Nach dem 30. Juni 2013, wohin steuert Ägypten? Mamdouh Habashi *, 1.11.2013 Legitime Fragen: Ist es möglich, die Gefahren eines Muslimbrüder-Staates mit den Gefahren einer eventuellen Militärdiktatur gleichzusetzen? In dieser Schlacht steht eine religiös-faschistische Organisation mit schwer bewaffneten, im Untergrund trainierten Milizen einem friedlich rebellierenden Volk gegenüber. Was soll das Volk in einer solchen Situation tun: Die uniformierten Kräfte zu Hilfe rufen? Oder aus lauter Angst vor Machtmissbrauch und eventueller Diktatur sich die Sache anders überlegen und das Joch der Faschisten vorziehen? Wie hätte das Szenario ausgesehen, wenn Armee und Polizei auf den Zuschauerplätzen sitzen geblieben wären? Welche Beschreibung der Situation nach dem 30. Juni 2013 trifft eher zu: ein Volk, gespalten zwischen Anhängern der Muslimbrüderschaft und Anhängern der Armee, oder ein Volksaufstand gegen die Muslimbrüderschaft, bei dem sich die Armee auf die Seite des Volkes schlägt? Weshalb hat der Westen (die USA und die EU) nach kurzem Zögern den Volksaufstand am 25. Januar 2011 gegen den legitimen Diktator Mubarak akzeptiert, während derselbe Westen den Aufstand desselben Volkes am 30. Juni 2013 gegen die legitimen Muslimbrüder beharrlich ablehnt? Wenn die Menschen in Ägypten ihre Armee für die Unterstützung der Volksmassen im Aufstand am 30. Juni 2013 bejubeln, bedeutet dies, dass diese Menschen eine Militärherrschaft herbeirufen? Die einjährige Herrschaft der Muslimbrüder hatte die Volksmassen gegen sie aufgebracht, auch diejenigen, die ihnen zu Beginn eine Chance eingeräumt hatten. Wie sieht nun die Lage nach dem Sturz der Muslimbrüder aus? Wollen die Ägypter sich mit den Muslimbrüdern versöhnen? Oder tendieren immer mehr Ägypter zu immer radikaleren Haltungen: sich der Islamisten ganz zu entledigen und mit dem Kapitel Politischer Islam ein für allemal abzuschließen? Das objektive Bündnis inhomogener politischer Kräfte (von den linken Revolutionären über Nationalisten und Liberalkonservative bis hin zu den Vertretern des alten Mubarak- Regimes, die noch immer die Schlüsselpositionen des tiefen Staates besetzen, nicht zuletzt die Uniformierten) hat sein unmittelbares Ziel mit dem Sturz der Herrschaft der Muslimbrüder am 3. Juli 2013 erreicht. Bedeutet dies die Aufhebung der Differenzen zwischen den Bestandteilen dieses Bündnisses? Oder bestehen diese Differenzen fort und werden sich nur in einer neuen Etappe der Revolution austragen lassen? Ist der Volksaufstand am 30. Juni 2013 ein Staatsstreich durch das Militär, eine neue Revolution oder die Fortsetzung der Revolution vom 25. Januar 2011? 1
Komplexe Situation: Die Antwort auf diese Frage verrät die politische Gesinnung des jeweiligen Betrachters. Denn eine akademisch richtige Antwort gibt es nicht. Vielmehr gilt es, die Widersprüche zwischen dem objektiven Bündnis und den Muslimbrüdern auf der einen Seite und die Widersprüche zwischen den Bestandteilen dieses Bündnisses auf der anderen zu analysieren. Die Muslimbrüder und ihre Unterstützer im In- und Ausland behaupten, Opfer eines illegalen Staatsstreichs zu sein, der rückgängig gemacht werden muss. Die Vertreter des alten Mubarak-Regimes im mächtigen Staatsapparat als auch die ihnen angeschlossenen Interessengruppen behaupten, es handele sich um eine neue Revolution. Die linken revolutionären Kräfte wie auch Nationalisten und einige Liberale dagegen halten den 30. Juni 2013 für die Fortsetzung der eigentlichen Revolution vom 25. Januar 2011 gegen alle Formen von Diktatur und Unterdrückung. Vierzig Jahre lang hatten die Muslimbrüder und andere Gruppierungen des politischen Islam den Ägyptern ihren religiösen, moralischen, kulturellen und ideologischen Despotismus aufgezwungen. Dies konnte ihnen nur deswegen