Praktikum 6: Umwandlungsverhalten von Stahl Aufgabenstellung Im Praktikumsversuch sollen grundlegende Kenntnisse zum Umwandlungsverhalten von Stählen vermittelt werden. Mit Phasenumwandlungen im festen Zustand werden die mechanischen Eigenschaften von Stählen in starkem Maße beeinflusst. Eine wichtige Anwendung ist das so genannte Härten von un- und niedrig legierten Stählen, wobei der Austenit durch eine diffusionslose (athermische) Umwandlung in Martensit überführt wird (Abschrecken des Austenits). Im Praktikum wird außerdem der Einfluss der Abkühlungsgeschwindigkeit auf das entstehende Gefüge an Hand von Härtemessungen verfolgt. Die Gefüge werden aus dem dazugehörenden ZTU Diagramm entnommen. Durchführung 1. Härten - Einfluss des Kohlenstoffgehaltes auf die erreichbare Härte Proben der Stähle C15; C45 C60, C100 werden einheitlich bei 890 C, 5 min + Durchheizzeit (max. 20 min) austenitisiert. Alle Proben werden in Wasser abgeschreckt. An allen Proben ist die Makrohärte HV30 zu messen und grafisch als Funktion des Kohlenstoffgehaltes darzustellen (Anhang). Proben der Stähle C15 und C100 werden anschließend in flüssigem Stickstoff abgeschreckt. Die Härte ist erneut zu messen. Erläutern Sie, warum das Abschrecken in flüssigem Stickstoff bei den beiden Stählen zu unterschiedlichen Ergebnissen führt! 2. Anlassen Acht Proben des Stahles C60 werden nach der Wasserabschreckung angelassen. Um den Anlasszustand einzufrieren werden die Proben nach dem Anlassen wieder in Wasser abgeschreckt. T anl = 100, 200, 300, 400, 500, 600 und 700 C; t anl = 45 min; Luft An allen Proben ist die Makrohärte HV30 zu messen. Der Abbau der Härte mit zunehmender Anlasszeit ist grafisch darzustellen (Anhang). Erläutern Sie die inneren Vorgänge, die zum Härteabnahme führen. 3. Einfluss der Abkühlungsgeschwindigkeit Proben des Stahles 50CrV4 werden bei T A = 890 C, 5 min + Durchheizzeit (max. 20 min) austenitisiert. Anschließend erfolgt eine kontinuierliche Abkühlung - im Ofen, - an Luft, - im Ölbad, - in Wasser, - in Salzwasser. An allen Proben sind bei Raumtemperatur Makrohärtemessung HV 60 durchzuführen. Markieren Sie die Abkühlkurven im kontinuierlichen ZTU-Diagramm des Stahles (Anhang) und diskutieren Sie die bei der Abkühlung entstehenden Gefüge. 47
Werkstoffwissenschaftliche Basis Eigenschaften von Stählen können durch verschiedene Wärmebehandlungsverfahren verändert werden. Unter dem Begriff Wärmebehandlung versteht man eine Folge von Wärmebehandlungsschritten (Erwärmen, Halten, Abkühlen) in deren Verlauf ein Werkstück ganz oder teilweise Zeit-Temperatur-Folgen unterworfen wird, um eine Änderung des Gefüges und/oder seiner Eigenschaften herbeizuführen. Eine große Rolle spielen das Härten und das Vergüten, weil damit die Eigenschaftskombination Härte - Zähigkeit variiert und dem Anforderungsprofil angepasst werden kann. Beide Verfahren beruhen auf der beschleunigten Abkühlung des Stahles aus dem Austenitgebiet. Der erste Wärmebehandlungsschritt ist deshalb das Austenitisieren, d.h. das Teil wird auf eine Temperatur oberhalb der G-O-S-E-Linie im EKD erhitzt und so lange gehalten, bis ein homogener Austenit vorliegt. Die Temperatur entlang der G-O-S-E-Linie wird mit A 3 bezeichnet. Analog dazu erhält die Eutektoidale bei 723 C die Bezeichnung A 1. Die A 1 und die A 3 -Temperatur verschieben sich