Inhaltsverzeichnis Nationalsozialistische Verfolgung der deutschen Juden 3 Von 1933 bis zum Kriegsbeginn 1939 6 Weitere Ausgrenzung und Entrechtung
Nationalsozialistische Verfolgung der deutschen Juden Von 1933 bis zum Kriegsbeginn 1939 Boykottaktion der Nationalsozialisten gegen jüdische Geschäfte, vor dem Berliner Kaufhaus Wertheim. Filmleute warten auf Publikum Unmittelbar nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 inszenierten NSDAP- Funktionäre spontane Proteste gegen jüdische Beamte, störten Gerichtsverhandlungen und forderten in Zeitungsartikeln und Leserbriefen die Entfernung jüdischer Juristen aus ihren Berufen. Diese wurden aus ihren Praxen geprügelt, beraubt, teilweise aus Deutschland vertrieben oder ermordet. Am 1. April 1933 organisierte das Regime mit Hilfe der SA den sogenannten Judenboykott, bei dem jüdische Geschäfte, Kanzleien und Arztpraxen vielfach zertrümmert und die Inhaber verprügelt wurden. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 legalisierte die bisherigen wilden Berufsverbote für Juden, indem es die Entlassung aller jüdischen Beamten vorsah. Auf einen Eingriff des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg hin wurden davon die Juden ausgenommen, die schon vor 1914 im Staatsdienst gewesen waren, im Ersten Weltkrieg gekämpft oder dabei Angehörige verloren hatten ( Frontkämpferprivileg ). Von nun an wurden Juden auch aus allen Ehrenämtern entfernt; sie erhielten nur noch begrenzten Zugang zu Schulen und Universitäten; jüdische Steuerberater verloren ihre Zulassung. Im April 1933 wurden zudem das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7. April, die Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen vom 22. April sowie das Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25. April erlassen. Die ersten Morde an Juden in einem NS-Konzentrationslager erfolgten vermutlich am 12. April 1933 in Dachau. Von Januar bis Juni 1933 der Phase der nationalsozialistischen Revolution verließen etwa 25.000 deutsche Juden ihre Heimat. Bei einer Volkszählung vom 16. Juni 1933 lebten 499.682 Personen mosaischen Glaubens 0,77 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland, davon 98.747 mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Diese wiederum waren zu über 70 % Bürger osteuropäischer Staaten, vor allem Polen, 12 % waren Österreicher. 1935 verschlechterte sich die Lage vieler jüdischer Bürger nochmals drastisch: Sie wurden nicht mehr zu Prüfungen als Ärzte und Apotheker zugelassen und vom Wehrdienst ausgeschlossen. Zahlreiche Berufsverbände erteilten für sie mitsamt ihren Ehegatten Berufsverbote, z. B. als Haushaltshilfen, Gewerbelehrer, Kirchenmusiker, Kunst- und Antiquitätenhändler, Kinobetreiber, Schwimmmeister. Im Juli kam es zudem in Berlin zu erneuten Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte. Im September zementierten die Nürnberger Gesetze die rassistische Diskriminierung: Das Reichsbürgergesetz beließ deutschen Juden zwar die deutsche Staatsbürgerschaft, wertete diese aber ab, indem nur Arier die Reichsbürgerschaft mit dem Privileg des Wahlrechts und voller Bewegungsfreiheit erhielten. Das Blutschutzgesetz verbot die Eheschließung und 3
selbst außereheliche Sexualität zwischen Juden und Ariern. Dabei war zunächst unklar, wer als Jude zu gelten habe: Die Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz definierte dann Volljuden als Personen mit mindestens drei, jüdische Mischlinge mit einem oder zwei jüdischen Großelternteilen. Auch wer zur jüdischen Glaubensgemeinschaft gehörte, galt als Volljude ; wer nach Erlass des Gesetzes in diese eintrat, mit einem jüdischen Bürger verheiratet war oder aus einer Mischehe gezeugt wurde, galt rechtlich als Volljude (sogenannter Geltungsjude). Der biologisch definierte Rassebegriff ließ sich also juristisch nur durch Rückgriff auf nichtbiologische Merkmale wie die Religionszugehörigkeit fassen. Wegen der Aufmerksamkeit des Auslands während der Olympischen Sommerspiele wurden 1936 keine weiteren Gesetze gegen Juden erlassen, und selbst die Alltagsschikanen traten für knapp zwei Jahre in den Hintergrund. Ab 1938 verschärfte das Regime die Entrechtung und Diskriminierung der Juden dann enorm. Am 5. Januar 1938 zwang das Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen Juden, aus einer bestimmten, eng begrenzten Zahl typisch jüdischer Vor- und Zunamen ihren Erst- oder Zweitnamen zu wählen. Jüdische Bürger, die nicht einen typisch jüdisch klingenden Vornamen führten, wurden verpflichtet die Annahme des Vornamens Israel bzw. Sara zu beantragen ( Namensänderungsverordnung). [10] Ab Februar erhielten jüdische Betriebe und Haushalte geringere Zuteilungen an Rohstoffen und Devisen. Dort durften auch keine deutschblütigen Frauen mehr arbeiten. Sie erhielten ab März keine öffentlichen Aufträge mehr und mussten ab dem 26. April ihr gesamtes Vermögen dem Staat offenlegen ( anmelden ). Damit begann die Arisierung von Unternehmen in jüdischem Besitz. Die staatliche Sozialfürsorge für Juden wurde eingestellt; fortan mussten jüdische Wohlfahrtspflegevereine diese tragen. Nach den Elektrikern und Gasinstallateuren verloren ab September 1938 alle noch tätigen jüdischen Ärzte ihre Approbation, im November folgten die Rechtsanwälte, im Januar 1939 die Apotheker, Zahn- und Tierärzte. Alle jüdischen Börsen und Großmärkte wurden geschlossen. Jüdische Schüler durften nicht mehr zusammen mit deutschen Mitschülern das Abitur machen. Jüdische Stiftungen mussten ihre Satzungen dahingehend ändern, dass sie nur noch der Auswanderung der Juden dienen sollten. Mit dem Anschluss Österreichs begann zugleich eine neue Stufe der Eskalation: Nun erhielten einfache NSDAP-Mitglieder Gelegenheit, Juden zu enteignen, um deren Enteignung und Vertreibung im nun Großdeutschen Reich zu beschleunigen. In Wien z. B. wurden tausende jüdische Geschäftsinhaber aus ihren Läden und Wohnungen geprügelt, manche auf der Straße misshandelt und gezwungen, die Straßen mit den Händen zu kehren. Im Juni wurden in Berlin etwa 1600 Juden verhaftet und in KZs eingewiesen. Reiche jüdische Bürger wie der Bankier Louis Nathaniel von Rothschild wurden in Einzelhaft gehalten, bis sie ihr Vermögen gegen eine Ausreiseerlaubnis dem Reich überschrieben. Kurz darauf kam es zu einer ersten großen Fluchtwelle meist mittelloser jüdischer Deutscher aus dem Reichsgebiet, vor allem in die Schweiz. Die Schweiz drohte in der Reaktion Deutschland die allgemeine Visumspflicht an. Daraufhin wurde auf Vorschlag der deutschen Behörden der Judenstempel eingeführt: Mit dessen Hilfe wurde die angedrohte allgemeine Visumspflicht durch die Schweiz auf Kosten einer weiteren Stufe der Entrechtung der Juden abgewendet [11] : Die Verordnung über Reisepässe von Juden [12] legte fest, dass alle jüdischen Reisepässe ohne das Stempelzeichen J [13] ungültig sind. Einem österreichischen Zeitungsbericht zufolge wurden die Reisepässe jüdischer Bürger schon einige Jahre vorher mit dem Vermerk Nur im Inland 4
gültig. Berechtigt nicht zur Grenzüberschreitung versehen. [14] Diese und weitere Restriktionen verhinderten nach Kriegsbeginn 1939 die Aufnahme tausender fluchtwilliger Juden in der Schweiz, was für die meisten Betroffenen einem Todesurteil gleichkam. Auch andere europäische Staaten erschwerten nun die Einreise für Immigranten aus Deutschland. Polen fürchtete im Frühjahr 1938, dass im Zuge des Anschlusses Österreichs ans Deutsche Reich die rund 20.000 in Österreich lebenden Juden polnischer Nationalität nach Polen zurückkehren wollten und stellte daher die Gültigkeit der Pässe aller Auslandspolen in