Island als mythischer Ort im Nibelungenlied von Helge Bei der Wieden Die Orte der Kernhandlungen des Nibelungenliedes werden einigermaßen klar bezeichnet. Im ersten Teil ist es der Hof des Burgunderkönigs Gunther und seiner Geschwister in Worms am Rhein. Im zweiten Teil steht der Palast des Hunnenkönigs Etzel im Mittelpunkt. Seine Lage ist nicht so genau zu bestimmen. Er mag in Gran (Esztergom) gestanden haben oder in Etzelnburg ([Alt-] Ofen oder Buda; heute ein Stadtteil von Budapest). Beide Orte liegen an der Donau, etwa 40 km voneinander entfernt. Für die Handlung ist diese Unbestimmtheit ohne Belang. Der unbekannte Verfasser des Nibelungenliedes kannte sich im Donautal zwischen Passau und Wien gut aus, während sonst seine geographischen Vorstellungen recht unsicher sind. Als König Etzel Markgraf Rüdiger nach Worms schickte, damit er um die Hand Kriemhilds anhalte, ritt dieser von Ungarn über Wien zu seinem Heimatort Bechelaren (Pöchlarn an der Donau) und von dort nach Worms (1162, 1165, 1175). Als Kriemhild darauf zu Etzel reiste, bleibt die Wegstrecke bis Passau, wo der Inn in die Donau fließt (1295 f.), wiederum im Dunkeln. Dann aber erfolgen genauere Ortsangaben: Gotelind, die Gemahlin Rüdigers, ritt Kriemhild bis zur Enns entgegen (1300 f.). Diese war inzwischen bis Eferding gekommen und hatte auch die Traun überschritten. (1302, 1304). Die beiden Gruppen trafen sich und zogen nach Bechelaren (1318). Nach einigem Aufenthalt ging es weiter über Melk (1328), Mautern (1329), Traismauer (1332) nach Tulln. Dort empfing Etzel Kriemhild (1341, 1349). Darauf reisten sie nach Wien, wo die Hochzeit stattfand (1365). Über Hainburg (1376) es ging nach Wieselburg (1377, Mîsenburc, Moson) Von hier fuhr man zu Schiff nach der Etzelnburg (1379). Zu Land hätte der Weg durch unbesiedeltes Sumpfgebiet geführt. Dieser genauen Reisebeschreibung steht das Fehlen jeglicher Angaben für die Strecke Worms Passau gegenüber. Hier wußte der Dichter offenbar nicht Bescheid. Um so mehr interessiert es, wenn er neue Namen einführt, die außerhalb des eigentlichen Handlungsrahmens liegen. Es geht hier um Xanten und Island. Mit beiden Orten wird der Nibelungenstoff, so wie wir ihn aus der skandinavischen Überlieferung kennen, im Lied an entscheidenden Punkten geändert. Für die höfische Gesellschaft, der das Nibelungenlied vorgetragen wurde, reichte es nicht, daß Siegfried ein junger Held war, der einen Drachen besiegt und einen Hort erworben hatte. Er mußte auch gesellschaftlich einzuordnen sein. Daher beginnt die zweite Âventiure mit der Strophe: Dô wuohs in Niderlanden eins edelen küneges kint, der vater der hiez Sigemunt, sîn muoter Sigelint, in einer rîchen bürge, wîten wol bekannt, nidene bî dem Rîne: diu was ze Santen genant. (20) Wie der Dichter auf Xanten kam, ist unbekannt. Vielleicht war er Geistlicher und ihm das dortige angesehene Viktorstift bekannt. Zwingend ist das aber nicht. Jedenfalls war die Stadt nie Sitz eines weltlichen Herrschers. Zudem ist dem Verfasser nicht bewußt, daß sie am Rhein liegt. Ihm kam es nur darauf an, einen Ort zu nennen, der in weiter, nicht überschaubarer Ferne im Norden lag. Dort waren ihm Aufsehen erregende Taten wie Drachenkampf und Hortgewinn wahrscheinlich.
