Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Bischof Dr. Dr. h.c. Markus Dröge, Predigt am Sonntag Judika, 13. März 2016, St. Marien Berlin, Hebräer 5,7-9. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen. I. Als Gemeindepfarrer habe ich früher gerne Geburtstagsbesuche gemacht. Nicht nur anlässlich von großen Feiern, sondern auch bei den Menschen zu Hause, manchmal nur im Gespräch zu zweit. Besonders wenn der Partner oder die Partnerin schon gestorben war kam häufig das Gespräch auf die Zeit von früher. Es wurde vom Leben erzählt. Wie es war mit dem geliebten Menschen. Auch von den schweren Zeiten; und sogar von den Macken, die der andere hatte. Und es wurde vom Tod gesprochen. Wie war das Sterben gewesen? Wie waren die letzten Stunden, in denen man Abschied nehmen oder eben auch nicht Abschied nehmen konnte. Diese Gespräche waren meist sehr intensiv. Und das Thema Sterben und Tod war oft genug geprägt von großer Lebendigkeit. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die einen nahe stehenden Angehörigen verloren haben, das immer wieder erzählen; und erzählen wollen. Aber sie ziehen sich dann doch schnell zurück, weil sie denken, das will ja doch keiner mehr hören. Ich glaube, wir brauchen das Erzählen. Nur so kann man das Geschehene wirklich verstehen; nur so kann man es an sich heranlassen indem man es herauslässt. So kann Heilung beginnen und Trost wachsen. Denn das ist auch wahr: Vom Tod sprechen heißt immer auch vom Leben zu erzählen. 1
II. Das war zu allen Zeiten so, auch unter den Jüngern Jesu. Eindrücklich wird zum Beispiel von dem Gespräch der zwei Jünger auf dem Weg nach Emmaus am Ostermorgen berichtet. Sie haben das Geschehen von Kreuz Jesu Christi immer wieder vergegenwärtigt und sich noch einmal erzählt. Wir brauchen die Nacherzählung, wenn wir selbst mit dem Tod konfrontiert sind. Aber auch, um vom Tod Jesu zu sprechen. Darum gibt es mehr als ein Evangelium. Jeder der vier Evangelisten hat die Passionsgeschichte neu erzählt, jeder auf seine Weise und jeder streute auch seine eigene Deutung hinein. Jede Nacherzählung enthält ein Stück Deutung. Wer erzählt, denkt auch über das Warum nach? Warum musste das alles so geschehen, wie es geschah? Nicht anders ist es mit dem Hebräerbrief, aus dem der heutige Predigttext entstammt. Auch der Schreiber des Hebräerbriefes buchstabiert das Geheimnis des Todes Jesu durch. Und er deutet es auf seine Weise, mit einer ganz besonderen Blickrichtung. Er erzählt die Geschichte Jesu vom Garten Gethsemane her. Jesus ist voller Angst und sagt mit Tränen in den Augen: Abba, lieber Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst! (Mk 14,36) Von dieser Szene im Garten her fragt der Hebräerbrief: Warum hatte Jesus Angst? Warum hat er gefleht, geschrien und Tränen vergossen? Im heutigen Predigttext gibt der Hebräerbrief darauf eine Antwort: Jesus durchlitt die Angst, um Gehorsam zu lernen. Ein fast abschreckender Gedanke. Das Wort Gehorsam, gar unter Zwang, hat keinen guten Klang. Aber hier bei Jesus ist nicht erzwungene Unterwerfung gemeint. Es geht um ein gehorsames Vertrauen: sich einlassen auf Gott und ihm folgen. Der Hebräerbrief deutet den Tod Jesu noch weiter. Er sagt, Jesus hat all dies stellvertretend für uns gelitten, deshalb ist er der Grund des Heils. Er hat die 2
