Allgemeines Völkerrecht

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Transkript:

Allgemeines Völkerrecht 1. Völkerrechtliche Grundstrukturen 27 2. Rechtserzeugung im Völkerrecht: Systematik der Rechtsquellen 29 2.1. Völkervertragsrecht 30 2.2. Vertieft: das Vertragsrecht 35 2.3. Völkergewohnheitsrecht 49 2.4. Allgemeine Rechtsgrundsätze 52 2.5. Andere Völkerrechtsquellen und Begriffe, die als Quellen erscheinen, aber keine sind 53 2.6. Rechtserkenntnisquellen 58 3. Die Völkerrechtssubjekte 59 3.1. Hauptakteure: Staaten 60 3.2. Anerkennung und Kontinuität von Staaten 63 3.3. Andere Völkerrechtssubjekte oder Strukturen, die 66 keine Völkerrechtssubjekte sind 3.4. Vertieft: Entstehung, Untergang und Sukzession von Staaten 69 3.5. Grundrechte und Grundpflichten der Staaten 72 4. Selbstbestimmungsrecht der Völker 79 4.1. Recht auf Selbstbestimmung? 79 4.2. Träger des Selbstbestimmungsrechts 80 4.3. Inhalt des Selbstbestimmungsrechts 82 4.4. Ausübung des Selbstbestimmungsrechts 83 5. Internationale Organisationen 86 6. Die Vereinten Nationen 89 6.1. Ziele und Grundsätze 90 6.2. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen 91 6.3. Organisation der Vereinten Nationen 93 6.4. Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen 101 S. Lorenzmeier, Völkerrecht Schnell erfasst, Recht schnell erfasst, DOI 10.1007/978-3-642-23711-9_2, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

26 Allgemeines Völkerrecht 6.5. Friedenserhaltende und friedenschaffende Maßnahmen 115 7. Wiederholungsfragen 117

Allgemeines Völkerrecht 27 1. Völkerrechtliche Grundstrukturen Das Völkerrecht weist große Unterschiede zum nationalen Recht auf. Der Bestand staatlichen Rechts ist vergleichbar einfach festzustellen. Die Verfassung, Gesetze und Verordnungen werden auf formellem Wege durch die zuständigen Organe, insbesondere Parlamente, verabschiedet. Der Umgang mit dem Recht wird Juristen dadurch erleichtert, dass die Normen idealerweise einigermaßen spezifisch und in Gesetzblättern und Loseblattsammlungen abgedruckt sind. Das Völkerrecht wird nicht nur in anderen Gestaltungsformen angewendet und hat eine etwas andere Funktion und Wirkung, es wird schon auf andere Weise als nationales Recht geschaffen. Gewiss, es gibt eine ganze Reihe von Elementen der Rechtserzeugung, die vergleichbar sind. Recht bleibt gewissermaßen Recht, und die rechtsetzenden Akteure im Völkerrecht streben auch danach, den Prozess der Erzeugung angemessen zu formalisieren. Gleichwohl ist die Nomenklatur der völkerrechtlichen Rechtsquellen von der Dominanz der Staateninteressen in der internationalen Politik geprägt, und deshalb anders strukturiert. Die völkerrechtliche Rechtserzeugung ist hauptsächlich auf die Staaten konzentriert. Rechtsquellen sind Ursprünge allgemein rechtlich verbindlicher Normen. Ein Welt-Parlament, das völkerrechtliche Normen verabschiedet, gibt es nicht. Die einzigen internationalen Organe, deren Zusammensetzung und Kompetenzen gewisse Parallelen zu parlamentarischen Organen aufzeigen, sind die Generalversammlung und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, einer internationalen Organisation, die immerhin zur Zeit 193 Staaten, also fast alle Staaten der Erde, zu ihren Mitgliedern zählt. Um es dem Kapitel über die Vereinten Nationen vorwegzunehmen, die Generalversammlung vereint zwar alle 193 Mitglieder unter Anwendung des one state - one vote - Prinzips, hat aber nur ganz vereinzelte, interne Rechtsetzungskompetenzen. Sonstige Abstimmungsergebnisse sind nicht rechtsverbindlich, sie stellen nur soft law (s. u. S. 55) dar. Der Sicherheitsrat hat zwar im Falle günstiger Abstimmungsergebnisse eine Reihe von Kompetenzen, aber nur im Bereich der internationalen Sicherheit. Und bei seiner Zusammensetzung aus den fünf ständigen und zehn rotierenden Mitgliedstaaten kann von einer demokratischen Struktur, wie bei einem Parlament, nicht die Rede sein. Struktur der Völker rechtsquellen Rechtsquellen: Ursprünge von rechtlich verbindlichen Normen Kaum Rechtsetzungskompetenzen für die Generalversammlung