gelingen, weil sie sich den ärmeren Teilen des Volkes gegenüber lange Zeit hindurch als politische Opposition stilisieren konnten. Nach ihrer Machtergreifung brachten sie mit ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik und ihren antidemokratischen Maßnahmen die Mehrheit des Volkes gegen sich auf. Die Millionen, die am 30. Juni 2013 in allen Teilen des Landes demonstrierten, haben nicht nur wegen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Nöte protestiert, sondern vor allem auch gegen das islamo-faschistische Projekt der Muslimbrüder und ihre Verbündete. Dennoch sei hier erwähnt, dass Mursi zu Beginn seines Amtsantritts von vielen Kräften im Land einen enormen Vertrauenskredit erhalten hatte. Mit Billigung der USA schlossen die Muslimbrüder einen Deal mit der Armeeführung, die Liberalkonservativen versprachen sich gute Geschäfte sowie eine Beteiligung an der Macht, und ein Großteil der weniger politisierten aufbegehrenden Massen sogar Teile der Nationalisten und der Linken hofften auf ein Ende der Gewalt und sehnten sich nach Normalität, Stabilität und einer Ankurbelung der Wirtschaft. Diese positive Haltung den Muslimbrüdern an der Macht gegenüber veränderte sich im Laufe der ersten vier Monate nur wenig trotz der enttäuschenden Leistung der Regierung. Erst nach der Verfassungserklärung vom 22. November 2012, mit der Mursi alle drei Teilgewalten in seiner Hand vereinte und seine Entscheidungen und Handlungen gegen jegliche Rechenschaftspflicht immun machte, wachten die Tagträumer auf und begannen mit den Muslimbrüdern abzurechnen. Das breiteste Bündnis aller Zeiten, Die Rettungsfront, wurde gegründet. Von da an nahm der Kampf der Ägypter gegen die islamo-faschistischen Gruppierungen konkrete Gestalt an, und die Spannung erhöhte sich Tag für Tag. Was am 30. Juni 2013 geschah, war lediglich das Umkippen des Gleichgewichts innerhalb dieser sehr komplexen politischen Konstellation. Den Aufstand der Abermillionen vom 30. Juni 2013 zum Sturz der Muslimbrüder sehen wir als Beginn einer neuen Welle der Revolution an, die seit dem 25. Januar 2011 nicht aufgehört hat, aber komplizierter geworden ist. Die Akteure auf beiden Seiten der Front zwischen Revolution und Konterrevolution mussten sich neu orientieren und entsprechend neu ordnen. Die Feinde der Muslimbrüderschaft waren am 30. Juni 2013 in zwei großen Lagern geteilt: das Lager der Revolution mit all ihren Anhängern und das Lager des alten Regimes mit seiner Armee, Polizei, Justiz und der ganzen Bürokratie im Staatsapparat. 2
Die revolutionären Kräfte haben sich nicht mit den Kräften des alten Regimes verbündet (durch irgendwelche Verhandlungen oder Ähnliches), denn deren Kampf gegen diese Kräfte ist noch lange nicht ausgefochten. Deshalb bezeichne ich dieses entstandene Bündnis mit objektiv. Die Einzigartigkeit dieser Situation in unsrer Geschichte und ihre Komplexität können natürlich der Grund für die großen Unterschiede in der Auslegung der linken Kräfte in Ägypten aber besonders in der Welt sein. Organisiert Euch! Was alle diese Nachbeben und Wellen der Revolution gemeinsam haben, ist, dass die Massen der Revolution noch über keine Organisation verfügen. Diejenigen, die diese Abermillionen bewegt und die Forderung der Bewegung formuliert haben, können noch nicht dieselben Massen weiter bis zur politischen Macht lotsen, denn das braucht eine ganz andere Form der Organisation, in der realen Welt, d.h. nicht nur im Syber space, Organisation, die eine politisch-gesellschaftliche Vision hat und Strategien ausarbeitet, eine Organisation, die in der Lage ist, die unermesslichen Kraftpotenziale der Volksmassen zu mobilisieren, alle Formen des Widerstands und des Aufbaus miteinander zu flechtet und diese auch harmonisch zu orchestrieren. Genau das fehlt noch. Am 