Schuld und das Leiden für uns getragen. Er hat gefleht, damit wir getröstet werden. Er hat geschrien, damit wir angesichts des Todes nicht stumm bleiben müssen. Er hat Angst gehabt, damit wir die Angst überwinden können. Trägt diese Deutung für uns heute noch? Aber vielleicht ist das auch die ganz und gar falsche Frage. Es ist womöglich so wie in den Gesprächen bei Geburtstagsbesuchen. Wenn Menschen erzählen, wie sie den Tod erlebt haben; wie sie ihn verstanden oder auch nicht verstanden haben. Dann geht es doch nicht darum, darüber zu entscheiden. was daran richtig oder falsch ist. Sondern es geht um den Versuch, die Deutung zu verstehen, das Leben zu verstehen, in dem diese Deutung Sitz und Tragfähigkeit hat. Um dann für sich selbst zu fragen: Wie sehe ich das eigentlich? Die Fragen, auf die der Hebräerbrief antwortet, sind bis heute spannend: Wohin mit der Schuld? Warum das Leiden? Muss jeder mit seiner Schuld alleine fertig werden? Oder ist es doch vorstellbar, dass ich mir Schuld abnehmen lassen kann von wem? Von Jesus?! III. Wir brauchen das Nacherzählen. Und wir brauchen das Deuten dessen, was unbegreifbar ist und bleibt. Der Hebräerbrief tut das und gibt eine starke Deutung des Todes Jesu, indem er sie in die jüdische Tradition des Hohepriesters Melchisedek stellt. Der Kontext macht dies deutlich, wenn es direkt vor dem heutigen Predigttext in Bezug auf Christus heißt: Du bist ein Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks. Psalm 110 wird hier zitiert. Und es wird damit an eine kurze Szene im ersten Buch Mose erinnert, wo es im Rahmen der Abrahamsgeschichte heißt: Aber Melchisedek, der König von Salem, trug Brot und Wein heraus. Und er war ein Priester Gottes des Höchsten und segnete ihn und sprach: Gesegnet seist du, Abram, vom höchsten Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat. (Gen 14,18-20) 3
Ein Bild der Hoffnung inmitten der Wirren der Zeiten. Es ist nur eine kleine Episode die Erwähnung Melchisedeks geht in der gesamten Abram-Erzählung fast unter und ist doch ein Keim der Hoffnung. Es herrscht Krieg in Kanaan zwischen vier Großkönigen und fünf Stadtkönigen. Auch Abram ist darin verwickelt, denn sein Neffe wurde gefangen genommen. Deshalb stellt er kampferprobte Männer zusammen und befreit Lot. Mitten in diesen Zeiten der Gewalt und des Krieges taucht der König von Salem, Melchisekek, bei Abram auf. Brot und Wein reicht er Abram zur Stärkung und segnet ihn. Ein sprechendes Geschehen, das über sich hinausweist. König von Salem damit kann Jerusalem gemeint sein, aber es verweist auch auf die Wortbedeutung Frieden. Und der Name Melchisedek bedeutet übersetzt König der Gerechtigkeit. Mitten im Krieg scheint also etwas auf von Frieden und Gerechtigkeit. In der Stärkung von Brot und Wein und durch den Segen vermittelt Melchisedek Gerechtigkeit und Frieden in einer friedlosen und ungerechten Welt. Melchisedek gibt keine Antwort auf die Frage nach dem Warum des Leidens und des Todes. Aber inmitten der Zerstörung zeichnet er doch die Hoffnung einer neuen Wirklichkeit; erfüllt von Frieden und Gerechtigkeit. An diese Mittler-Gestalt knüpft der Hebräerbrief an und spricht von Christus als dem Mittler des neuen Bundes. Christus opfert sich, damit wir Gott nahe sein können. Es geht dabei nicht um die Besänftigung eines Gottes, der unbedingt ein Opfer fordert, sondern es geht darum, dass Jesus n die Stelle derer tritt, die von Gott getrennt sind. Das Wort Opfer kommt vom hebräischen Wort karov und bedeutet nahe. Es geht beim Opfer also darum, sich Gott zu nahen. Christus als Mittler zwischen Gott und Mensch macht genau dies. Er wird Mensch. Er kennt unsere Angst, unsere Nöte, unser Leben. Und er ist zugleich ganz verbunden mit Gott. So kann er zum Mittler werden zwischen Mensch und Gott. Er ist die Schwelle, an der 4
