Trauerspiels nach versucht in Emilia Galotti ein adliger Verführer, der Prinz von Guastalla, das Herz einer unschuldigen Bürgertochter, Emilia, zu erobern. Der Leser bekommt aber eine sehr doppeldeutige Darstellung des Prinzen, indem er einerseits sich selber ständig als politisch korrekter Herrscher, der seiner aufrichtigen Liebe für Emilia und der Umstände, die diese Liebe verhindern, zum Opfer fällt, darstellt, andererseits seine Handlungen das Bild eines heuchlerischen und egoistischen Mannes, der zu der Erfüllung seines Wünsches, Emilia zu besitzen, nichts oder niemandem aus dem Weg geht, vermitteln. Im Folgenden wird dieses negative Bild eines rücksichtlosen Egoisten, von der scheinheiligen Selbstdarstellung des Prinzen ausgehend, weiter begründet. 20 Košenina: Literarische Antropologie, S. 165.

16 Schon im ersten Auftritt zeigt der Prinz ein wichtiges Charakteristikum des Selbstsüchtigen auf, indem er das Wohlergehen vieler seiner Untertanen seiner eigenen Obsession für Emilia unterordnet, wie folgendes Zitat treffend illustriert: DER PRINZ [ ]. Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften! Die traurigen Geschäfte; und man beneidet uns noch! Das glaub ich; wenn wir allen helfen könnten: dann wären wir zu beneiden. Emilia? (Indem er noch eine von den Bittschriften aufschlägt, und nach dem unterschriebenen Namen sieht.) Eine Emilia? Aber eine Emilia Bruneschi nicht Galotti. Nicht Emilia Galotti! Was will sie, diese Emilia Bruneschi? (Er lieset.) Viel gefodert; sehr viel. Doch sie heißt Emilia. Gewährt! (Er unterschreibt [ ]) 21 In dem ersten Teil des Zitats wahrt der Prinz den Schein, ein pflichtbewusster und ehrlicher Herrscher zu sein, noch einigermaßen, indem er bedauert, dass er nicht jedem Bürger, der ihm eine Klage oder Bittschrift gemacht hat, helfen kann. Schon hier wird diese Darstellung aber von einem großen, sogar übertriebenen Selbstmitleid überschattet, das ein außerordentliches Interesse an sich selbst verrät: Statt die Untertanen, deren Bitten er nicht genehmigen kann und die daher wirklich benachteiligt werden, zu bemitleiden, beklagt er, dem an nichts fehlt, sich selbst, indem er sich hartnäckig weigert, zu begreifen, weshalb man ihm beneiden könne. In dem zweiten Teil wird seine Selbstbezogenheit auf die Spitze getrieben, denn die einzige Bittschrift, die der Prinz gewährt, ist die irgendeiner Emilia (nicht einmal Emilia Galotti), die obendrein sehr viel von ihm fordert. Zudem ist der einzige Grund für diese Genehmigung, die Tatsache, dass diese Frau dem Gegenstand seiner Liebe gleichnamig ist. In diesem Sinne scheint diese Handlung des Prinzen eine versuchte Erfüllung seines Verlangens, Emilia Galotti, die ihm an diesem Punkt noch völlig unerreichbar erscheint, für sich zu gewinnen, bei der jene Emilia Bruneschi als bequeme Stellvertreterin ihrer Namensschwester fungiert. Trotzdem kann man sich in diesem Fall noch fragen, ob es sich, statt ein beharrliches Streben nach dem eigenen Vorteil, nicht um eine naive, blinde Liebe handelt. Diese alternative Lektüre verliert aber allmählich an Plausibilität, indem der Prinz u.a. in einem Gespräch mit dem Maler, Conti, ihm sein Vorhaben, Emilia zu besitzen, auf sublimierte Art und Weise in Bezug auf Contis Porträt des Mädchens erklärt ( DER PRINZ [ ] (Lächelnd.) Dieses Ihr Studium der weiblichen Schönheit, Conti, wie könnt 21 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co 2001, S. 5.

