1 Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn, Jesus Christus. Text: Johannes 12, 1-8 Liebe Gemeinde, an diesem Ewigkeitssonntag, an dem wir zum Ende des Kirchenjahres an die Verstorbenen des vergangenen Jahres denken, an dem wir der Vergänglichkeit unseres Lebens nahe kommen und wir Trauer tragen über die Zerbrechlichkeit unseres Lebens, an dem Tag, an dem uns so bewusst ist, dass unser Leben nur eine Ansammlung von Fragmenten, von mehr oder weniger gelungenen Lebensabschnitten ist, möchte ich sie, mit Hilfe der Geschichte, die wir gerade als Predigttext gehört haben, dazu verführen, über das Leben nachzudenken. Über unser Leben. Es gibt ein kleines Büchlein von Anselm Grün, das heißt: Wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte und der Autor beschreibt seine ganz persönliche Vorstellungen für diesen Tag, diesen einen Tag, den er noch zu leben hat. Aber ist er so bedeutend im Angesicht der Ewigkeit???? Wieviele Jahrhunderte ist das Leben auf Erden nur im Hinblick auf die Ewigkeit und das Jüngste Gericht hin gedeutet worden. Das brachte es mit sich, dass man den Menschen Angst machen konnte, dass man sie beherrschen konnte. In so manchen Kirchen und ich habe da eine Kirche in Toulouse ganz besonders in Erinnerung, obwohl mein Besuch dort schon fast 20 Jahre her ist. Dort beherrscht das Bild des Jüngsten Gerichts den ganzen Kirchraum, düster und drohend, die Leute in Angst und Schrecken versetzend. Jeder soll sich in sein Schicksal fügen, in den Platz, den Gott hier auf Erden ihm gegeben hat und gehorsam sein Leben absolvieren in dem einzige Ziel, im Jüngsten Gericht mit einem blauen Auge davon zu kommen.
2 Heute lade ich Sie ein, sich ein anderes Bild zu machen im Angesicht des Todes, im Angesicht der Ewigkeit ein Bild, das uns Johannes zeichnet. Mit seiner Hilfe bekommen wir auf verschiedene Fragen Antworten: Was hätte Jesus getan, wenn er nur noch wenige Tage zu leben gehabt hätte? Wieviel ist das Leben vor dem Tod wert? Welche Zielsetzug hat es? Unsere kleine Geschichte gibt uns Antwort auf diese fundamentalen Fragen. Zuerst: Welchen Wert hat das Leben vor dem Tod? Dazu gibt es keine theoretische Abhandlung in Johannes, sondern zwei Verse sagen hier alles: Sechs Tage vor dem Paschafest kam Jesus nach Betanien, wo Lazarus war, den er von den Toten auferweckt hatte. Dort bereiteten sie ihm ein Mahl und Lazarus war unter denen, die mit Jesus bei Tisch waren. Lazarus er sitzt mit bei Tisch so als wenn nichts gewesen wäre? Dieser Mann ist mir ein Rätsel und eine Herausforderung zugleich. Es heißt von ihm, dass Jesus ihn lieb gehabt hat und wir wissen von ihm, dass Jesus ihn von den Toten auferweckt hat. Aber warum? Wir wissen sonst nichts von ihm. Er sagt nichts und es wird auch nicht darüber berichtete, was er getan hat. Kein Gespräch, keine besondere Leistung, nichts spektakuläres, außergewöhnliches, keine besondere Begabung, rein gar nichts. Er ist der Bruder von Maria und Martha, zwei besonderen Frauen. Was machte ihn wert, von den Toten auferweckt zu werden? Und wenn das Leben nach dem Tod das eigentliche ist und das, woraufhin alles zielt, warum hat Jesus ihn dann auferweckt? Wir können nur daraus schließen: Jesus gibt ihm das Leben zurück, weil das Leben hier und jetzt wichtig ist. Nicht, weil Lazarus noch was besonderes leisten muss nein gar nicht, es geht darum, dass er da ist, hier im Leben. Und im Angesicht seines eigenen Todes zeigt Jesus damit auch, wie bedeutsam das Leben ist, unabhängig von Leistung und gute Werken, er liebt Lazarus, einfach so. Lazarus ist nicht wichtig, weil er besonders ist, sondern weil es Menschen gibt, die ihn lieben. Und Jesus setzt ein Zeichen für das Leben vor dem Tod mit der