Frage, wenn diese länger als fünf Jahre ohne Unterbrechung im Ausland gelebt hatten. [15] Ein so lautendes Gesetz trat am 31. März 1938 in Kraft, wurde aber vorerst nicht angewendet. Am 15. Oktober, unmittelbar nach dem Münchner Abkommen, wurde jedoch eine Verordnung erlassen, wonach im Ausland ausgestellte polnische Pässe nur noch in Sonderfällen zur Einreise berechtigten. Die betroffenen Personen sollten nach Absicht der polnischen Regierung per 30. Oktober ihre polnische Staatsbürgerschaft verlieren. Deutschland, wo rund 50.000 Juden die polnische Staatsbürgerschaft besaßen, wäre es danach unmöglich gewesen, diese Juden abzuschieben. [15] Nachdem Verhandlungen zwischen Berlin und Warschau erfolglos blieben, gab das Auswärtige Amt die Angelegenheit am 26. Oktober an die Gestapo weiter. [15] Diese begann sogleich am 27. Oktober mit der Polenaktion, wobei etwa 15.000 Juden, darunter Marcel Reich-Ranicki, nach einigen Tagen Abschiebehaft gewaltsam nach Polen abgeschoben wurden. Betroffen waren davon auch die Eltern des Pariser Studenten Herschel Grynszpan. Dieser erschoss daraufhin in Paris den deutschen Diplomaten Ernst Eduard vom Rath. Dies wurde zum Vorwand für die Novemberpogrome 1938, besonders in der Nacht vom 9. auf den 10. November (verharmlosend: Reichskristallnacht ), genommen. Sie wurden nach einer Rede von Joseph Goebbels zum Jahrestag des Hitlerputsches von 1923 von zahlreichen Gauleitern der NSDAP eingeleitet und von nachgeordneten Parteifunktionären unterstützt. Die meisten der oft jahrhundertealten Synagogen Deutschlands wurden dabei zerstört, dazu Tausende Häuser und Wohnungen von Juden verwüstet. Bis zu etwa 400 Juden wurden ermordet oder in den Selbstmord getrieben; viele weitere wurden misshandelt und verletzt, Frauen wurden vergewaltigt. Ab dem 10. November wurden erstmalig Tausende jüdische Bürger auf einmal in Konzentrationslagern interniert (Schätzungen nennen bis zu 36.000 Personen). Jüdische Emigration aus Deutschland 1933 1941: Jahr Emigranten 1933 37 38.000 1934 22 23.000 1935 20 21.000 1936 24 25.000 1937 23.000 1938 33 40.000 1939 75 80.000 1940 15.000 1941 8.000 Die nationalsozialistischen Machthaber prüften damit die Bereitschaft der deutschen Bevölkerung zum Zuschauen, Wegschauen oder Mitmachen. Goebbels erklärte das staatlich gelenkte und geduldete Überkochen der Volksseele in Zeitungsartikeln für beendet, kündete aber zugleich an: Die weiteren Lektionen würden dem Judentum auf dem Weg der Gesetzgebung erteilt 5
werden. Gemeint war damit vor allem die nun folgende Arisierung. Juden wurde eine Milliarde RM als Schadenersatz für Gebäudeschäden der Pogromnacht auferlegt. Die Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben, drei Wochen später ergänzt durch die Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens, verbot ihnen unter anderem Einzelhandel, Versandgeschäfte, Bestellkontore, Führung von Handwerksbetrieben, Warenangebot auf Messen, Märkten oder Ausstellungen, Betriebsleitung und Tätigkeit als leitende Angestellte. Hinzu kamen vielfältige Alltagsdiskriminierungen, etwa Parkbänke mit Schildern Nur für Deutsche, Entjudung (Umbenennung) von Straßennamen, Uniformverbot, generelle Einstufung in die höchste Steuerklasse, Verbot der Benutzung von Schlaf- und Speisewagen der Reichsbahn, Streichung von Wohngeld. Hauseigentümer durften freiwerdende Wohnungen nicht mehr an Volljuden vermieten, diesen wurden Sonderwohnbezirke zugeteilt. Damit begann ihre Ghettoisierung. Am 4. Juli 1939 wurden zudem alle jüdischen Vereine, Organisationen und Stiftungen zwangsweise in einer Reichsvereinigung zusammengeschlossen. Die Maßnahmen des nationalsozialistischen Staates verfolgten bis zum Kriegsbeginn das klar erkennbare Ziel, die jüdischen Deutschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen auszuschließen, um so möglichst viele von ihnen zur Auswanderung zu drängen. Von 510.000 deutschen Juden, die 1933 den israelitischen Kultusgemeinden angeschlossen waren, verließen bis 1939 etwa 250.000 bis 315.000 ihre Heimat. Von den verbliebenen rund 200.000 gelang 1940 nochmals 15.000 die Flucht. Höchstens 10.000 in Mischehen oder ohne Aufenthaltsberechtigung im Reich lebende jüdische Bürger entkamen danach ihrer Ermordung. Aus dem angeschlossenen Österreich gelang etwa 120.000 Juden sowie zehntausenden Juden anderer Staatsbürgerschaft, viele davon nach 1933 aus Deutschland nach Österreich emigriert die Flucht, nachdem bereits vor dem Anschluss viele ausgewandert waren. Rund 65.500 österreichische Juden überlebten den Nationalsozialismus nicht. [17] Die Verfolgung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland hatte sich von 1933 bis 1939 von der Diskriminierung bereits bis zum organisierten Pogrom gesteigert. Unter den Bedingungen des Krieges verschärfte das Regime diese Politik schließlich zum systematischen Völkermord. Weitere Ausgrenzung und Entrechtung Parallel zu begonnenen Massenmorden an Juden in den im Krieg eroberten Gebieten wurde die soziale und rechtliche Ausgrenzung, Enteignung und Entrechtung der reichsdeutschen Juden vollendet. Am 9. September 1941 ordnete die Polizei an, dass alle künftig einen Judenstern gut sichtbar an der äußeren Kleidung zu tragen hätten. Ein ähnlicher Erlass war ein Jahr zuvor im besetzen Generalgouvernement (Polen) ergangen. Ab Oktober 1941 verbot Heinrich Himmler allen Juden die Ausreise aus dem Deutschen Reich; die systematische polizeiliche Erfassung folgte; Juden und Nichtjuden wurden voneinander isoliert. Im Januar 1942 wurden alle Kleidungsstücke aus Wolle und Pelz beschlagnahmt. Ab März des Jahres mussten auch die Wohnungen der im Reich verbliebenen Juden mit einem Judenstern gekennzeichnet werden. Öffentliche Verkehrsmittel durften nur noch in Ausnahmefällen benutzt 6
werden. Während die Deportationen seit März 1942 liefen, wurden den verbliebenen Juden ab 19. Oktober wichtige Nahrungsmittel wie Fleisch, Weizenprodukte, Milch, Kunsthonig, Kakaopulver sowie Sonderzuteilungen für Kranke gestrichen. Lebensmittelsendungen ins Ausland wurden von den Rationen abgezogen. Im Februar 1943 waren alle Beschäftigungsverhältnisse zwischen Deutschen und Volljuden bzw. Geltungsjuden aufzulösen. Im April wurde allen jüdischen Deutschen, jüdischen Mischlingen und Zigeunern die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Während Deportationen und Vergasungen in den Lagern längst im vollen Gange waren, diente diese Maßnahme nur noch der bürokratischen Perfektion der Enteignungen. Es folgte das Verbot, bei Rechtsstreitigkeiten den ordentlichen Rechtsweg vor deutschen Gerichten zu nutzen. Strafbare Handlungen wurden direkt von der Polizei geahndet. Angehörige von Deportierten konnten keine Ansprüche auf deren Besitz mehr geltend machen; dieser fiel an das Reich. Diese vollständige Entrechtung machte die noch im Reich lebenden Juden parallel zum Holocaust zum Freiwild für ihre bisherigen Nachbarn. Relativ geschützt vor der Ausrottung waren nur noch jüdische, ehemalige Deutsche in Mischehen oder mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Auch ihre Rechte wurden immer weiter eingeschränkt: Man erwog die Sterilisation oder Ehescheidung. Viele Ehepartner wurden von staatlichen Behörden direkt dazu aufgefordert. Mischlinge durften ab September 1942 keine höheren Schulen mehr besuchen; Soldaten unter ihnen mussten die Wehrmacht verlassen. Nach dem misslungenen Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurden auch alle Beamten entlassen, die mit jüdischen Mischlingen verheiratet waren. Im Januar 1945 wurden alle Mischlinge zum geschlossenen Arbeitseinsatz befohlen. 7