Gottesdienst in der Stiftskirche Stuttgart am 20. September 2015 Predigt über Johannes 11,1-4.17-27.38-45 von Prälat Ulrich Mack 1 Es lag einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta. 2 Maria aber war es, die den Herrn mit Salböl gesalbt und seine Füße mit ihrem Haar getrocknet hatte. Deren Bruder Lazarus war krank. 3 Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank. 4 Als Jesus das hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde. 17 Als Jesus kam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. 18 Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa eine halbe Stunde entfernt. 19 Und viele Juden waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders. 20 Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. 21 Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. 22 Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. 23 Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. 24 Marta spricht zu ihm: Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. 25 Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; 26 und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? 27 Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. 38 Jesus kam zum Grab. Es war aber eine Höhle und ein Stein lag davor. 39 Jesus sprach: Hebt den Stein weg! Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen. 40 Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? 41 Da hoben sie den Stein weg. 1
Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. 42 Ich weiß, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sage ich s, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. 43 Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! 44 Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! 45 Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn. Liebe Gemeinde, glaubst du das? Vielleicht fiel Ihnen auf: Diese provozierende Frage steht hier schon mitten in der Geschichte selbst. Sie wird von Jesus an die trauerndverstörte Marta gerichtet. Glaubst du das?, dass einer vier Tage nach der Beerdigung wieder lebendig wird? Einer, den sie mit Leichensalbe eingerieben und in Tücher fest eingebunden haben, einer der längst nach Verwesung riecht? Der soll wieder leben? Medizinisch unfassbar. Biologisch unglaublich. Und doch zu glauben? Eine provozierende Frage damals auf dem Friedhof von Betanien und ebenso auf unseren Friedhöfen. Dann, wenn wieder eine Totenglocke läutet, wenn wieder ein Mensch beerdigt wird, ob er jung oder alt war, ob er plötzlich dahingerafft wurde oder nach langer Krankheit gehen durfte. Es ist der Weg, der uns allen einmal bevorsteht. Irgendwann schlägt jedem die Stunde. Das wissen wir. Nichts ist, so sagen wir, nichts ist so sicher wie der Tod. Vielleicht hat Marta damals auch so gedacht, als sie vom Grab ihres Bruder Lazarus wieder nach Hause kam. Vor vier Tagen hatten sie ihn hineingelegt. Die Blumen welkten schon. Die Friedhofbediensteten hatten längst aufgeräumt. Der große runde Stein verschloss das Grab im Felsen. Es war zu. 2
Aber die Wunde in der Seele war noch offen. Sie blutet in den ruhigen Tagen nach der Beerdigung noch stärker als vorher. Der Bruder Lazarus war tot. Es war aus. Wie hatten sie noch gehofft. Gebetet. Gebangt. So wie wir das auch kennen von den Stunden am Krankenbett zuhause oder in der Intensivstation: Hoffen und beten, dass doch eine Hilfe kommt und sich alles wendet. Aber Jesus hat sich damals merkwürdig viel Zeit gelassen. Er kommt, ja aber erst vier Tage später. Wir können die Marta verstehen. Aus ihren Augen schlägt Jesus eine Mischung aus Fragen und Enttäuschung entgegen, aus Zorn und Ohnmacht: Warum bist du nicht gekommen? Warum nicht? Warum jetzt das Ende? So wie es über manchen Todesanzeigen steht: Wir haben gekämpft und doch verloren. Ist