zu niedrigeren Werten mit zunehmender Abkühlgeschwindigkeit (Bild 1). Gleichzeitig ändern sich die erhaltenen Gefüge, die Festigkeit bzw. Härte steigt und die Zähigkeit nimmt ab. Bild 1: Einfluss der Abkühlgeschwindigkeit [4] Beim Härten wird das Bauteil unter solchen Bedingungen von der Austenitisierungstemperatur abgekühlt, dass eine Härtezunahme durch mehr oder weniger vollständige Umwandlung des Austenits in Martensit oder gegebenenfalls in Bainit erfolgt. Die Perlitbildung muss vollständig unterdrückt werden. Hierzu muss die Abkühlungsgeschwindigkeit v > v krit. sein. v krit. hängt von der Legierungszusammensetzung des Stahls ab. Nach dem Härten erfolgt meist ein Anlassen bei niedriger Temperatur, um Härtespannungen, die zum Verzug oder zur Rissbildung führen können, abzubauen. Die Fähigkeit eines Stahles in Martensit bzw. in Bainit umzuwandeln wird als Härtbarkeit bezeichnet. Das Anlassen ist eine Wärmebehandlung im Anschluss an das Härten, wobei die Härte abund die Zähigkeit zunehmen. Es besteht aus einem ein- oder mehrmaligen Erwärmen auf vorgegebene Temperatur (< A c1 ), Halten auf dieser Temperatur und anschließendem zweckentsprechenden Abkühlen. Man unterscheidet nach den inneren Vorgängen verschiedene Anlassstufen: 1. Anlassstufe T > 100 C 2. Anlassstufe T = 230 bis 280 C nur bei Stählen mit Restaustenit 3. Anlassstufe 4. Anlassstufe T = 260 bis 280 C T = 400 bis < 700 C Sinnvoll nur für hochlegierte Stähle! Hier kommt es zu einem erneuten Härteanstieg durch Ausscheidung legierter Karbide. Bei unlegierten Stählen kommt es zur Kornvergröberung des Ferrits und zum Einformen und Vergröbern des Zementits. 48
Unter Vergüten versteht man eine Kombination aus Härten und Anlassen bei höherer Temperatur. Über die Anlasstemperatur lässt sich die Zähigkeit variieren. Austenitzerfall Die Phasenumwandlung des Austenits (kfz) zu Ferrit (krz) und Perlit (Eutektoid) entsprechend dem EKD erfolgt nur bei langsamer Abkühlung (s. Bild 1). Mit zunehmender Abkühlungsgeschwindigkeit wird die Diffusion der Fe-Atome immer stärker eingeschränkt. Zunächst wird der Perlit feinstreifiger und damit härter. Dem schließt sich die Bainitbildung an. Im Bainit ist der Zementit in Form kleiner Karbide ausgeschieden. Die lamellare Anordnung des Zementits tritt nicht mehr auf. Durch sehr schnelles Abkühlen (Abschrecken) wird auch die Kohlenstoffdiffusion unterbunden. Es entsteht über eine diffusionslose Phasenumwandlung Martensit. Es wird die höchste Härte erreicht. Wird nicht der gesamte Austenit umgewandelt so bleibt der Rest als Restaustenit im Gefüge. Da Austenit weicher ist als Martensit, nimmt die Härte mit zunehmenden Anteil an RA wider ab. Martensitbildung Die diffusionslose martensitischen Umwandlung erfolgt durch kooperative Scherbewegung einer großen Gruppe von Atomen, wobei keines seinen Nachbarn wechselt (Umklappen des Gitters). Nach der Scherung steht der umgewandelte Gitterbereich unter großen Spannungen, die eine Gestaltsanpassung erzwingen. Diese Gestaltsanpassung kann durch Gleitung (besonders bei Stählen) oder durch Zwillingsbildung (besonders in Formgedächtnislegierungen) erfolgen. Die Gestaltsanpassung durch Gleitung entspricht einer plastischen Verformung. Demzufolge ist in diesem Martensit die Versetzungsdichte sehr hoch. Obwohl eine neue Kristallstruktur entsteht, sind die