28 Allgemeines Völkerrecht Keine Weltverfassung Der IGH ist der Gerichtshof der Vereinten Nationen, mit Sitz in Den Haag, Niederlande. Die Vereinten Nationen beruhen auf einem universell geltenden völkerrechtlichen Vertrag. Ein völkerrechtlicher Vertrag ist eine Grundlage für völkerrechtliche Rechte und Pflichten. Also, auch wenn die Charta der Vereinten Nationen als universellster völkerrechtlicher Vertrag nur Grundzüge einer Verfassung trägt er also keine Weltverfassung ist, so ist dort nicht geregelt, welche völkerrechtlichen Rechtsquellen bestehen. Dies geschah in Art. 38 Statut des Internationalen Gerichtshofes (IGH-St), die nach Art. 92 SVN ein Bestandteil der Charta ist.

Allgemeines Völkerrecht 29 2. Rechtserzeugung im Völkerrecht: Systematik der Rechtsquellen In Art. 38 IGH-St sind die völkerrechtliche Rechtsquellen des IGH aufgezählt. Obwohl die Norm bei genauer Betrachtung nicht allgemeinverbindlich Rechtsquellen definiert, sondern nur eine Arbeitsgrundlage für den IGH festschreibt, hat sich diese Aufzählung als Anlehnungsgrundlage für die Rechtsquellen in Praxis und Lehre durchgesetzt. Daneben sind noch andere Quellen möglich; Art. 38 IGH-St begrenzt die Anzahl der Völkerrechtsquellen nicht. Nun zu den gesicherten Quellen des Art. 38: (1) Der Gerichtshof, dessen Aufgabe es ist, die ihm unterbreiteten Streitigkeiten nach dem Völkerrecht zu entscheiden, wendet an (a) internationale Übereinkünfte allgemeiner oder besonderer Natur, in denen von den streitenden Staaten ausdrücklich anerkannte Regeln festgelegt sind; (b) das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung; (c) die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze; (d) vorbehaltlich des Artikels 59 richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen als Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen. (2) Diese Bestimmung läßt die Befugnis des Gerichtshofs unberührt, mit Zustimmung der Parteien ex aequo et bono zu entscheiden. Die genannten Begriffe sind nicht immer eindeutig. Die Koordinaten in Kürze: Die Buchstaben a) bis c) sprechen drei in Praxis und Theorie anerkannte Rechtsquellen an (int. Übereinkünfte, int. Gewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze), man spricht deswegen auch von einer Rechtsquellentrias, Buchstabe d) nennt lediglich Instrumente, die bei der Erkennung der Gestalt der Rechtsquellen hilfreich sind, sog. Erkenntnisquellen. Artikel 59 IGH-St legt, ähnlich wie bei zivilrechtlichen Streitigkeiten im deutschen Recht, fest, dass die Urteile des IGH nur zwischen den streitenden Staaten Bindungswirkung entfalten, also inter partes gelten; Art. 38 IGH-Statut Rechtsquellen Rechtsquellentrias

30 Allgemeines Völkerrecht Artikel 38 II nennt einen speziellen Entscheidungsmodus des IGH, der teleologisch Absatz 1 lit. c) zuzuordnen ist, bei dessen Anwendung das Gericht einen Fall nach den Grundsätzen der Gleichheit und Billigkeit entscheidet. Obwohl das Gericht verschiedentlich diese Grundsätze implizit angewandt hat, ist nicht ganz klar, wie sie genau zu umreißen sind. Direkt auf Art. 38 II IGH-St hat der IGH noch nie Bezug genommen. Keine Hierarchie Bevor die Rechtsquellen im Einzelnen erläutert werden, eine Bemerkung zur Systematik der Rechtsquellen des Art. 38. Aus der Norm lässt sich keine Hierarchie der Rechtsquellen ableiten, eine solche besteht im Völkerrecht mit Ausnahme der Regel des ius cogens (s. S. 7) auch nicht. Obwohl so keine der Quellen einer anderen gegenüber subsidiär ist, gibt es die kollisionsrechtlichen Prinzipien des lex specialis und des lex posterior, die für einzelne Fälle einen kollisionsrechtlichen Vorrang der einen Norm über eine andere Vorschrift herstellen können; so etwa wenn ein Streit zwischen zwei Staaten über eine Verpflichtung aus einem Vertrag besteht und gleichzeitig Normen des Gewohnheitsrechts anwendbar sein könnten. In einem solchen Fall würde wohl dem Vertrag als der spezielleren Regelung die entscheidende Rolle bei der Lösung zukommen (zur Rechtsquellenkollision s. o. S. 13). 2.1. Völkervertragsrecht Verträge sind die Hauptrechtsquelle. Verträge machen den Großteil der völkerrechtlichen Regelungen aus. Sie können als die Hauptrechtsquelle des Völkerrechts bezeichnet werden, da sie hauptsächlich für die neueren völkerrechtlichen Entwicklungen verantwortlich sind. Das Gewohnheitsrecht ist häufig aber nicht zwangsläufig ein wenig statischer als das Vertragsrecht. Die Regelungsmaterien von Verträgen sind nahezu unbegrenzt. Möglich sind: Gründung einer internationalen Organisation (Vereinte Nationen, OECD, EU, WTO, NAFTA etc.) über Handelsbeziehungen zu Menschenrechten, Friedensschlüssen, Waffenstillständen, Rüstungsbeschränkungen, Grenzregelungen, Standards für Arbeitnehmer,

