Steffen Held Zur Verfolgung der Juden im Jahre 1938 in Leipzig Vortrag, gehalten am 11. November 2010 im Gedenkort Josephstraße 7.
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- Uwe Huber
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1 Steffen Held Zur Verfolgung der Juden im Jahre 1938 in Leipzig Vortrag, gehalten am 11. November 2010 im Gedenkort Josephstraße 7. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Aus dem unmittelbaren zeitlichen Bezug zum Gedenken an den Pogrom im November 1938 heraus möchte ich zu Ihnen sowohl über jenen signifikanten Gewaltausbruch der am 9./10. November 1938 vor aller Augen geschah, als auch über die 13 Tage zuvor geschehene gewaltsame Ausweisung von Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus Leipzig sprechen. Denn, aus der Gewaltaktion am 28. Oktober 1938 entsprang der Vorwand für einen niemals für möglich gehaltenen Sturm der Gewalt am 10. November Und doch zielen meine Überlegungen hinsichtlich des November-Pogroms nicht vordergründig auf das Ereignis, die zivilisationsbrechende Tat (Dan Diner) der Nationalsozialisten ab. Vielmehr möchte ich den entscheidenden Weichenstellungen in der nationalsozialistischen Judenpolitik des Jahres 1938, die letztlich zu diesem vorletzten Akt der Tragödie führten, wie es der damalige Leiter des Sozialamtes der Jüdischen Gemeinde zu Leipzig, Martin Altertum, in einem Erinnerungsbericht formulierte, nachgehen. Denn, die Wochen und Monate vor dem 9. November 1938 erscheinen als eine Abfolge antijüdischer Maßnahmen zur vollständigen Ausgrenzung einer nach den Nürnberger Rassengesetzen zu Jüdinnen und Juden erklärten Bevölkerungsgruppe aus der von den Nationalsozialisten propagierten Volksgemeinschaft. [ ] Diese Verschärfung und Beschleunigung der antijüdischen Politik im Jahre 1938 ging von den Reichsbehörden und Ministerien sowie der Reichsleitung der NSDAP aus, war zentral gelenkt und trieb die Nationalsozialisten vor Ort im Besonderen zu einem Vorgehen gegen den jüdischen Einzelhandel an. Lassen Sie uns an dieser Stelle den Blick zurück in die Anfangszeit der nationalsozialistischen Machtergreifung richten. [ ] Was war geschehen: Nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 starteten die Nationalsozialisten auf der lokalen und der regionalen Ebene der Kommunen und der Länder einen gewaltsamen Kampf um die politische Macht und schlossen darin Übergriffe und Gewalttaten gegen Juden und
2 jüdische Einrichtungen ausdrücklich mit ein. Um von Seiten der NSDAP-Führung diesen Antisemitismus von unten zu kanalisieren, wurde für den 1. April 1933 ein flächendeckender Boykott gegen jüdische Geschäfte, Anwaltskanzleien und Arztpraxen organisiert; wenige Tage später wurden zwei Gesetze erlassen, durch die Juden als Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst wie Lehrer, Professoren, Dozenten, Juristen, Notare und Rechtsanwälte vertrieben wurden. Diese Entwicklung veranschaulicht, dass von Beginn an antisemitische Gewalt nicht nur ein Mittel nationalsozialistischer Politik, sondern Gewalt gegen Juden ihr Kern war. Wie gesagt, seit Anfang 1938 verschärften nun Reichsregierung und NSDAP-Führung die antijüdische Politik mit dem Ziel, die Juden mit allen Mitteln aus Deutschland zu vertreiben. Nach fünf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft bestand das vorrangige Ziel darin, den deutschen Juden, die ja bereits unter einem Sonderrecht lebten, jede wirtschaftliche Existenzgrundlage zu entziehen und so in kürzester Zeit einen Exodus möglichst vieler Juden, deutscher und ausländischer Staatsangehörigkeiten, herbeizuführen. [ ] Wie die gesellschaftliche Ausgrenzung in breitester Front forciert wurde, mag ein Beispiel aus dem städtischen Festtagskalender illustrieren. Auf dem ersten Leipziger Stadtfest, das am 27. Februar 1938 unter dem Motto In Leipzig ist der Löwe los gefeiert wurde, gab es auch eine Festzug-Parade, die aus vier Themenbereichen bestand. Das Motto im Dritten Teil lautete: Der Löwe treibt den Löwi, Lewi und den Löwenstein aus und Juden-Paradies im Rosental. Auch auf ein Beispiel für das repressive Vorgehen der Leipziger Stadtverwaltung sei hier hingewiesen. Das Gewerbeamt stellte jüdischen Händlern keine Wandergewerbescheine und Legitimationskarten mehr aus. Die Fürsorgeunterstützung für Juden wurde in vielen Fällen willkürlich gekürzt und Mietverträge für Wohn- und Gewerberäume in städtischen Immobilien gekündigt. Ende 1938 versandte das städtische Vermietungsamt an alle jüdischen Mieter in stadteigenen Wohnungen Kündigungsschreiben. In den Städtischen Bücherhallen und in der Stadtbibliothek wurden Schilder mit der Aufschrift Juden unerwünscht aufgestellt. Ein Zutrittsverbot für alle städtischen Büchereien und Museen in Leipzig war nicht bereits 1935 ergangen, wie in fast allen Publikationen zu lesen ist, sondern nach dem 9. November 1938 verfügt worden.