17 ich besser tun, als es auch zu dem meinigen zu machen? 22 ), Conti aber mit bedenklichen Praktiken vonseiten dem Prinzen vertraut zu sein scheint, denn, wenn er sich für seine Gemälde so viel bezahlen lassen darf, wie er will, fragt er ihm: CONTI. Sollte ich nun bald fürchten, Prinz, dass Sie so, noch etwas anders belohnen wollen, als die Kunst. 23 Schon hier, noch immer im ersten Aufzug, wird dem Leser das Bild eines korrupten Prinzen, der auch unerlaubte Methoden zum Erreichen seines Ziels nicht scheut, vermittelt. Auch die Aufrichtigkeit seiner Liebe büßt an Glaubwürdigkeit ein, indem der Prinz dem Publikum den sexuellen Aspekt seiner Obsession selber verrät: DER PRINZ. [ ] Wer dich auch besäße, schönres Meisterstück der Natur! Was Sie dafür wollen, ehrliche Mutter! Was du willst, alter Murrkopf! Fodre nur! Fodert nur! Am liebsten kauft ich dich, Zauberin, von dir selbst! 24 Aus diesem Zitat lässt sich schließen, dass er Liebe vielmehr einen kommerziellen Wert beimisst, als dass sie von Empfindsamkeit regiert wird. In diesem Sinne macht er seine Liebe für Emilia zur Handelsware, was unvermeidlich Anlass zu einer Verknüpfung der Liebe mit der Prostitution gibt. Indem der Prinz den Eltern oder Emilia selbst ihre Liebe, die er seiner kommerziellen Liebesauffassung gemäß als sie in Besitz nehmen umschreibt, vergüten will, zeigt er, dass einerseits Emilia für ihn nicht mehr als eine ordinäre Prostituierte ist, andererseits der Respekt vor und die Interesse an dem Wohlergehen seiner Untertanen bloß Schein ist. Schließlich scheint auch die Tatsache, dass er Emilia nach seinem Lustschlosse entführt, auf ein eher sexuelles Interesse an ihr hinzudeuten. Gäbe es bis auf diesem Punkt, in der Form eines Desinteresses an dem Nutzen anderer und eines übertriebenen Interesses an dem Eigennutz, schon einen Ansatz des egoistischen Verhaltens, so entwickelt sich der Prinz erst ab dem sechsten Auftritt der ersten Aufzug wirklich zu einer rücksichtslosen destruktiven Kraft, indem er den bürgerlichen Intrigant, Marinelli, beauftragt, die Heirat von Emilia mit dem Grafen Appiani, koste es, was es wolle, zu verhindern: MARINELLI. [ ] Wollen Sie mir freie Hand lassen, Prinz? Wollen Sie alles genehmigen, was ich tue? DER PRINZ. Alles, Marinelli, alles, was diesen Streich abwenden kann. 25 Die nachteiligen Folgen für die Umwelt einer solchen Obsession für den eigenen Nutzen, genauso wie der schlechten Ablauf der Geschichte, lässen sich ein wenig später schon vorausahnen, indem der 22 Lessing: Emilia Galotti, S. 11. 23 Lessing: Emilia Galotti, S. 11. 24 Lessing: Emilia Galotti, S. 12. 25 Lessing: Emilia Galotti, S. 17-18.

