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Martin Suter Allmen und die Libellen Roman Diogenes
12 Jojo schnarchte. Sie lag auf dem Rücken in ihrem überdimensionierten Bett, und aus ihren halbgeö neten, nicht mehr ganz so kirschroten Lippen drang dieses wenig damenha e Geräusch. So ganz unpassend war es allerdings nicht, fand Allmen. Sie hatte sich im Laufe des Abends in jeder Hinsicht als wenig damenha erwiesen. Noch nie in seinem Leben und es war in dieser Beziehung ein bewegtes gewesen hatte sich eine Frau mit einem solchen Heißhunger auf ihn gestürzt wie diese platinblonde Opernbekanntscha. Im Fond der Limousine, unter dem Augenpaar des Chau eurs im Rückspiegel, war es ihm noch gelungen, die Angri e von Jojo abzuwehren. Aber als sie die Halle der großen See-Villa betreten hatten, ließ er sich widerstandslos die breite Freitreppe hinauf- und in ihr divenha es Schlafzimmer schleppen, wie die Beute einer Löwin. Dort zog sie gleichzeitig sich und ihn aus, warf sich mit ihm aufs Bett, verschlang ihn und gab sich 44
ihm hin mit einer ihm bislang unbekannten Zügellosigkeit. Gleich danach war sie in einen bewusstlosen Schlaf gefallen und hatte kurz darauf zu schnarchen begonnen. Allmen lag auf den rechten Arm aufgestützt und betrachtete sie. Zwar war das Licht durch den rosa Lampenschirm gedämp, dennoch sah er jetzt die Spuren eines Lebens mit zu viel Sonne, zu wenig Schlaf, zu viel Spaß und zu wenig Liebe. Er spürte, dass es ihm ging wie immer in solchen Situationen: Die Zuneigung, die er sich zuvor eingeredet hatte und ohne die er nicht mit einer Frau ins Bett gehen konnte, war ver ogen. Er studierte die Fremde neben sich ohne Zärtlichkeit. Und diesmal war es noch etwas schlimmer: Er fühlte sich von ihr benutzt und nahm es ihr übel. ErstandaufundmachtesichaufdieSuchenach einer Toilette. 13 Das Schlafzimmer besaß zwei Türen. Durch die eine waren sie hereingekommen, dann musste die zweite wohl ins Bad führen. Er ö nete sie, fand den Schalter und machte Licht. 45
Er stand in einem großen schwarzen Marmorbad mit einem Doppelwaschtisch, einer gläsernen Duschkabine, einem altmodischen nierenförmigen Jacuzzi und zwei weiteren Türen. Der Waschtisch war übersät mit Kosmetika, die Spiegelschränke standen o en, dahinter herrschte ein Chaos aus Tuben, Töpfen, Tiegeln, Fläschchen, Schächtelchen und Medikamentenpackungen. Auf einem Badehocker neben der Dusche lag ein feuchtes, schwarzes Frottiertuch, im Jacuzzi ein weiteres, über dem Wannenrand hingen Unterwäsche und Kleider. Eine Toilette fand er keine. Sie musste hinter einer der beiden Türen sein. Allmen ö nete die erste aufs Geratewohl. Sie ließ sich nur halb aufdrücken, ein Möbel stand mit etwas Abstand davor. Er machte Licht und schlüpfte hinter dem Möbel in den Raum. Keine Toilette, sondern ein Zimmer von etwa der gleichen Größe wie Jojos Schlafzimmer. Es war früher wohl auch eines gewesen und hatte das Bad mit dem anderen geteilt. Jetzt war es ein Ausstellungsraum. Das Licht, das Allmen angeknipst hatte, drang aus schlichten Glasvitrinen wie jener, die vor der Tür plaziert war. Wie Aquarien waren sie um einen einsamen Ledersessel gruppiert, vor dem ein kleiner Glastisch stand. 46
Ihr Inhalt bestand aus einer Sammlung von Jugendstilgläsern. Vasen, Lampen, Schalen. Unverkennbar sogar für Allmen, der nicht besonders viel von Jugendstilgläsern verstand stammten alle aus der Hand des legendären Emile Gallé. Allmen hatte keine Sorge, erwischt zu werden. Sie waren allein im Haus, das hatte er sich von Jojo schon in der Halle versichern lassen. Also nahm er sich Zeit für einen kleinen Rundgang und verweilte ein wenig länger vor einer Gruppe besonders schöner Stücke. Es waren fünf Schalen in der Form von weit geö neten, breiten Kelchen. Ihr Glas war ganz oder halb opak in cremigen Gold-, Rost-, Eis-, Schnee-, Zimt-, Silber-, Lakritze- und Kakao-Tönen. Jede von ihnen schmückte eine große Libelle, jede mit goldenen Augen, jede anders, aber jede so, als wäre sie mitten im Flug von diesem Glas eingeschlossen worden, als es noch üssig war. Alle fünf Stücke waren formvollendet und von ehrfurchtgebietender Schönheit. Allmen riss sich von dem Anblick los, löschte das Licht und ging zurück ins Bad. Er versuchte es mit der anderen Tür und fand die Toilette. 47