Atome noch von den gleichen Nachbarn umgeben. Deshalb gibt es kristallografische Zusammenhänge (Orientierungsbeziehungen) zwischen Ausgangs- und Martensitphase. In Fe-C-Legierungen besetzt der Kohlenstoff die Oktaederlücken im kfz. Austenit. Wird die C-Diffusion bei der Phasenumwandlung unterdrückt, so bleibt der Kohlenstoff auch in der krz-phase in den Oktaederlücken. Da aber die Besetzung der Lücken besonders in Richtung der c-achse erfolgt, wird das krz. Gitter tetragonal verzerrt. Die Verzerrung nimmt mit steigendem Kohlenstoffgehalt zu. Eine sehr stark vereinfachte Vorstellung, wie im Falle von Fe-C-Legierungen das verzerrte Martensitgitter aus Bild 2: BAIN sches Modell [2] dem Austenitgitter entsteht, liefert das BAIN sche Modell (Bild 2). In zwei kfz-elementarzellen des Austenits ist die tetragonal-raumzentrierte Elementarzelle des Martensits enthalten. Das Modell zeigt auch den Erhalt der Nachbarschaftsbeziehungen. Martensit hat ein größeres Volumen als der Austenit, aus dem er entsteht. Es treten sehr hohe Druckspannungen auf, die eine hohe Versetzungsdichte im Martensit erzeugen (Gestaltsanpassung). Bild 3: Einfluss des C-Gehaltes Die Martensitbildung beginnt bei der Martensit-Start- auf die Lage von M s und Temperatur M S und ist bei der Martensit-Finish- M f [5] Temperatur M f abgeschlossen. Die Lage der beiden Temperaturen wird nur vom Kohlenstoffgehalt bestimmt (Bild 3). 49
Wie viel Martensit gebildet wird, hängt allein von der Temperatur zwischen M S und M f ab. In Bild 3 ist zu sehen, dass ab einem C- Gehalt von 0,6 ma.-% beim Abschrecken auf Raumtemperatur keine vollständige Martensitumwandlung auftritt. Mit zunehmendem Kohlenstoffgehalt tritt also mehr Restaustenit auf (s. auch Bild 4). Auch die Erscheinungsform (Morphologie) des Martensits ändert sich mit steigendem Kohlenstoffgehalt (Bild 4). Der für Stähle mit niedrigem bis mittleren Kohlenstoffgehalt charakteristische Martensit besteht aus Paketen paralleler Martensitlatten (Lattenbreite = 0,1-1 µm). In einem Austenitkorn können mehrere Pakete gebildet werden, die meist miteinander Großwinkelkorngrenzen bilden. Zwischen den Paketen tritt kein Restaustenit auf. Dieser Martensit wird als Lattenmartensit oder Massivmartensit bezeichnet. Bei C-Gehalten größer als 0.6 Prozent entsteht ein nadliges Gefüge mit einer unregelmäßigen Anordnung von unterschiedlich großen Platten. Große Nadeln haben oft eine Mittelrippe. Zwischen den Platten liegt viel Restaustenit. Diese Erscheinungsform wird als Plattenmartensit oder Nadelmartensit bezeichnet. Der gebildete Martensit ist hart und spröde. Bild 5 zeigt einen Vergleich der Härte für abgeschreckte und langsam abgekühlte Stähle. Die Ursachen für die hohe Härte sind: elastische Gitterverzerrung durch den zwangsgelösten Kohlenstoff (Hauptursache), große Anzahl von Grenzflächen, hohe Versetzungsdichte. Bild 4: Einfluss des C-Gehaltes auf Lage der M s -Temperatur und des Volumenanteils an Lattenmartensit und Restaustenit Man kann die Härte aus dem C-Gehalt wie folgt anschätzen: ( 0,36 + 0,5 ma. % ) 100 HRC = C Bild 5: Härte in Abhängigkeit vom C-Gehalt und der Abkühlgeschwindigkeit Zeit-Temperatur-Umwandlungsdiagramme Das Umwandlungsverhalten von Werkstoffen wird mit Zeit-Temperatur-Umwandlungsdiagrammen (ZTU-Diagramm) dargestellt. Sie sind die Grundlage für die Wärmebehandlung der Stähle (z.b. Perlitbildungen, Härten, Vergüten) und auch anderer Legierungen, die Umwandlungen im festen Zustand aufweisen. Sie gelten stets für eine Stahlzusammensetzung und für definierte Austenitisierungsbedingungen. Beides ist im Diagramm vermerkt (s. ZTU- Diagramme im Anhang). 50