das Ableben nur ein ärztlicher Misserfolg? Der Tod nur eine Niederlage? Sterben nur Verlust? Nein, wenden wir jetzt vielleicht ein und erinnern uns an das, was wir über ewiges Leben gehört haben und dabei geht es uns vielleicht wie der Marta. Als Jesus ihr sagt: Dein Bruder wird auferstehen, da antwortet sie, was sie im jüdischen Konfirmandenunterricht gelernt hat: Ja, ich glaube an die Auferstehung der Toten, ja, irgendwann einmal später. So sagt sie es hin, aber es hilft ihr nicht. Formeln tragen nicht, wenn es um den Tod geht. Fromme Sprüche, die man eben in der Trauer wieder hervorkramt, helfen wenig, wenn man den nicht sieht und kennt, der jetzt zu Marta sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wenn wir die ganze Geschichte ansehen, die ganze Szene in Betanien, dann fällt auf: Der Hauptspot der Erzählung, der stärkste Scheinwerfer beleuchtet gar nicht so sehr das, was dann folgt: Das Wegrollen des Steins, der Ruf Jesu: Komm heraus. Und dann Lazarus in seinen Tüchern: er lebt. Wenn das die Bildzeitung berichtet hätte, dann hätte das eine Sensationsstory der Superlative gegeben, eine Titelgeschichte mit ausführlichen Bildern. Aber das Johannesevangelium berichtet hier auffällig nüchtern. Kein Wort darüber, wie Lazarus aussah. Kein Bild 3
davon, wie er wieder laufen konnte. Kein Exklusivbericht, wie es dem Wiederbelebten ging. Sondern der Spot ist auf den gerichtet, der von sich sagt, dass er das Leben ist, Leben und Auferstehung. Mitten auf dem Friedhof gesagt wie ein Gegenprogramm gegen das Grab. Ein Hoffnungsleuchten gegen Tränen. Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt. So spricht einer, der vor dem Tod nicht kapituliert. Einer, der mit dem Sterben noch lange nicht am Ende ist. So spricht der Stärkere. Da ist zwar der Tod - und Jesu Finger könnten dabei auf das Grab des Lazarus gezeigt haben und auf die Gräber unserer Angehörigen - da ist zwar der Tod, hart und wirklich. Aber hier - und da zeigt Jesus auf sich - hier ist die Auferstehung und das Leben. Ganz souverän klingen diese Worte. Gar nicht bescheiden. Jesus hätte ja auch bescheiden sagen können: Ich bin ein Vertreter der Liebe Gottes und möchte sie zeigen. Oder: Ich bin ein ganz ordentlicher Seelentröster. Aber Jesus zeigt auf sich: Auferstehung und Leben hier in Person. Was bedeutet das? Das Johannesevangelium erzählt die Wiedererweckung des Lazarus nur kurz und beinahe im Vorübergehen - und genau das bezweckt es auch: es will gar nicht, dass wir am Grab des Lazarus stehen bleiben - staunend oder mit Zweifeln und Fragen. Das Evangelium will, dass wir auf Christus sehen. Dass wir in Gedanken mit ihm gehen - von Betanien aus auf den nahen Ölberg und hinüber nach Jerusalem. Gut eine Woche später ist dort vor den Stadttoren ein Kreuz aufgerichtet; und den sie da getötet und dann ins Grab gelegt haben, der wird auf eine noch geheimnisvollere Weise aus dem Grab genommen: Gott ruft ihn am Ostermorgen in ein neues Leben. Durchbruch durch die Todesmacht, Beginn der neuen Schöpfung, Morgenglanz der Ewigkeit. An diesem Morgen, als Jesus sich als der Auferstandene zeigt, da wird erst richtig deutlich, was er gemeint hat auf dem kleinen Friedhof in Betanien: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Kurz vor 4