Allgemeines Völkerrecht 31 Umweltfragen, Gegenseitige Anerkennung von Gerichtsentscheidungen, Seerecht, Weltraumrecht, Zivilluftfahrt, Diplomatenrecht und Regeln über das Zustandekommen, die Auslegung, Beendigung und Anwendung völkerrechtlicher Verträge. Man könnte diese Liste endlos weiter führen. Verträge sind das wichtigste rechtliche Instrument zur Verfestigung internationaler Politik. Um den Begriff der Verträge theoretisch näher aufzuschlüsseln, eine Definition, die das Verständnis erleichtert: Ein völkerrechtlicher Vertrag ist jede multilaterale oder bilaterale Vereinbarung zwischen Staaten oder anderen Völkerrechtssubjekten (etwa Internationales Rotes Kreuz, Vereinte Nationen, Europäische Union etc.) die vom Völkerrecht bestimmt ist bzw. ihm unterliegt. Diese Definition hört sich ein wenig nach Zirkelschluss an, aber man kommt der Sache noch näher. Eine Vereinbarung ist generell, und damit wie in anderen Rechtsgebieten, eine verbindliche, offen getätigte (muss nicht schriftlich oder ausdrücklich sein) und mit Bindungswillen zustande gekommene Willenseinigung zwischen zwei oder mehr Teilnehmern, etwas zu tun, zu lassen, oder als anerkannt festzulegen. Bilateral ist eine Übereinkunft zwischen zwei Vertragsparteien, multilateral ist sie, wenn sie zwischen drei und mehr Parteien vereinbart wurde. Dann wird der Vertrag häufig»übereinkommen«genannt. Daneben existieren noch plurilaterale Übereinkommen, worunter Verträge zwischen mehreren, aber nicht allen Vertragsparteien eines multilateralen Abkommens verstanden werden (Bsp.: Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen im Rahmen der WTO, s. dazu u. S. 148). Ausschließlich Völkerrechtssubjekte, wie zum Beispiel Staaten oder Internationale Organisationen, können völkerrechtliche Verträge abschließen, nicht etwa Privatpersonen. Bei in anderen Staaten investierenden Unternehmen wird von diesem Grundsatz eine inhaltlich beschränkte Ausnahme gemacht, sie schließen so ge- Definition Vertrag Definition Vereinbarung Bilateral Multilateral Plurilateral