18 Prinz, völlig uninteressiert an seiner Pflicht als Fürsten, ein Todesurteil unterschreiben will: DER PRINZ. Was ist sonst? Etwas zu unterschreiben? CAMILLO ROTA. Ein Todesurteil wäre zu unterschreiben. DER PRINZ. Recht gern. Nur her! geschwind. CAMILLO ROTA (stutzig und den Prinzen starr ansehend). Ein Todesurteil, sagt ich. DER PRINZ. Ich höre ja wohl. Es könnte schon geschehen sein. Ich bin eilig. 26 Wären die Gefahren des selbstsüchtigen Handelns am Anfang noch zum größten Teil virtuell, so ist ab jetzt aber peinlich deutlich, dass der Prinz, teils aus Verzicht auf den Nutzen anderer Personen, teils aus beharrlichem Streben nach der Erfüllung des eigenen Wünsches, über Leichen gehen wird. Die Darstellung des Prinzen als rücksichtslosen Egoist wird auch in dem Rest des Stückes unvermindert eingehalten, indem er, nach dem Überfall auf das Gefolge des Brautpaares und der Entführung Emilias, das Mädchen mit zärtlicher Gewalt und nicht ohne Sträuben 27 nach seinem Lustschlosse abführt. Eine scheinbare Mentalitätsänderung gibt es erst im Moment, dass er den Mord an dem Grafen Appiani erfährt und sich der Folgen seiner Handlungen bewusst zu werden beginnt: DER PRINZ. Bei Gott! bei dem allgerechten Gott! ich bin unschuldig an diesem Blute. Wenn Sie mir vorher gesagt hätten, dass es dem Grafen das Leben kosten werde Nein, nein! und wenn es mir selbst das Leben gekostet hätte! 28 Dennoch stellt sich auch hier wieder das Eigeninteresse als höchstes Gut heraus, indem der Prinz sofort die gekränkte Unschuld zu spielen versucht. Nachdem er ihn bei dem Streben nach der Besitz Emilias weit außerhalb der Grenzen von moralischem Verhalten geführt hat, wird sich der Egoismus ab jetzt, da der Prinz einsieht, dass man [Angelo] für das Werkzeug, und [ihn] für den Täter halten [wird] 29, völlig auf die Wahrung seines Rufes konzentrieren. So wird mehrmals versucht, die Schuld an den nachteiligen Folgen seiner rücksichtslosen Obsession auf Marinelli abzuwälzen. Dies geschieht zum ersten Mal in Bezug auf den Tod des Grafen Appiani: DER PRINZ. [ ] Und das wollen Sie doch nur sagen: der Tod des Grafen ist für mich [ ] das einzige Glück, was meiner Liebe zustatten kommen konnte. Und als dieses, mag er doch geschehen sein, wie er will! Ein Graf mehr in der Welt, oder weniger! Denke ich Ihnen so recht? Topp! auch ich erschrecke vor einem 26 Lessing: Emilia Galotti, S. 19. 27 Lessing: Emilia Galotti, S. 49. 28 Lessing: Emilia Galotti, S. 54-55. 29 Lessing: Emilia Galotti, S. 56.

19 kleinen Verbrechen nicht. Nur, guter Freund, muss es ein kleines stilles Verbrechen sein. Und sehen Sie, unseres da, wäre nun gerade weder stille noch heilsam. Es hätte den Weg zwar gereiniget, aber zugleich gesperrt. 30 In diesem Zitat erreicht die unempfindliche Selbstsucht des Prinzen einen zweiten traurigen Höhepunkt, denn der Grund seiner Zurechtweisung Marinellis ist nicht das unnötige Blutvergießen während der Entführung Emilias, sondern die Tatsache, dass gerade dieses Blutvergießen die Verführung des Mädchens unmöglich macht. Mit anderen Worten wird nicht Marinellis Verbrechen verurteilt, denn der Prinz erwähnt erneut, dass auch er vor einem Verbrechen nicht zurückschreckt, sondern die Größe und vor allem die Folgen dieses Verbrechens. In diesem Sinne werden sogar die nachteiligen Folgen seines Verhaltens für andere Personen in dem Licht seines Strebens nach der Erfüllung persönlicher Ziele als nachteilige