Als Siegfried an den burgundischen Hof in Worms kam und schließlich um die Hand von Kriemhild, der Schwester König Gunthers, anhielt, gab es, da man seine Herkunft kannte, keine Vorbehalte gegen ihn. Drachenkampf und sein Reichtum erregten wohl Aufsehen, hätten bei einem Mann, der bei einem Schmied gearbeitet hatte, der aus dem Wald kam, aber wohl nicht für eine Schwägerschaft gereicht. Auch die nordische Dichtung kennt die Eltern Sigurds: Sigurd heiß ich, Sigmund hieß mein Vater heißt es im Lied von Fafnir in der Edda. Gleiches gilt für die Völsunga saga und Snorri Sturlusons Skáldskaparmál. Auch seine Mutter Hjördis nennen diese Dichtungen. Dennoch fehlt eine genaue Ortsbestimmung, wie sie mit Xanten im Nibelungenlied erfolgte. Von den Eltern Brynhilds ist im Norden lediglich der Vater Budli bekannt. Ihre Heimat ist unbestimmt wie die Sigurds. Die Wohnsitze der königlichen Väter galten offenbar als hinreichend durch deren Namen gekennzeichnet. Der Ort, an dem Brynhild hinter einem Flammenwall schläft, wird jedoch Hindarfjall genannt, Berg der Hindin. Ob diesem Namen eine besondere Bedeutung zukommt, sei hier dahingestellt. In der Þiðreks saga lebt Brynhild auf einer Burg ( borg ), die Sægard Seehof heißt. Das ist ein Scheinname, denn jeder Hof an einem See kann so heißen. Im heutigen Deutschland gibt es allein vierundzwanzig Orte dieses Namens. Sie sind meist nur von wenigen Menschen bewohnt, gelegentlich wohl nur Gehöfte. Für den Dichter des Nibelungenliedes war Seehof als Sitz Brunhilds sofern er diesen Namen kannte zu wenig höfisch. Die Burg der stolzen Jungfrau mußte rittermäßiger heißen. Îsenstein erschien ihm geeigneter (382, 384 und noch einmal 476): Eisenstein. -stein kann auch Fels sowie Felsen-, Bergschloß und Feste heißen. Damit kommen wir zu geläufigen Burgnamen. Besonders Eisenberg und Eisenburg waren im deutschen Sprachraum beliebt, aber auch Eisenstein gab es. Außerdem sind sechs Isenburg zu verzeichnen. Doch auch dieser Name war dem Dichter wohl zu alltäglich für das, was er über die Königin Brunhild zu berichten hatte. Sie mußte nicht nur über eine Burg, sondern auch über ein Land regieren. Brunhild besonders als Besitzerin eines Gestüts zu schildern, wie es die Þiðreks saga tut, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Der Îsenstein wurde daher mit Îslant verbunden, indem man die zweite Silbe strich und der Burg ein Land hinzufügte. Island wird zum erstenmal genannt, als Brunhild den Burgunden entgegengeht, um sie zu begrüßen (416). Abgesehen von der Strophe 476, wo die Burg Brunhilds gemeint ist, bleibt es von nun an bei diesem Namen. Neben die Burg Isenstein trat Island als Herrschaftsgebiet. Und so heißt es dann von Brunhild: Ez was ein küneginne gesezzen über sê (326). Dabei meint die Wendung über sê nicht den Landsee, sondern das Meer. Aber konnte im 13. Jahrhundert ein Geistlicher, der in Bayern lebte, überhaupt von Island wissen? Wenn er einem Bildungszentrum nahe war, hatte er die Möglichkeit dazu. Allerdings fragt es sich, wie genau oder wie sagenhaft diese Berichte waren. Bereits im 11. Jahrhundert entstand in Bayern der Merigarto (die vom Meer umgebene Welt), eine Erdbeschreibung, die als Fragment erhalten ist. In ihr wird in einem deutschen Text zum erstenmal Island erwähnt. Der Dichter berichtet von einem Geistlichen Reginbrecht in Utrecht. Dieser sei mehrmals nach Island gefahren und habe dabei großen Reichtum erworben durch den Handel mit Mehl, Wein und Erlenholz. Allerdings erzählt er auch Verwunderliches: Auf Island scheine nie die Sonne, und mit Eis koche und heize man so wurde die Stelle verstanden. Diese Aussagen haben viel Kopfzerbrechen verursacht. Sie mögen aber der vergröbernden Darstellung durch einen Dritten geschuldet sein. Die Bemerkung über den fehlenden Sonnenschein ist keine wissenschaftliche