30. Juni 2013 schlug sich die Armeeführung nur deswegen auf die Seite des rebellierenden Volkes, weil sie aus den Erfahrungen der letzten zweieinhalb Jahre gelernt hatte. Sie hatte erkannt, dass eine Neuordnung der Kräfte der Konterrevolution unter ihrer eigenen Führung notwendig geworden ist. Diese Umorientierung war mit den USA nicht abgesprochen, sie erfolgte gegen die amerikanische Strategie für die Region. Regional und International: Nach mehreren gezielten Prüfungen ihrer Loyalität hatten die USA sich mit den Muslimbrüdern arrangiert und ihre uneingeschränkte Unterstützung bekundet (man vergleiche die vielen Erklärungen von Anne Patterson, der amerikanischen Botschafterin in Kairo zur Zeit Mursis). Dies erklärt den öffentlich ausgetragenen Konflikt zwischen den USA und einigen Regimen im Nahen Osten, die traditionell als Agenten der amerikanischen Interessen in der Region bekannt sind: Saudiarabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait. Diese sahen sich durch den Pakt der USA mit den Muslimbrüdern betrogen und in ihrer Existenz bedroht. Im Diskurs der Muslimbrüder mit den USA im Rücken hatten alle diese Regime keinen Platz mehr. Daher griffen sie erklärtermaßen gegen die Haltung ihrer Freunde in Washington der neuen militärischen Führung der Konterrevolution in Ägypten, dem zentralen Staat im arabischen Raum, mit ca. $ 9 Milliarden Soforthilfe unter die Arme. Dennoch haben alle diese Staaten etwas gemeinsam: Sowohl die USA als auch Saudi- Arabien, die Emirate und Kuwait ebenso wie die militärische Konterrevolution in Ägypten bezwecken lediglich eine Abkühlung der revolutionären Hitze in Ägypten, bevor sich eine Führung der revolutionären Kräfte herauskristallisieren kann, die zu einem wirklichen Umsturz der Verhältnisse führt. Alle diese Parteien sind sich darin einig, dass eine Radikalisierung der Volksmassen um jeden Preis zu vermeiden ist. 3
Am besten und am schnellsten, so die Überlegungen, lässt sich dies über eine Road Map zurück zur Demokratie erreichen. Daher die Verurteilung der Ereignisse vom 30. Juni 2013 durch den Westen als Militärputsch gegen den ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens. Wenn weltweit einige Teile der Linken in diesem westlich orchestrierten Chor mitsingen, so liegt dies daran, dass sie von der Krankheit des Glaubens an das westliche Demokratie-Modell als das einzig wahre und einzig mögliche noch nicht geheilt sind. Allein der Vergleich zwischen den demokratischen Strukturen in einem zentralen Land wie USA, Deutschland, Frankreich usw. und den demokratischen Strukturen in einem Land der dritten Welt oder des Globalen Südens wie Ägypten ist meiner Meinung nach unzulässig, irreführend und unaufrichtig. Dies ist aber ein Thema für sich und kann leider hier nicht behandelt werden. Der Staat in Übergangszeiten: Diese Verwirrung liegt einerseits am allmächtigen Einfluss eines besonders in den Mittelschichten der Gesellschaft verbreiteten bürgerlichen Demokratieverständnisses, andererseits daran, dass die meisten Menschen die Mechanismen nicht verstehen, nach denen ein Staat in Zeiten revolutionärer Transformationen funktioniert. In revolutionären Übergangszeiten verhalten sich sämtliche Machtapparate des bürgerlichen Staates einschließlich der Armee anders als in Zeiten relativer Stabilität. Diese ungewöhnliche Funktionsweise, wie immer sie im Einzelnen aussieht, ist ihrem Wesen nach konterrevolutionär. Sie will die Revolution abkühlen, bremsen, stoppen, unterdrücken und am liebsten ganz auslöschen. Die Armeeführung in Ägypten bildet keine Ausnahme. Die Armee ist das Rückgrat des bürgerlichen Staates, die letzte Verteidigungslinie und der wichtigste Unterdrückungsapparat. In ihrer Eigenschaft als stärkster und bestorganisierter Flügel der ägyptischen Bourgeoisie