Folgen für ihn selbst erfahren: die Schuld an dem Scheitern des Planes wird der Schuld an dem Tod eines unschuldigen Mannes vorgezogen. Das vorläufige Entkommen Marinellis an der Wut des Prinzens, indem er ihm eine neue Möglichkeit bietet, Emilia für sich gewinnen zu können, beweist schon zum zigsten Mal, dass Eigenbelang für den Prinzen das einzige Gut ist. Schließlich kann auch der letzte Auftritt des Dramas als symptomatisch für die Selbstsucht des Prinzen betrachtet werden, denn, sobald das Komplott, um Besitz von Emilia zu nehmen, nach hinten losgeht, indem dem Vater, Odoardo, keinen anderen Ausweg mehr offen gelassen wird, als seine Tochter zu ermorden, unternimmt der Prinz einen allerletzten verzweifelten Versuch, die Schuld auf einen anderen abzuwälzen und so seinen Ruf zu wahren. Dazu erhebt er zuerst Vorwürfe gegen den Vater, der er grausam nennt. Letztendlich ist es aber Marinelli, der die Zeche bezahlen muss, indem der Prinz ihn mit einem großen Aufwand fortschickt und sich selber zudem die Rolle eines Opfers dieser falschen Menschen zuschreibt: DER PRINZ (nach einigem Stillschweigen, unter welchem er den Körper mit Entsetzen und Verzweiflung betrachtet, zu Marinelli). Hier! heb ihn auf. Nun? Du bedenkst dich? Elender! (Indem er ihm den Dolch aus der Hand reißt.) Nein, dein Blut soll mit diesem Blute sich nicht mischen. Geh, dich auf ewig zu verbergen! Geh! sag ich. Gott! Gott! Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, dass Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen? 31 30 Lessing: Emilia Galotti, S. 56. 31 Lessing: Emilia Galotti, S. 87.

20 Dieses Zitat zeigt zuerst die Verzweiflung, die den Prinzen, wenn er sich den dramatischen Ablauf seines Versuches, Emilia zu erobern, und den darausfolgenden, etwaigen Verlust seines Rufes bewusst wird, überfällt. Darauf setzt er alles daran, einerseits auf Marinelli als den Schuldigen zu weisen, indem er ihm mittels des Dolches, die Marinelli bloß in der Hand hält, (s)eine (eigene) späte Reue über den tödlichen Ausgang der Intrige in der Form eines Selbstmordversuches zuschreibt, dies angeblich vereitelt und ihn des Landes verweist; andererseits sich die Hände in Unschuld zu waschen, indem er eine aufrichtige Bekümmernis um das Schicksal des Mädchens aufzeigt und verhindern will, dass Marinellis falsches Blut sich mit dem tugendhaften Blut Emilias vermischt. Auf ähnlicher, vielleicht sogar identischer, Art und Weise wie in dem allerersten Auftritt des Dramas versucht der Prinz die Schein des Interesses an dem Gemeinwohl bzw. Wohl seiner Untertanen, kurz: des Altruismus, zu wahren, wird aber aufs Neue von seinen egoistischen Handlungen verraten. Nicht nur verwendet er den oben genannten imaginären Selbstmordversuch, um die Schuld von sich zu schieben, auch sühlt er sich nach wie vor in Selbstmitleid: Als ob er weiß, dass man ihn trotz allem doch für den tödlichen Ablauf seiner Kampagne um die Eroberung Emilias verantwortlich machen wird, entschuldigt er sein Verhalten, indem er im letzten Satz mit tiefem Bedauern betrachtet, dass auch Fürsten nur Menschen sind und er zudem das Pech gehabt hat, mit einem teuflischen Mensch befreundet zu sein. Aus dieser Analyse der adligen Verführer in Emilia Galotti lässt sich schließen, dass der Prinz dem Definition aus dem ersten Teil dieses Kapitels nach eine durch und durch egoistische Figur ist: Während des ganzen Stückes ist er damit beschäftigt, ohne