Feststellung, sondern die verärgert-verwunderte Aussage eines Reisenden wie etwa In Hamburg regnet es immer. Das ist zwar objektiv falsch, mag aber subjektiver Erfahrung entsprechen. Im zweiten Fall wird gesagt, daß wegen des geringen Sonneneinfalls, d. h. wegen der Kälte, daß Eis so fest werde, daß man darauf kochen könne. Das im Text dann folgende dâ mite bezieht sich aber auf Feuer, nicht auf das Eis, sonst wäre der anschließende Hinweis auf den Preis des Erlenholzes sinnlos. Entsprechendes gilt auch für den Bericht über Island, ebenfalls aus dem 11. Jahrhundert, den der Kleriker Adam von Bremen in seiner Geschichte der Hamburgischen Kirche bietet. Er führt aus, wie Erzbischof Adalbert in Bremen von Gesandten der Isländer, Grönländer, Göten und von den Orkneys aufgesucht wurde, die ihn baten, Glaubensboten zu ihnen zu senden. Der erste Isländer, der für seine Heimat zum Bischof geweiht wurde, Isleif Gissursson, erhielt seine Weihe in Bremen. So erhielt Adam Nachrichten aus erster Hand. Wenn manches in seiner Darstellung Verwunderung erregt oder Zweifel weckt, so mag dies auf Mißverständnis beruhen oder durch den Charakter der Bischofsgeschichte bestimmt sein. Weitere Nachrichten über Island brachten Pilger, die nach Rom oder ins Heilige Land reisten, wenn von ihren Erzählungen auch heute keine davon Spuren mehr greifbar sind. Und schließlich gab es den Handel mit einem Luxusgut, der von Island bis Sizilien reichte. Kaiser Friedrich II. geht in seinem Falkenbuch auf die Nistplätze der Vögel auf Inseln im Nordmeer ein. Er erwähnt Island und schreibt: Die von dort herstammenden Falken sind die besten von allen. Aus all diesem erhellt, daß im hohen Adel und in der hohen Geistlichkeit in Deutschland Kenntnisse über Island vorhanden sein konnten. Es ist aber nicht auszumachen, wie weit diese sich wirklich erstreckten und wie genau oder wie märchenhaft sie waren. Der Dichter des Nibelungenliedes und die Hofgesellschaft, mit der er lebte, hatten von der Insel im Norden gehört. Da sich des Dichters sichere geographische Kenntnisse aber nur auf das Donautal erstreckten, dürfte Island für ihn in nebliger Ferne gelegen haben. Dies war für ihn und seine Zuhörer ein Ort, der zwar noch zum christlichen Kulturkreis gehörte, wo aber Unerhörtes möglich war und auch geschehen konnte. Gunther, Siegfried, Hagen und Dankwart fuhren zu Schiff von Worms den Rhein hinab zur See. Siegfried hatte die Führung übernommen, da er allein den Weg zu Brunhild kannte. Nach symbolischen zwölf Tagen erreichten sie Isenstein (377-382). Von der Rheinmündung war Island in Küstenfahrt bis Mittelnorwegen und dann über See zu erreichen. Von dem Dichter war keine Segelanweisung zu erwarten. Es fällt allerdings auf, daß er meint, mit einem Flußschiff sei auch eine Hochseefahrt anzutreten gewesen. Hatte man sich schon in Worms Wunder von dem Reichtum an Brunhilds Hof erzählt und sich entsprechend in Seide aus Arabien, Marokko und Libyen, weißen Hermelin und schwarzen Samt, mit Gold und Edelsteinen besetzt, gekleidet (343 366), so mußte Gunter doch voller staunender Verwunderung den Reichtum von Brunhilds Land wahrnehmen: Dô der künec Gunther sô vil der bürge sach und ouch die wîten marke, wie balde er dô sprach: sagt mir, friwent Sîvrit, ist iu daz bekant, wes sint dise bürge und ouch daz hêrlîche lant? (383)
Ine hân bî mînen zîten, ine wolde lüge jehen, so wol erbowen bürge mêre nie gesehen in deheinem ein lande, als ir hie vor uns stat. er mach wol wesen rîche, der sie hie gebowen hat. (C 392) Bedenkt man, daß mittelhochdeutsch burc nicht nur Burg, sondern auch Stadt bedeutet, kann man die Fassungslosigkeit des rîchen Königs Gunther verstehen. Siegfried bestätigt ihm, was eigentlich klar sein sollte: ez ist Prünhilde liute und lant / und Îsenstein diu veste (384). Der Dichter hat uns in ein Fabelland geführt, das mit dem wirklichen Island nur den Namen gemein hat. Hier konnte Brunhild als Königin aus eigenem Recht herrschen. Sie führte nicht etwa die Regentschaft für ihren abwesenden Ehemann oder ihren minderjährigen Sohn. Auch war sie nicht die minderjährige Erbin einer Krone, die sie formal bis zur