3 [ ] Die Atmosphäre in Deutschland blieb nach den Juni-Ereignissen 1938 gewalttätig aufgeladen. Die vom NS-Regime inszenierte Sudetenkrise führte zu einer immer schriller werdenden Pressekampagne. Zugleich wuchs die Furcht vor einem Krieg. Hier bot sich der Ausweg für die aufgeladene Spannung: Die Juden waren Schuld. Im September 1938 begannen in Landgemeinden und Kleinstädten im Deutschen Reich Ausschreitungen, Überfälle auf Juden, Zerstörungen der Inneneinrichtungen von Synagogen, Fensterscheiben von Wohnungen und Geschäften wurden eingeschlagen. Juden verließen panikartig ihre Wohnorte. Auch in Leipzig setzte die NSDAP-Kreisleitung SA-Trupps ein, um gegen jüdische Geschäfte vorzugehen und damit eine allgemeine Pogromstimmung zu erzeugen. Vorgesehen war auch eine Kenntlichmachung der jüdischen Geschäfte durch die Anbringung von Schildern mit der Aufschrift Jüdisches Geschäft. Zu diesem Zeitpunkt lief die Kennzeichnung der deutschen Juden an. Seit dem 1. Oktober 1938 war in Deutschland als allgemeiner polizeilicher Inlandausweis die Kennkarte eingeführt worden. [ ] Im Oktober 1938 lebten in Leipzig etwa 8000 Jüdinnen und Juden, die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde waren. Weitere Leipziger galten nach den Nürnberger Gesetzen ebenfalls als Juden. Am 27. Oktober 1938 erging an alle Polizeidienststellen der Befehl, unverzüglich alle Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit für eine Abschiebung nach Polen in Haft zu
4 nehmen. Nun traten in Leipzig zwei Besonderheiten auf, durch welche die ganze Aktion aus Sicht der Täter in einem Misserfolg endete. Zum einen brach ein Kompetenz- und Zuständigkeitskonflikt zwischen der Leipziger Ordnungspolizei und der Gestapo aus, der dazu führte, dass in Leipzig die Verhaftungsaktion erst am frühen Morgen des 28. Oktober 1938 begann. Zum anderen stellte der polnische Generalkonsul Feliks Chiczewski den Juden polnischer Staatsangehörigkeit in einzigartiger Weise das Konsulatsgebäude Wächterstraße 32 als Zuflucht zur Verfügung. Dadurch gelangten 1300 jüdische Kinder, Frauen und Männer in Sicherheit und entgingen der Abschiebung nach Polen. [ ] In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 initiierten die Nationalsozialisten einen Pogrom, in dessen Verlauf in Leipzig Synagogen niedergebrannt, Geschäfte und Wohnungen verwüstet und mindestens zwei Juden ermordet wurden. Von den 554 Juden, die zwischen dem 10. und 16. November 1938 verhaftet worden sind, wurden etwa 400 jugendliche und erwachsene männliche Juden im Alter zwischen 17 und 70 Jahren in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt und teilweise bis zum Februar 1939 gefangen gehalten. Mehrere Juden aus Leipzig starben in der Lagerhaft. Der Historiker Avraham Barkai hat unter Einbeziehung der nach dem November- Pogrom eingetretenen Geschehnisse das Jahr 1938 als das Schicksalsjahr bezeichnet, in dem die Judenverfolgung eine entscheidende Wende nahm. Aus der heutigen Betrachtung steht der Pogrom für den Anfang vom Ende am Ende stand die Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland und Europa. Der November- Pogrom war die Katastrophe vor der Katastrophe des Holocaust (Dan Diner). Bis heute sind die Heftigkeit und Brutalität des November-Pogroms nicht hinreichend erklärt. Die Emotionalität, die Obsession, die den November-Pogrom beherrschten, sind so lautet die Schlussfolgerung aus der Schilderung der bisherigen Ereignisse nur mit der gewalttätigen Aufladung des Jahres 1938 und insbesondere den Spannungen, die Europa an den Rand des Krieges brachten, zu begreifen. Dass der November-Pogrom als aggressive Entladung der angespannten Kriegsfurcht derartig brutal und destruktiv werden konnte, offenbart zudem die Intensität der Emotionen, die tiefe Furcht, die im Herbst 1938 in Deutschland herrschte und sich in eine solche Zerstörungswut wenden konnte.
5 Die unmittelbare Gewalt gegen Juden, die Niederbrennung der Synagogen, die Zerstörung von Wohnungen und Geschäften ging vor allem von SA-Männern aus. Hier entlud sich der nationalsozialistische Antisemitismus dieser Menschen. Diese Täter handelten aus Überzeugung. Zum Abschluss meiner Ausführungen kann für ein Resümee eingeschätzt werden, dass der Pogrom im November 1938 keineswegs ein isoliertes Ereignis darstellte. Im Verlaufe dieses Jahres schufen die Nationalsozialisten durch die Radikalisierung der antijüdischen Politik die Voraussetzungen, um einen solchen Gewaltausbruch in Gang setzen zu können. Sicherlich war der Pogrom nicht von langer Hand geplant, aber der Weg war zielgerichtet bereitet worden. [ ] Vortrag und Bild sind lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nichtkommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.
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