Rücksicht auf die nachteiligen Folgen für andere Personen, seinen eigenen Interessen, der Eroberung Emilias bzw. der Wahrung seines Rufes, anzustreben. Traditionell gibt es im bürgerlichen Trauerspiel auch die Rolle des bürgerlichen Intriganten, der einem Angehörigen der höfischen Welt zwar Beistand leistet, ihn aber zugleich vor seiner eigenen Karren spannt. Diese wird in Emilia Galotti von Marinelli erfüllt, der mit List, Tücke und Erpressung nacheinander bei dem Prinzen hoch im Kurs zu stehen, sich an Appiani zu rächen und seine eigene Haut zu retten versucht. Der erste Eindruck, der dem Publikum von dem Kammerherren des Prinzen bekommt, ist keineswegs der eines rücksichtslosen und zielstrebigen Egoisten, sondern

21 der eines bescheidenen Dieners und einer schwachen Person, die dem Zorn seines Herren fürchtet und ihm, um diesen zu vermeiden, immer nach dem Munde redet. Trotzdem gelingt es Marinelli, diese falsche Bescheidenheit, die anfangs ein bloßer Verteidigungsmechanismus scheint, produktiv zu machen, wie folgendes Zitat zeigt: DER PRINZ (der gegen ihn wieder aufspringt). Verräter [ ] dass Sie, Sie, so treulos, so hämisch mir bis auf diesen Augenblick die Gefahr verhehlen dürfen, die meiner Liebe drohte[.] [ ] MARINELLI. Ich weiß kaum Worte zu finden, Prinz, wenn Sie mich auch dazu kommen ließen Ihnen mein Erstaunen zu bezeigen. Sie lieben Emilia Galotti? Schwur dann gegen Schwur: Wenn ich von dieser Liebe das Geringste vermutet habe; so möge weder Engel noch Heiliger von mir wissen! Eben das wollt ich in die Seele der Orsina schwören. Ihr Verdacht schweift auf einer ganz andern Fährte. DER PRINZ. So verzeihen Sie mir, Marinelli; (indem er sich ihm in die Arme wirft) und betauern Sie mich. MARINELLI. Nun da, Prinz! Erkennen Sie da die Frucht Ihrer Zurückhaltung! Fürsten haben keinen Freund! können keinen Freund haben! Und die Ursache, wenn dem so ist? Weil sie keinen haben wollen. Heute beehren sie uns mit ihrem Vertrauen, teilen uns ihre geheimsten Wünsche mit, schließen uns ihre ganze Seele auf: und morgen sind wir ihnen wieder so fremd, als hätten sie nie ein Wort mit uns gewechselt. DER PRINZ. Ach! Marinelli, wie konnt ich Ihnen vertrauen, was ich mir selbst kaum gestehen wollte? 32 Dieser Dialog, in dem sich einen unterschwelligen Machtstreit zwischen den Gesprächspartern entfaltet, macht zugleich den wichtigsten Unterschied zwischen dem Prinzen und Marinelli deutlich: während der Prinz von seinen Gefühlen regiert wird und demzufolge impulsiv und heftig, man könnte sagen: mit einem großen, seinem Amt angemessenen Machtdemonstration, auf die Nachricht, Emilia wird noch am selben Tag heiraten, reagiert, stellt sich Marinelli als ein berechnender Intrigant heraus, dessen wichtigste Waffe nicht die frechen Äußerungen und Handlungen des Prinzen, sondern eine viel nuanciertere, betrügerische Sprachverwendung ist, mittels der er hier die Macht erfolgreich an sich reißt. Indem er sich in seiner Erwiderung auf die unberechtigten Vorwürfe des Prinzen einerseits ausführlich entschuldigt, andererseits von diesen Worten sehr gekränkt zeigt, findet Marinelli das perfekte Gleichgewicht zwischen Respekt vor und Angriff auf seinen Herren, durch das es ihm gelingt, dem Prinzen ein Schuldgefühl aufzuhalsen. Auf diese Art und Weise bekommt Marinelli ab jetzt die Oberhand im Gespräch. Diese Umkehrung der Machtsverhältnisse lässt sich 32 Lessing: Emilia Galotti, S. 16-17.