32 Allgemeines Völkerrecht acte iure gestionis acte iure imperii WVK verlangt Schriftform Rechtsbindungswillen nannte»internationalisierte Verträge«(s. u. S. 168; häufig auch»quasi-völkerrechtliche Verträge«genannt). Nicht jeder von einem Völkerrechtssubjekt abgeschlossene Vertrag muss aber völkerrechtlicher Natur sein. So wird zum Beispiel die Botschaft der Bundesrepublik in der Schweiz (Vertragspartner 1) von einem dortigen Bürobedarf (Vertragspartner 2) Schreibtische auf der Grundlage eines privatrechtlichen Vertrages erwerben, dessen rechtliche Behandlung sich allein nach dem schweizerischen Zivilrecht richtet. Diese privatrechtlichen Akte nennt man acte iure gestionis, Hoheitsakte demgegenüber acte iure imperii. Ob eine Übereinkunft dem Völkerrecht oder dem innerstaatlichen Recht unterliegt, richtet sich nach dem Charakter des Regelungsinhalts der Übereinkunft und/oder dem ausdrücklichen Willen der Parteien. Unterliegt sie dem Völkerrecht, so sind auf Zustandekommen, Auslegung, Beendigung, Verletzung etc. der Übereinkunft völkerrechtliche Regeln anzuwenden, und nicht innerstaatliche. Bei innerstaatlichen Verträgen gelten dann umgekehrt zwangsläufig die jeweiligen nationalen Regeln. Die Vertragsdefinition der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK, selbst eine völkerrechtliche Vereinbarung) für völkerrechtliche Verträge ist etwas enger, sie setzt gemäß Art. 2 lit. a) WVK Schriftform voraus. Das bedeutet aber nur, dass diese Konvention sich ausschließlich auf schriftliche Vereinbarungen bezieht, nicht etwa, dass mündliche oder sonstige Vereinbarungen nicht wirksam oder unverbindlich wären. Es gilt das Prinzip der Formfreiheit, siehe Art. 3 lit. a) WVK (zur WVK s. u. S. 35). Im Völkerrecht scheinen der Bezeichnung einer Vereinbarung kaum Grenzen gesetzt zu sein. Vertrag, Vereinbarung, Übereinkunft, Protokoll, Konvention, Abkommen, Pakt, alles sind wirksame Vereinbarungen, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Entscheidend für das Vorliegen eines Vertrages ist allein der Rechtsbindungswillen der Parteien, wie sie die Vereinbarung letztendlich genannt haben, ist irrelevant (siehe IGH, Qatar/Bahrain, ICJ-Rep. 1994, 112/122). Und wie sieht so eine Vereinbarung auf dem Papier überhaupt aus? Ein Original eines schriftlichen Vertragsdokuments mit Unterschriften und Siegeln in Leder mit Goldschnitt wird man selten zu sehen bekommen, aber es gibt eine Reihe von Sammlungen völkerrechtlicher Verträge, wie zum Beispiel die United Nations Treaty Series (UNTS), die alle völkerrechtlichen Verträge der Vereinten Nationen und viele ihrer Mitgliedstaaten publiziert. Die wichtigste

Allgemeines Völkerrecht 33 Fundstelle für völkerrechtliche Verträge sind aber die Gesetzblätter der Staaten, die ihre Vereinbarungen, genau wie nationale Gesetze und Verordnungen, ihren Staatsbürgern bekannt geben. Die völkerrechtlichen Verträge der Bundesrepublik werden im»bundesgesetzblatt, Teil II«bekannt gegeben. Das Bundesgesetzblatt II hat einen jährlich aktualisierten Index, den sog.»fundstellennachweis B«, in dem man unter Stichworten Verträge suchen und leicht finden kann. Auch Änderungen von Verträgen durch Ergänzungen sind vermerkt. Zum Abschluss des Kapitels über die Verträge hier eine Übersicht und vertiefende Darstellung über den beispielhaften Aufbau eines völkerrechtlichen Vertrages: Offizielle Überschrift Präambel: Völkerrechtliche Verträge beginnen mit einer Präambel (dt.: Einführung). Die Präambel gehört nicht zum Regelungsinhalt des Vertrages, deshalb ist sie kein»recht«im eigentlichen Sinne. Jedoch sind in ihr in überaus formell formulierten Sätzen die Regelungsziele des Vertrages enthalten, so dass sie zur Interpretation des Vertragstextes herangezogen werden kann, wie sich auch aus Art. 31 II WVK ergibt. Der Telos (dt.: Sinn und Zweck) des Vertrages ist demzufolge in der Präambel enthalten. Allgemeine Bestimmungen, wie Vertragsgegenstand, Begriffsdefinitionen, zeitlicher Geltungsbereich (ab, bis ), sachlicher Geltungsbereich, möglicherweise z.b. mit Einschränkungen in Bezug auf andere Verträge. Nach deutschrechtlichem Verständnis ist dies der»allgemeine Teil«, der für alle folgenden»besonderen Teile«gilt. Es sei denn, der besondere Teil trifft eine Sonderregelung, die die allgemeine verdrängen soll. Hauptregelungsteil: enthält die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien, eventuell auch Feststellungen der gemeinsamen Rechtsauffassungen der Parteien. Daran schließt sich der Hauptteil an, der die materiellen Regelungen enthält. Falls durch den Vertrag eine Internationale Organisation geschaffen werden soll, enthält dieser Abschnitt auch die Bestimmungen über den Aufbau der Organisation, d.h., welche Organe geschaffen und welche Kompetenzen ihnen übertragen werden sollen usw; anschließend finden sich häufig Streitschlichtungsregelungen: dabei ist oft geregelt, welches Gericht oder Schiedsgericht zuständig sein soll und nach wel- Beispielhafter Aufbau eines Vertrages Hauptteil