Mensch und Gott sich treffen können, sich einander nahen können. In Christus wird das Getrennte wieder verbunden. Das Verlorene wieder gesucht und auch gefunden. In Christus sucht Gott die Menschen in ihrer Gottesferne auf, er erträgt mit ihnen sogar ihr Unrecht und ihr Elend. Und so wird der Ort der größten Gottesferne, der Tod am Kreuz, zugleich der Ort der Gottesnähe. Und der Garten Gethsemane wird zu einem Ort, an dem trotz Angst und Leiden Gott gegenwärtig sein kann. IV. Wohin mit dem Leid? Wohin mit dem Schmerz? Wohin mit dem Tod? Wir kommen mit unseren Deutungen nie ganz zu einem Ende. Wir werden nie ganz fertig mit unseren Fragen und auch nicht mit unserer Schuld. Angesichts der Welt, in der wir leben, etwas angesichts der Flüchtlinge, die jetzt vor Zäunen an der mazedonischen Grenze warten, gibt es keinen Weg, der ganz ohne Schuld bleibt. Und doch müssen wir alles versuchen, um den Menschen zu helfen. Wohin mit dem Leid? Wohin mit dem Schmerz? Eines ist zumindest klar. Wir werfen sie nicht auf die Schwächsten, auf diejenigen, die bei uns Schutz und Zuflucht suchen. Genau das ist es nämlich, was heute in Parolen gesagt wird: die Schuld läge bei den Flüchtlingen. Sie würden auf unsere Kosten leben. Die Vorstellung des Sündenbocks, die wir theologisch gerne als antiquiert darstellen, ist heute wieder politisch auf gefährliche Weise präsent. Das eigentlich Erschreckende ist, dass 600 Millionen Europäer nicht in der Lage sind, sich zu einigen, wie eine Million Menschen in Not geholfen werden kann. Was aber passiert, die Notleidenden werden als Sündenböcke zum Problem gemacht. Deswegen sind die Fragen und Deutungen des Hebräerbriefs in dieser Zeit alles andere als veraltet. Wer kann angesichts der Welt, wie sie ist, das Leiden und die Schuld noch tragen? Vielleicht ist es zeitgemäßer als wir manchmal denken, Gott das zuzutrauen. Und uns da hineinzuvertrauen. In Gottes Nähe. Er trägt uns. In Brot und Wein. Er überbrückt die Grenze zwischen Tod und Leben. Er kommt uns entgegen; er segnet uns: mit Frieden und Gerechtigkeit, Salem und 5
Sedek. Davon können wir erzählen. Das können wir nacherzählen, in dieser Welt: Wie Gottes Friede und Gerechtigkeit uns verwandelen. Dann brauchen wir nicht die Schwächsten zu Sündenböcken zu machen, aus Angst und Selbstsorge. Sondern können aus der Kraft und Stärke Gottes leben. Ich hoffe, dass sich viele Christen heute von dieser Stärke des Glaubens leiten lassen. V. Wohin mit dem Leid? Wohin mit dem Schmerz? Das fragt der Hebräerbrief. Ich glaube, es gibt darauf nicht die eine Antwort. Das Vertrauen ins Leben wächst über das Erzählen und Nacherzählen dessen, was Menschen getragen hat und heute trägt. Das beginnt im Gespräch. Zum Beispiel dann, wenn wir uns Zeit nehmen zu erzählen, was es uns bedeutet, dass ein lieber Mensch gestorben ist. Was der Tod mit uns macht und mit unserem Leben. Als christliche Gemeinden bilden wir solche Erzählgemeinschaften. Wir bleiben angesichts des Kreuzes nicht stumm, sondern fragen weiter; deuten weiter; glauben weiter. Und wenn es uns allein zu schwer wird, dann sind da andere, die uns zuhören und vielleicht manchmal auch für uns mit glauben können. Und da ist Christus. Die Passionszeit, in deren Mitte wir uns jetzt befinden, erzählt seine Geschichte: Von Leidenschaft, Vertrauen und Leben! In seine Liebe, in seinen Frieden (salam) und seine Gerechtigkeit, (sedek), wollen auch wir unser Leben hineinerzählen. Amen. 6