Zwischen Protest und trabajo territorial

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Transkript:

Martina Blank Zwischen Protest und trabajo territorial Soziale Bewegungen in Argentinien auf der Suche nach anderen Räumen

Band 9 der Reihe Fragmentierte Moderne in Lateinamerika, herausgegeben von Marianne Braig, Stephanie Schütze und Martha Zapata Galindo Umschlaggestaltung: Jakob Kirchheim Foto auf der vorderen Umschlagseite: Luis González Toussaint

Martina Blank Zwischen Protest und trabajo territorial Soziale Bewegungen in Argentinien auf der Suche nach anderen Räumen edition tranvía Verlag Walter Frey Berlin 2009

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Copyright: edition tranvía Verlag Walter Frey Druck: Rosch-Buch, Scheßlitz ISBN 978-3-938944-34-9 1. Auflage, Berlin 2009 edition tranvía Postfach 150455 10666 Berlin E-mail: Tranvia@t-online.de Internet: www.tranvia.de Dieses Buch wurde auf alterungsbeständigem und säurefreiem Papier gedruckt.

INHALT Vorwort 7 1. Einleitung 10 1.1. Argentinien im Zeichen des Protests 12 1.2. Verortungslogiken im Großraum Buenos Aires 16 1.3. Aufbau der Untersuchung 26 2. Die Räume sozialer Bewegungen 30 2.1. Brutstätten der Demokratie Die lateinamerikanische Debatte 30 2.2. Räume des Politischen 37 2.2.1. Sozialwissenschaften und Raum Eine Annäherung 37 2.2.2. Räumliche Rekonfigurationen im Zeitalter der Globalisierung 43 2.2.3. Abschied vom Containerstaat 48 2.3. Soziale Bewegungen verorten 59 2.3.1. Soziale Bewegungen und ihre places 59 2.3.2. Städtische Graswurzeln 70 2.3.3. Maßstabsebenen sozialer Bewegungen 80 2.4. Die Räume sozialer Bewegungen untersuchen 88 3. Zwischen Protest und trabajo territorial 91 3.1. Que se vayan todos! Ein Ereignis und seine Repräsentationen 91 3.1.1. Eine historische Zäsur 91 3.1.2. Die Undenkbarkeit des argentinazo 93 3.1.3. Das Undenkbare denken 98 3.2. Piquetes, escraches, cacerolazos 103 3.2.1. Von Neuquén nach Buenos Aires Der piquete 103 3.2.2. Möge das Stadtviertel sein Gefängnis sein! Der escrache 118 3.2.3. Von der repräsentativen zur horizontalen Demokratie cacerolazo und asamblea 131 3.3. Zwischen plaza und barrio: Ein Rückblick 143 3.3.1. Die sociedades barriales: Ursprünge einer urbanen Tradition 144 3.3.2. Buenos Aires im Zeichen des Peronismus: Die Plaza, der Balkon und das barrio 150 3.3.3. Post-peronistische Konsumentenstadt und Klandestinität im barrio 154 3.3.4. Wo nistet die Demokratie? 158

4. Raum für Kommunikation: Das Beispiel der Asamblea Florida Este 167 4.1. Die Asamblea Popular de Florida Este 167 4.2. Von der Kochtopfdemonstration ins Stadtviertel: Geschichte einer Verortung 170 4.2.1. Die plaza 178 4.2.2. Das besetzte Sportplatzgebäude 182 4.2.3. Das Netzwerk 186 4.3. Zwischen plaza und Radio: Mit den Nachbarn kommunizieren 193 4.3.1. Der Beginn 194 4.3.2. Vom Ausnahmeraum zur arbeitenden Gruppe 198 4.3.3. Die Umfrage 201 4.3.4. Abstecher zum Gemeinderat von Vicente López 207 4.3.5. Zurück zur territorialen Basis 212 4.3.6. Die Radios 215 4.4. Verortung im barrio: Verortung in Grenzen? 223 4.4.1. Das barrio Florida und die Karte der Flecken 224 4.4.2. Der Raum Vicente López 226 4.4.3. Die Welt im barrio, das barrio in der Welt 230 4.4.4. Territorialisierung als Entgrenzung 239 5. Vom trabajo territorial zu anderen Räumen 249 5.1. Trabajar el territorio Die braunen Flecken bearbeiten 250 5.2. Ein Staat im Krebsgang und die Barrialisierung des Politischen 254 5.3. Soziale Bewegungen und die Territorien fragmentierter Staatlichkeit 257 5.4. Neue politische Landschaften kartographieren 259 6. Anhang 265 6.1. Feldforschung 265 6.1.1. Fallstudie MTD de Solano 265 6.1.2. Fallstudie Mesa de Escrache Popular 266 6.1.3. Fallstudie Asamblea Florida Este 267 6.2. Abkürzungen 269 Literatur 270