22 einerseits daran erkennen, dass es jetzt der Kammerherr ist, der dem Prinzen Vorwürfe macht, ist andererseits auch typographisch in dem Text festgelegt, indem in die Anrede Marinellis an den Prinzen die Großbuchstaben allmählich verschwinden, während der Prinz seinem Kammerherren diese Reverenz noch immer erweist. Zum Schluss versucht der Intrigant die eroberte Macht zu sichern, indem er den Prinzen so weit führen will, dass er ihn als seinen Freund erkennen wird. Dieses Vorgehen Marinellis, das in hohem Maße auf Menschenkenntnis und Listigkeit beruht, ist exemplarisch für den ganzen Text und sorgt dafür, dass der Intrigant die Macht des Prinzen bis zum allerletzten Auftritt ausnutzen kann. Die Methoden, an den diese zwei Personen festhalten, mögen zwar verschieden sein, in dem Egoismus, d.h. der Beharrlichkeit und Rücksichtslosigkeit des Strebens nach dem eigenen Nutzen, ist Marinelli seinem Herren auffällig ähnlich. Wie der Konflikt mit dem Grafen Appiani zeigt, macht auch er in seinem Kampf um die Anerkennung des Prinzen vor nichts Halt: MARINELLI. [ ] Als ich sahe, dass weder Ernst noch Spott den Grafen bewegen konnte, seine Liebe der Ehre nachzusetzen: versucht ich es, ihn in Harnisch zu jagen. Ich sagte ihm Dinge, über die er sich vergaß. Er stieß Beleidigungen gegen mich aus: und ich forderte Genugtuung, und forderte sie gleich auf der Stelle. Ich dachte so: entweder er mich; oder ich ihn. Ich ihn: so ist das Feld ganz unser. Oder er mich: nun, wenn auch; so muss er fliehen, und der Prinz gewinnt wenigstens Zeit. [ ] Er versetzte, dass er auf heute doch noch etwas Wichtigers zu tun habe, als sich mit mir den Hals zu brechen. Und so beschied er mich auf die ersten acht Tage nach der Hochzeit. 33 Einerseits zeigt dieses Zitat nochmals, wie Marinelli seine bevorzugte Waffe, die Sprache, zur Täuschung des Prinzen einsetzt, denn der Bericht des Gespräches mit Appiani, den er seinem Herren hier erstattet, ist keine getreue Wiedergabe des echten Vorfalls. Indem nicht der Graf, sondern Marinelli selber sich in Wirklichkeit mit der Ausrede, er möchte Appianis zärtlichen Bräutigam den heutigen Tag nicht verderben 34, aus dem Zweikampf herauszureden versucht, stellt sich heraus, dass der Intrigant auch vor einer Lüge nicht zurückschreckt, wenn sie die wechselseitige Loyalität zwischen ihm und dem Prinzen verstärken könne. Andererseits zeigt sich auch die Reaktion Marinellis, wenn seine arglistigen Umstimmtechniken unwirksam sind. Nachdem seine mannigfachen Versuche, Appiani die Heirat bis auf Weiteres 33 Lessing: Emilia Galotti, S. 40-41. 34 Lessing: Emilia Galotti, S 38.

23 verschieben zu lassen, sodass er als Gesandter des Prinzen eine wichtige Angelegenheit erledigen kann, nur auf Skepsis vonseiten dem Grafen gestoßen sind, greift Marinelli zu Beleidigungen, um eine physische Konfrontation mit ihm herbeizuführen. Auch Gewalt scheint dieser schlaue Intigrant demnach nicht zu fürchten. Der Ablauf des Konfliktes mit dem Grafen rückt Marinelli aber in ein anderes, vielleicht noch lasterhafteres Licht, denn, wie sich schon an der feigen Flucht vor dem Duell gezeigt hat, schreckt er zwar vor der Anwendung von Gewalt nicht zurück, lässt sie aber am liebsten anderen Personen über. In diesem Sinne besteht sein Egoismus vor allem daraus, ohne jedes Risiko bzw. mit einer minimalen Chance auf nachteilige Folgen für sich selbst einen maximalen persönlichen Gewinn zu erzielen. Konkret muss den Grafen aus dem Weg geräumt werden, weil dieser der Einzige ist, der der Macht seiner trügerischen Sprachverwendung widerstanden hat und daher den weiteren Ausbau seiner Macht beeinträchtigen könne. Dass Geld dabei keine Rolle spielt, zeigt er, indem er einen gedungenen Mörder, Angelo, einsetzt, der den Grafen während des Überfalles bzw. der Entführung ermorden muss. Auch diese