opferte die Armeeführung in der Revolution vom 25. Januar 2011 Mubarak, um die Herrschaft der Klasse als ganzer zu retten. Am 30. Juni 2013 sah sich die Armeeführung einer vergleichbaren Herausforderung gegenüber: das Regime von den Schlägen der Revolution zu schützen. Wir können deshalb nicht von einer neuen Revolution sprechen, weil die Armeeführung vor und nach dem 25. Januar 2011 ebenso wie vor und nach dem 30. Juni 2013 der stabilste und stärkste Flügel im Lager der Konterrevolution war und ist. Die Frage des Putsches ist demgegenüber völlig nachgeordnet. Als Rückgrat des Staates wie auch als kapitalistischer Teilhaber, der einen Anteil von über 25 Prozent an der Volkswirtschaft des Landes hat, muss die Armeeführung jeder Revolution feindlich begegnen, da sie ein unmittelbares Interesse an der Aufrechterhaltung despotischer Verhältnisse in Ägypten hat. Der 30. Juni 2013 hat zu einer Neuordnung der politischen Kräfte und Allianzen geführt, nicht nur in Ägypten, sondern in der Region und weltweit. Die Erzrivalen Iran und Türkei stehen bei der Unterstützung des abgesetzten Muslimbrüder-Regimes Seite an Seite. Dies zeigt, dass der Sturz der Muslimbrüder in Ägypten dem gesamten islamischen Projekt in der Region eine schmerzliche Niederlage bereitet hat. Die Aufgaben der Linken: In einem Artikel in der jungen welt vom 23. Juli 2013 ( Revolution Reloaded ) habe ich mehrfach betont, dass die Übergangsregierung nach der Entmachtung der 4
Muslimbrüder keinesfalls eine Regierung der Revolution ist. Dennoch stellt sie einen enormen Fortschritt für die Fortsetzung der Revolution dar. Seither sehen wir uns immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt; mit unserer Haltung als Linke die eben erst gewonnene Demokratie gleich wieder zu begraben eine Verletzung der Menschenrechte hinzunehmen und eine Militärdiktatur zu unterstützen. Wir hätten diese Vorwürfe verstanden, kämen sie aus dem feindlichen Lager. Aber nein, es ist friendly fire. Unsre linken und revolutionären Freunde weltweit glauben, die Situation aus der Ferne besser beurteilen zu können, und malen sie in Schwarz und Weiß. Aber die Realität sieht anders aus. Heute steht die ägyptische Linke vor ganz anderen Fragen: Wie können wir ein großes Bündnis aller linken Parteien bilden? Und ein noch größeres Bündnis zwischen den Linken und den Nationalisten? Wie können wir gegen den Einfluss der noch existierenden Islamisten und gegen Neoliberale und Rechte unseren Beitrag zur Ausarbeitung der neuen Verfassung leisten? Wie können wir aus den Diskussionen in der Verfassungsgebenden Versammlung eine Debatte in der ganzen Gesellschaft machen? Wie können wir mit unseren begrenzten Mitteln die Wahlkämpfen bewältigen, die uns in Kürze bevorstehen werden: Parlament, Präsidentschaft und Kommunen? Wie können wir gegen die neoliberale Politik der Übergangsregierung mit Aktionen kämpfen, die nicht den Islamisten in ihrem Krieg gegen dieselbe Regierung zugutekommen? Wir stehen also vor einem langwierigen politischen Prozess, der Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern wird - Jahre der Wechselwirkung und des Kampfes zwischen Revolution und Konterrevolution. Manchmal spitzt dieser Kampf sich zu, wird heftig und vielleicht sogar blutig, manchmal steuert er auf einen vorübergehenden Kompromiss zu, wie er derzeit besteht: einen Kompromiss zwischen inhomogenen politischen Kräften, die aufgrund des kleinsten gemeinsamen Nenners, der Gegnerschaft zum islamofaschistischen Projekt, ein objektives Bündnis bilden, ohne politisch ein solches geschlossen zu haben. * Mamdouh Habashi (62) lebt in Kairo und ist: Mitgründer der Ägyptischen Sozialistischen Partei ESP Vizepräsident des World Forum for Alternatives WFA Vorstandsmitglied des Arab & African Research Center AARC 5