1. EINLEITUNG Als Ende des Jahres 2001 Massenproteste die Hauptstadt Argentiniens erschütterten und eine umfassende Regierungskrise auslösten, waren selbst gestandene Argentinien-ExpertInnen nicht wenig überrascht. In einer regelrechten Katharsis schien die gesamte Bevölkerung von Buenos Aires durch die Straßen der Stadt zu strömen und einer neuen argentinischen Widerständigkeit Raum zu verschaffen. Während diese Proteste vor dem Hintergrund der so genannten Argentinienkrise globale Beachtung fanden und als Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung gewertet wurden, widersetzten sich die Akteure vor Ort allerdings hartnäckig der Handlungslogik globalisierten Widerstandes. Schon wenige Wochen nachdem die BewohnerInnen der Hauptstadt den amtierenden Präsidenten aus dem Amt vertrieben hatten, organisierten sich die Beteiligten der weltweit bekannt gewordenen Kochtopfdemonstrationen in hunderten von Versammlungen auf Stadtteilebene und machten nun die eigenen Wohnviertel zum zentralen Bezugspunkt ihrer Praxen. Trabajo territorial (wörtlich territoriale Arbeit ) oder auch trabajo barrial ( Stadtteilarbeit ) lautete die Formel, mit der sich diese Akteure verbanden. Diese Formel war im Großraum Buenos Aires keineswegs neu. So wie nun der cacerolazo (das lautstarke Protestieren mit Kochtopf und Pfanne) hatten sich seit Mitte der 1990er Jahre auch schon andere neue Protestformen wie der piquete (die Blockierung zentraler Verkehrswege) oder der escrache (die Brandmarkung des Wohnorts strafloser Täter der letzten Militärdiktatur) mit dieser Formel verbunden. Von Volksküchen über Kunstprojekte bis hin zu politischer Bildung entzieht sich dieses trabajo territorial eindeutigen Zuschreibungen und verbindet politische, soziale und kulturelle Aktivitäten zu einem Gemisch, dessen Kohärenz sich nur bedingt aus den in den jeweiligen Protesten vorgebrachten Forderungen ableiten lässt. Das zentrale, sie einende Element ist vielmehr ihr Bezugspunkt: das barrio. So werden die Begriffe Territorium und Stadtviertel bezogen auf den Großraum Buenos Aires sowohl von den Akteuren als auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur synonym verwendet; trabajo territorial, trabajo barrial, trabajar el territorio, trabajar el barrio sind gleichbedeutend und stehen für die andere Seite des Protests: für eine Verortung kollektiven Handelns im Stadtviertel.

Was aber hat es mit dieser Verortung auf sich? Welche Handlungsperspektiven sind aus Sicht der Akteure damit verknüpft? Trabajo territorial so die zentrale These dieser Arbeit ist der Versuch zur Schaffung neuer Handlungsräume, die Verortung im Stadtviertel zielt auf die Konstruktion sozialer Räume, die ein más allá ( darüber hinaus ) des Protests ermöglichen sollen. Ein zentrales Motiv ist dabei die Öffnung hin zu anderen sozialen Akteuren. Oft ist in diesem Zusammenhang auch die Rede von der Knüpfung neuer sozialer Bindungen und der Schaffung eines neuen Gemeinsinns. Trabajo territorial, so viel ist also klar, hat etwas mit gesellschaftlicher Verankerung zu tun. Doch auf was für eine Art von Sozialraum richtet sich diese Verankerung? Wie lässt sich das barrio mit unserem politikwissenschaftlichen Instrumentarium greifen? Lebenswelt, Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft: Die uns zur Verortung nichtstaatlicher Akteure zur Verfügung stehenden Sphärenkonzepte wurden vor dem Hintergrund eines längst in die Krise geratenen Modells politischer Räumlichkeit entworfen. Die historische Territorialisierung von politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Prozessen in Form von Nationalstaaten ist in Bewegung und stellt die Politikwissenschaft zunehmend vor die Herausforderung, die eigenen impliziten räumlichen Annahmen zu hinterfragen und das Analyseinstrumentarium neuen Konfigurationen anzupassen. Der Behälterraum Nationalstaat steht zur wissenschaftlichen Disposition und mit ihm auch unsere gewohnten Konzepte zur Verortung sozialer Bewegungen. Dabei bieten sich gerade soziale Bewegungen ob ihrer beständigen Grenzverschiebung zwischen dem Privaten und dem Politischen an, Neuverortungen des Politischen zu untersuchen. Die Adjektivierung unserer Sphärenkonzepte z.b. als globale Zivilgesellschaft oder lokale Öffentlichkeiten ist ein Versuch, diesen Veränderungen Rechnung zu tragen und Antworten auf die drängende Frage zu finden, wo heute Politik gemacht wird. Und doch bleibt die Adjektivierung auf halber Strecke stehen, indem sie einem hierarchischen Skalenmodell verhaftet bleibt, das von den Akteuren in der Realität konsequent unterlaufen wird. Es lohnt sich daher, einen Schritt zurückzugehen und erneut die Frage zu stellen, wo und in welchen Räumen sich soziale Bewegungen verorten. Was sind die Räume sozialer Bewegungen? Wo machen soziale Bewegungen heute Politik? Wo wird Politik gemacht und wo wird sie nicht gemacht? Das sind die Fragen, der in dieser Arbeit mit Hilfe einer verräumlichten Perspektive auf soziale Bewegungen nachgegangen wird. Die neueren Bewegungsakteure im Großraum Buenos Aires bieten dabei ein exzellentes Beispiel, um sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. So ist das

Phänomen des trabajo territorial auch Ausdruck einer umfassenderen Veränderung der politischen Logik, eine Veränderung, die sich im Großraum Buenos Aires in einer spezifischen Geographie politischer Verortungen niederschlägt.