Nebenfigur zeigt erwartungsgemäß einen eingehenden Egoismus auf: Trotz einer falschen Bekümmernis um das Wohl anderer Personen, scheint alles sich für ihn schließlich um Geld zu drehen, wie, neben dem Gespräch zwischen ihm und seinem Informanten innerhalb der Familie Galotti, auch folgendes Zitat zeigt: ANGELO. Ich könnte weinen, um den ehrlichen Jungen! Ob mir sein Tod schon das (indem er den Beutel [mit Gold] in der Hand wieget) um ein Vierteil verbessert. Denn ich bin sein Erbe; weil ich ihn gerächet habe. 35 In dem Moment, dass Marinellis Plan fehlzuschlagen beginnt, werden die wirklichen Machtsverhältnisse zwischen ihm und seinem Herren deutlich. In dem Streit, den der Prinzen über den Tod des Grafen Appiani mit ihm anfängt, nimmt Marinelli dezidiert die überlegene Position ein, indem er nacheinander bitter, kalt, noch kälter und schließlich höchst gleichgültig auf die Vorwürfe des Prinzen reagiert, was ihn fast zum Wahnsinn treibt. 36 Wenn der Prinz sich ausgewütet hat, wird Marinellis Überlegenheit weiter begründet, indem er jetzt dem Prinzen den Vorwurf macht, selbst an dem Misserfolg der Verschwörung Schuld zu haben. Die Machtsübertragung vollzieht sich im Moment, dass auch der Prinz seinen Fehler, an Emilia in der Kirche herangetreten zu 35 Lessing: Emilia Galotti, S. 44. 36 Lessing: Emilia Galotti, S. 55-57.

24 haben, einsieht, und wird während des Restes des Dramas von der Einschränkung der Rolle des Prinzen auf marionettenhaften Ausführer der Befehle Marinellis symptomatisiert. Demgegenüber bekommt Marinelli eine aktive Rolle, indem er alles daran setzt, die Folgen dieses Fehlers zu tilgen und in dieser Hinsicht die Macht des Prinzen, die für die Erhaltung seiner eigenen Macht lebenswichtig ist, zu wahren. Wie sich aber gegen das Ende der Geschichte herausstellt, ist die Situation aussichtslos: Marinellis neuer Plan, dem Prinzen Emilia auszutragen und auf diese Weise hoch im Kurs bei ihm zu bleiben, scheitert jämmerlich und in dem letzten Austritt verliert er schließlich alles, wofür er sich schon während des ganzen Stückes abarbeitet hat, indem der Prinz, wie schon gesagt, den Intriganten entlarvt und ihm auf diese Weise eine letztendliche Machtsergreifung gelingt. Aus dieser Analyse könne man schließen, dass anhand des unrühmlichen Untergangs des bürgerlichen Intriganten in Emilia Galotti ein Beispiel geschafft wird: Indem Marinelli, der auf seine Suche nach immer mehr Macht den Grafen Appiani umbringen lässt, seinen Prinzen täuscht und schließlich die Macht seines Herren an sich zu reißen versucht, aus dem Land ausgewiesen wird, zeigt sich, dass ein solches beharrliches Streben nach dem eigenen Nutzen, das den angerichteten Schaden für die Umwelt völlig ignoriert, nicht lohnt. Schließlich muss auch die Gräfin Orsina, eine wichtige Nebenfigur in dem Sinne, dass sie nicht auf eine Rolle aus der typischen Figurenkonstellation des bürgerlichen Trauerspiels zurückgeführt werden kann, Aufmerksamkeit gewidmet werden. Obwohl man sie anfangs als unschuldiges Opfer der prinzlichen Obsession für Emilia bezeichnen könne, entwickelt sie sich innerhalb kürzester Zeit zur Rachegöttin des Prinzen, die beharrlich die blutige Vergeltung der Untreue ihres Geliebten anstrebt: ORSINA. [ ] (wie in der Entzückung) welch eine himmlische Phantasie! Wann wir einmal alle, wir, das ganze Heer der Verlassenen, wir alle in Bacchantinnen, in Furien verwandelt, wenn wir alle ihn unter uns hätten, ihn unter uns zerrissen, zerfleischten, sein Eingeweide durchwühlten, um das Herz zu finden, das der Verräter einer jeden versprach, und keiner gab! Ha! das sollte ein Tanz werden! das sollte! 37 Im Folgenden wird gezeigt, wie die Gräfin, ab dem Moment, dass sie den Liebesverrat ihres Prinzen erfährt, bis dass sie Odoardo den Dolch, mit dem er den 37 Lessing: Emilia Galotti, S. 71.