seiner Verhaftung hatte Jesus seinen Jüngern noch erklärt: Wenn ich erhöht werde von der Erde, dann will ich alle zu mir ziehen - in dieses neue österliche Leben hinein. Die Auferweckung des Lazarus war dafür ein einzigartiges Vorauszeichen, war eine Art Prototyp von Ostern, ein Vorsignal des größeren Wunders am Auferstehungsmorgen. Klar, die Wiedererweckung des Lazarus hat Aufsehen erregt. Jesus musste sich danach verstecken, und in Jerusalem jubelten sie ihm dann als dem Wundertäter von Betanien zu. Aber das Evangelium zeigt: Diese eine Auferweckung war nur das Vorsignal des Größeren. Ein deutlich leuchtendes und ermutigendes Vorsignal. Lazarus kam aus dem Grab wie damals üblich total eingewickelt in Tücher. Wie sollte er darin gehen? Es war, so sagte neulich ein Theologieprofessor, es war ein österliches Sackhüpfen, mit dem er herauskam. Und zu einer Art österlichen Hüpfens will uns die Geschichte einladen, zu einem Herauskommen zu dem, der das Leben ist, zu Christus. Denn wenn wir nur auf Lazarus blicken würden, dann wäre das für uns wenig tröstlich. Dann würden wir fragen: warum passiert mit unseren Verstorbenen nicht dasselbe? Und die ganze Geschichte wäre etwas von gestern und nicht mehr für heute und morgen. Erst wenn wir unseren Blick mitnehmen lassen vom Grab des Lazarus zum leeren Grab Jesu, erst dann verstehen wir diese Geschichte richtig. Jesus will nicht unseren Applaus in Betanien. Er will unseren Glauben am Ostermorgen. Er will, dass wir aufmerksam sind für sein österliches Rufen: Komm heraus! In der Spur des Rufes auf dem Friedhof von Betanien höre ich es für uns so: Komm heraus aus der Höhle deiner Angst, du könntest am Ende das Leben nur verlieren. Der Sieger vom Ostermorgen ruft dich in seine Nähe, lädt ein zum Glauben. 5
Komm heraus aus den engen Sorgenbinden, in die du dich eingewickelt hast und mit denen du nicht mehr richtig gehen kannst. Wage österliche Sprünge hinein ins Vertrauen. Der Auferstandene lässt dich aufstehen heute schon und am Ende der Zeiten. Komm heraus aus dem Grab der egoistischen Enge im Kopf. Du musst nicht gefangen bleiben im Kreisen um dich selbst. Christus will dich in Freiheit gebrauchen. Die Welt braucht Menschen, die seine Liebe weitergeben, an Kranke und Fragende, an Flüchtlinge und an die Familie, an Menschen an deinem Arbeitsplatz auch dort kann etwas vom österlichen Hüpfen spürbar sein. Komm heraus Sie können den Ruf für sich heute und im Lauf der Woche weiterhören. Nein, wir werden damit den Tod nicht beschönigen. Das tut die Geschichte auch nicht. Jesus, so erzählt das Evangelium ausdrücklich, hat auch geweint auf dem Friedhof und er ist denen damit nah, die an den Gräbern heute weinen. Der Tod bleibt schwer, bleibt der letzte Feind, wie Paulus schreibt. Aber der Sieg über den Tod hat schon begonnen. Dazu wurde Lazarus zeichenhaft wiedererweckt. Später ist auch er wieder gestorben. Wie die Wiedererweckung biologisch ging, steht nicht da. Aber unsere Bio-Logie, die Lehre vom Leben, greift zu kurz, wenn wir nur auf das sehen, was wir an Materie greifen können. Leben im Licht von Ostern ist mehr: sich ergreifen lassen von dem, der uns heute ruft: Komm heraus. Von dem, der das Leben ist. Der uns Auferstehungskraft geben kann und der uns in dieser Kraft hält, auch durch den Tod. Glaubst du das? Amen 6
Gebet Heiliger Gott, Vater im Himmel, wir danken dir, dass du Jesus die Macht über Leben und Tod gegeben hast. Du hast ihn auferweckt. Du lässt uns Ostern feiern, auch heute. Wir danken dir für den Sieg des Lebens mitten in einer Welt des Todes. An diesem Sieg können und wollen wir teilhaben. Du siehst die Trauernden. Sei ihnen nahe in allem Schweren. Du kennst die Beladenen. Gib neuen Mut. Du weißt, was in der nächsten Woche für uns alles dran ist. Schenke die nötige Kraft und die richtigen Entscheidungen. Leite uns durch deinen Geist. Für die Flüchtlinge bitten wir, die in Europa neue Heimat suchen. Schenke den politisch Verantwortlichen Weisheit. Stärke alle, die mit helfen, betreuen, schulen und verwalten. Lass die, die zu uns kommen, etwas davon spüren, dass sie in ein christlich geprägtes Land kommen. Für unsere Kirche und alle in ihr Tätigen bitten wir dich: Lass sie geprägt sein von dem, der Leben und Auferstehung ist. Lass dein österliches Licht in unsere Tage leuchten. Amen Vater unser 7