ZTU-Schaubilder werden aufgestellt für: kontinuierliche Abkühlung (kontinuierliches ZTU-Diagramm) isotherme Umwandlung (isothermes ZTU-Diagramm) Bei beiden Diagrammen ist die Zeit auf der Abszisse logarithmisch aufgetragen. Die Ordinate stellt die Temperaturachse dar. Die eingezeichneten Linien begrenzen Felder, denen bestimmte Gefüge zugeordnet sind. Die Linien selbst stellen Beginn und Ende der Phasenumwandlung dar. Die Lage der Linien hängt von der Stahlzusammensetzung ab, d.h. sie kann über Zugabe von Legierungselementen verändert werden. Zum Beispiel verschiebt Mangan den Beginn der Perlitumwandlung zu langen Zeiten. Dadurch können auch größere Durchmesser gehärtet werden, weil dann auch im Kern die kritische Abkühlungsgeschwindigkeit erreicht wird. ZTU-Diagramme mit kontinuierlicher Abkühlung enthalten zusätzlich Abkühlungskurven an deren Ende häufig die bei dieser Abkühlungsgeschwindigkeit erhaltene Härte vermerkt ist. Die unterschiedlichen Abkühlungsgeschwindigkeiten ergeben sich durch das verwendete Kühlmedium. Die Diagramme sind grundsätzlich entlang der Abkühlungskurven zu lesen (Bild 6). Die isothermen Diagramme liefern Informationen zur Gefügebildung, wenn man ausgehend von der Austenitisierungstemperatur auf eine bestimmte Temperatur abschreckt und bei dieser die zeitliche Entwicklung des Gefüges verfolgt. Eine halbempirische Gleichung zur Beschreibung des umgewandelten Volumenanteiles unter isothermen Bedingungen liefert die Avrami-Beziehung: M t = 1 exp ( K t n ) Bild 6: Schematische Darstellung eines kontinuierlichen ZTU- Diagramms Bild 7: Kinetik der isothermen Perlit-Umwandlung eines C100 bei 700 C Dabei ist M t der zum Zeitpunkt t umgewandelter Anteil des Gefüges, K ist eine temperaturabhängige Konstante, t steht für die Zeit und n ist ein Exponent. Bild 7 zeigt die Kinetik einer Perlitumwandlung bei isothermer Umwandlung. In der Praxis sind zur Einstellung der unterschiedlichen Gefüge unterschiedliche Abkühlungsgeschwindigkeiten bzw. Haltezeiten bei definierten Temperaturen notwendig. Bild 8 zeigt als Beispiel für einen eutektoiden Stahl die Zeit- Temperatur-Verläufe für Härten (100 % Martensit), Bainitvergüten und Perlitglühen. Bild 8: Schematische Darstellung der Abkühlkurven für Härten (1), Perlitglühen (2), Bainitvergüten (3) 51
Anhang: zu 1. Härten - Einfluss des Kohlenstoffgehaltes auf die erreichbare Härte Härte HV 30 nach Stahl Abschrecken in Wasser Abschrecken in fl. N 2 C15 C45 C60 C100 Härten Härte HV 30 1000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 1,4 C-Gehalt [ma.-%] 52
zu 2. Anlassen Anlasstemperatur [ C] RT 100 200 300 400 500 600 700 Härte HV30 Härte HV30 1000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0 Anlassen 0 100 200 300 400 500 600 700 800 Anlasstemperatur [ C] zu 3. Einfluss der Abkühlungsgeschwindigkeit Abkühlmedium Ofen Luft Ölbad Wasser Salzwasser Härte HV60 53
Kontinuierliches ZTU-Diagramm des Stahls C 60 54
Kontinuierliches ZTU-Diagramm des Stahls 50 CrV 4 Isothermes ZTU-Diagramm des Stahles 50 CrV 4 55