25 Prinzen töten kann, übergibt, alles daran setzt, die Schuld einzig und allein auf ihren ehemaligen Geliebten abzuwälzen. Sobald Marinelli (dank eines bisschen Hilfe des Prinzens) Orsina davon überzeugt hat, dass sein Herr sie nicht mehr liebt, bittet sie dem Kammerherren, über den sie offensichtlich weiß, dass er ein falscher und lügenhafter Intrigant ist, ihr eine bessere Entschuldigung, als dass der Prinz einfach beschäftigt ist, vorzulügen: ORSINA. [ ] Lügen Sie mir eines auf eigene Rechnung vor. Was kostet Ihnen denn eine Lüge? 38 Im Hinblick auf seine bedenklichen, sogar lasterhaften Praktiken würde eine Lüge mehr oder weniger Orsina zufolge für ihn doch nichts mehr ausmachen. Für einmal erzählt Marinelli aber die Wahrheit und sobald die Gräfin den ganzen Hergang erfährt, glaubt sie (mit Recht), eine Verschwörung des Prinzen, um Emilia für sich zu gewinnen, entdeckt zu haben: ORSINA. Haben sie keinen Anteil daran? MARINELLI. Woran? ORSINA. Schwören Sie! Nein, schwören Sie nicht. Sie möchten eine Sünde mehr begehen Oder ja; schwören Sie nur. Eine Sünde mehr oder weniger für einen, der doch verdammt ist! Haben Sie keinen Anteil daran? [ ] MARINELLI. Was? worüber? ORSINA. Wohl, so will ich Ihnen etwas vertrauen; [ ] (Und ihren Mund seinem Ohre nähert, als ob sie ihm zuflüstern wollte, was sie aber sehr laut ihm zuschreiet.) Der Prinz ist ein Mörder! MARINELLI. Gräfin, Gräfin sind Sie ganz von Sinnen? ORSINA. Von Sinnen? Ha! ha! ha! (aus vollem Halse lachend.) Ich bin selten, oder nie, mit meinem Verstand so wohl gewesen, als eben itzt. 39 In dieser sehr wichtigen Passage zeigt sich Orsina als eine ebenso große Intrigantin wie Marinelli. Indem sie nacheinander aufs Neue seine Aufrichtigkeit und die Reinheit seiner Seele in Zweifel zieht, ihn in die Irre führt und in seinem Ohr schreit, dass der Prinz ein Mörder ist und ihn, wenn er darauf fragt, ob sie von Sinnen ist, einfach ins Gesicht auslacht, verrät ihr Verhalten dem Kammerherren gegenüber, dass sie einerseits von der Mitschuld Marinellis im Bilde ist, andererseits nur wenig Respekt vor einem solchen mickrigen Person haben kann. Weil ihr rachedurstiges Ziel aber vor allem dem Prinzen gilt und die Mühe, auch Marinelli zu stürzen, wegen seiner oben genannten großen Abhängigkeit seines Herren nicht lohnt, fasst sie den Plan, dem ganzen Volk seines Prinzen Verschwörung aufzudecken. Um die Schuld völlig auf ihren ehemaligen Geliebten schieben zu können, lässt sie Marinelli zudem schwören, dass er daran keinen 38 Lessing: Emilia Galotti, S. 63. 39 Lessing: Emilia Galotti, S. 65.