Eheschließung trug. In der Tat gab es regierende Königinnen, aber erst im späteren Mittelalter. Zu denken ist dabei in erster Linie an Margarete I. von Dänemark (1387 1412). Erwähnt seien aber auch Johanna I. (1343 1381) und II. (1414 1435) aus dem Hause Anjou, die Königinnen von Neapel waren. Diese wie alle weiteren regierenden Königinnen standen in verwandtschaftlichen und schwägerschaftlichen Beziehungen. Brunhild im Nibelungenlied hatte aber keinen deutlichen familiären Hintergrund. Als sie mit Gunther nach Worms aufbrach, fragte sie: wem lâz ich mîniu lant? und antwortete selbst: diu sol ê hie bestiften mîn unt iuwer hant. Ihr Königreich wurde also einem Landvogt übergeben, der als naher Verwandter und als ir muoter bruoder bezeichnet wurde. Ein Name wurde ihm nicht gegeben (522 f.). Mehr erfahren wir nicht über ihn und andere Verwandte Brunhilds. Sie konnte über ihr Königreich verfügen und es Gunther übertragen, ohne irgendwelche Ansprüche von Angehörigen berücksichtigen zu müssen. Damit war ihre Stellung einzigartig. Das gilt aber auch für ihre Persönlichkeit. Brunhild wurde nicht durch einen männlichen Verwandten verheiratet wie es üblich war. Sie entschied selbst über ihren künftigen Ehemann und stellte auch die Bedingungen, die er erfüllen mußte. Dabei ging es nicht um gesellschaftliches Ansehen, Reichtum und die Absicherung ihres Lebens, sondern um die Forderung, ihr an körperlichen Kräften und an Gewandtheit überlegen zu sein. Das war unerhört. Das Nibelungenlied entstand in der Zeit der Blüte des Minnesangs. In diesem höfischen Spiel wurde die Frau zu einem Ideal emporgehoben, dem der Ritter seinen Dienst weihte, ohne wirklich auf Erhörung hoffen zu können. Brunhild war nicht tugenthaft, reich an feiner Sitte, liebenswürdig. Ihre Bedingungen waren hart: Den stein den warf si verre, dar nâch si wîten spranc. swer ir minne gerte, der muose âne wanc driu spil an gewinnen der frouwen wol geborn. gebrast im an dem einen, er hete daz houbet sîn verlorn. (327) Es war Vermessenheit von König Gunther, sich auf diesen Wettstreit einzulassen. Brunhilds Erwartungen waren so hoch, damit nur einer sie erfülle, Siegfried. Das wird aber im Nibelungenlied nicht mehr deutlich. Siegfried war es denn auch, der für Gunther diesen Kampf bestand. Beide hatten von vornherein die Absicht, die Königin zu betrügen. Siegfried führte Gunther nicht nur zum Wohnsitz Brunhilds, sondern er nahm auch seine Tarnkappe mit (336). Dreifach war die Täuschung, der sich Siegfried Brunhild gegenüber schuldig machte: Er gab sich
als Lehnsmann Gunters aus (420), er überwand unerkannt die Königin und das gelang ihm nur, weil die Tarnkappe ihm die Kraft von zwölf Männern zusätzlich verlieh (337). Die Schilderungen der siebten Âventiure zeigen diesen ungleichen Kampf. Das Gefühl, dem falschen Mann gegenüber zu stehen, gaben Brunhild zusätzliche Kraft, so daß auch der richtige ihr nur mit unlauteren Mitteln nicht unterlag. So rettete König Gunther seinen Kopf und erlangte ihre Einwilligung zur Ehe mit ihm. Dieses unehrenhafte Handeln tat Gunther und Siegfried keinen Abbruch an ihrem Ansehen. Es wurde nicht entdeckt. Das war nur möglich, weil es auf Island geschah, einem Ort, von dem man wußte, daß es ihn gab und der zur Christenheit gehörte, der aber so fern, weitab im nebligen Norden lag, daß man sich dort das Unglaublichste als möglich vorstellen konnte. Als Gunther in Worms, in höfischer Umgebung, Siegfried wieder um Hilfe anging, weil Brunhild sich ihm verweigerte, wurde das bekannt und führte zur Katastrophe. Die Vorgänge auf Island spielten dabei keine Rolle. Sie waren dort geschehen, wo die sittlichen Normen der ritterlichen Gesellschaft nicht als geltend angesehen wurden. Erstveröffentlichung dieses Artikels in Island (2/2008), der Zeitschrift der Deutsch- Isländischen Gesellschaft e.v., Köln und der Gesellschaft der Freunde Islands e.v., Hamburg. http://www.islandgesellschaft.de Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.