34 Allgemeines Völkerrecht chem Verfahren eine Streitschlichtung vor sich gehen soll; dann folgen meist Schlussbestimmungen des Vertrages: ein Sammelsurium von Einzelheiten, die aber für den Vertrag sehr wichtig sind, zum Beispiel: Eine Bestimmung über die Unterzeichnung und/oder Ratifikation des Vertrages (Unterzeichnung ist die Zustimmung zum Vertragstext durch Unterschrift eines Staatenvertreters unter den Vertrag, mit Bindungswillen verbunden; Ratifikation ist die verbindliche Annahme eines Vertrages durch seine dafür zuständigen Organe in dem dafür vorgesehenen Verfahren) Eine Beitrittsklausel für weitere Vertragsparteien (Beitritt: Zustimmung eines Staates, durch einen Vertrag gebunden zu sein, entweder mittels einer dementsprechenden Erklärung oder durch entsprechende Ratifikation) Eine Bestimmung über ein auslösendes Ereignis (etwa Datum, oder Eingang von mindestens 40 Ratifikationsurkunden) für das Inkrafttreten des Vertrages, den Zeitpunkt seiner Wirksamkeit Eine Klausel über Vorbehalte zum Vertrag, also die Möglichkeit der Vertragspartner, wirksam zu erklären, an einzelne Bestimmungen des Vertrages nicht gebunden zu sein Eine Vertragsänderungs-, Ergänzungs- und/oder Revisionsklausel Eine Vertragskündigungsregelung Eine Regelung der Vertragssprachen und der authentischen Texte Eine Regelung der Aufgaben des Depositarstaates, das ist der die Vertragsurkunden aufbewahrende Staat Schlussformel, z.b.:»zu Urkund dessen haben die Unterzeichneten, von ihren Regierungen hierzu gehörig Bevollmächtigten dieses Übereinkommen unterschrieben, Geschehen zu am in «Annexe: Der Phantasie sind hier kaum Grenzen gesetzt, gängig sind etwa bei Abrüstungsverträgen Listen von Waffenarten, bei Umweltschutzverträgen Listen von Tierarten etc. Der Anhang ist häufig in einem gegenüber

Allgemeines Völkerrecht 35 dem zur Änderung des eigentlichen Vertragstextes vorgesehenen Verfahren leichter abänderbar. Wie gesagt, dies ist ein beispielhafter Aufbau eines Vertrages, es besteht ein großer Variationsspielraum. Wer die Systematik und den Aufbau von völkerrechtlichen Verträgen verinnerlicht hat, wird in der Prüfungssituation auch von unbekannten Verträgen nicht»kalt erwischt«und ist in der Hektik der Prüfungssituation vor Panik gefeit. Verträge sind die bei weitem am häufigsten vorkommende Rechtsquelle. Deswegen wird auch in Prüfungen die genaue Kenntnis einiger Verträge, wie der Satzung der Vereinten Nationen (SVN), der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) etc. erwartet. 2.2. Vertieft: das Vertragsrecht Das Recht der Verträge ist hauptsächlich in drei großen Kodifikationen verankert: der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) [BGBl. 1985 II, 926], dem Wiener Übereinkommen über Verträge zwischen Staaten und Internationalen Organisationen oder zwischen Internationalen Organisationen (WVKIO) [BGBl. 1990 II, 1414] und dem Wiener Übereinkommen über die Staatennachfolge in Verträge [ILM 1978, 1488]. Grundsätzliche Kodifikationen Das letztere Übereinkommen wird bei der Staatensukzession (s. u. S. 69) kurz erläutert. Von den erwähnten Abkommen ist bisher nur die WVKIO nicht in Kraft getreten, deswegen soll sich die weitere Darstellung auf die WVK beschränken. Hauptsächlich stellt sie wie die WVKIO eine Kodifikation von Gewohnheitsrecht dar, so dass die in ihr enthaltenen Rechtsprinzipien allgemeine Geltung beanspruchen. Eine Kündigung seitens eines Vertragsstaats würde deshalb bedeuten, dass dieser Staat weiterhin an die gewohnheitsrechtlich geltenden Regeln gebunden wäre. 2.2.1. Definition und Arten Nach Art. 2 lit. a) WVK ist ein Vertrag eine in Schriftform geschlossene und vom Völkerrecht bestimmte internationale Übereinkunft zwischen Staaten, gleichviel ob sie in einer oder mehreren zusammengehörigen Urkunden enthalten ist und welche besondere Definition Vertrag nach WVK

http://www.springer.com/978-3-642-23710-2