3 Auferweckung des Lazarus und seine Bedeutung liegt in der Liebe und den Beziehungen, die Menschen zueinander haben. Zur zweiten Frage: Was hätte Jesus getan, wenn er nur noch wenige Tage zu leben gehabt hätte? Eine unmögliche Frage, weil wir doch wissen, dass Jesus zu diesem Zeitpunkt, an dem die Geschichte in seinem Leben spielt, nur noch wenige Tage zu leben gehabt hat? Nein, umso wichtiger, sich anzugucken, was er denn getan hat nach Johannes, denn das kann auch uns ja Wegweisung sein. Jesus hat geahnt, dass der Weg nach Jerusalem sein letzter sein könnte und er hat getan, was ihm das wichtigste erschien: er hat mit seinen Freunden gesessen und gegessen, sie haben es sich gut gehen lassen, haben gefeiert, dass Lazarus unter den Lebenden ist und sie haben ihre Freundschaft gefeiert. Doch halt! Einer spielt nicht mit. Einer kann es nicht ertragen, kann es nicht mehr ertragen als Maria das teure Öl verbraucht, um Jesus ihre Dankbarkeit und Liebe zu zeigen. Judas Iskarioth. Ich denke, wir sollten uns nicht empört von ihm abwenden, sondern ernst nehmen, dass er immer die andere Seite der gleichen Medaille darstellt, dass er immer auch einen Teil von uns widerspiegelt. Wer von Judas spricht, spricht auch von sich selbst, von den dunklen Seiten in uns, die wir nicht gerne wahr haben. Seine Frage ist doch gar nicht von der Hand zu weisen, auch wenn Johannes ihm das böse Motiv der Selbstbereicherung unterstellt. So viel Geld, das Maria da verschwendet, das ganze Jahresgehalt eines Arbeiters zu damaliger Zeit, einfach so verschwendet für ein paar Minuten des Wohlbefindens und der Nähe. Hatte Jesus sich nicht selbst zum Anwalt der Armen gemacht? Hatte er nicht für Gerechtigkeit gepredigt und die Reichen verurteilt? Judas kann rechnen, er führt sogar die Kasse er ist bestimmt von der Frage, was man mit dem Geld alles machen könnte. Und er begreift gar nicht, wo er ist, was da passiert. Er denkt an Menschen, die nicht da sind und sieht nicht, was vor Augen ist das Leben
4 selbst, Beziehung und Liebe. Er wähnt sich im Recht, er fühlt sich überlegen, doch er verpasst das Wesentliche: Das Leben basiert nicht auf Pflichten und Aufgaben, das Leben ist keine Rechnerei das Leben ist Beziehung. Judas ist nicht einmal in der Lage, Maria direkt anzusprechen: Was machst Du da? Ich versteh dich nicht. Er spricht über sie, weil er nicht in der Lage ist, in den direkten Kontakt zu gehen. Und so nimmt er in dieser Szene den Platz all der Menschen ein, die wie er vor lauter Rechnen und richten, vor lauter sozialdiakonischem Engagement und dogmatischem Predigen nicht mehr am Leben selbst teilhaben können. Und wird für mich so zur tragischen Figur und einem Menschen, der großes Leid trägt. Denn es gibt kein größeres Leid als die unerfüllte Sehnsucht nach Liebe, Beziehungen und Freundschaft. Dem Judas ist hier das Leiden nicht anzumerken, Johannes berichtet nicht darüber, aber das Bild macht es deutlich und die Worte Jesu: Lass sie! Zuerst musst du selbst Anteil am Leben bekommen, bevor du es weitergeben kannst und du hast nicht das Recht, es anderen zu nehmen. Ich möchte noch über Maria sprechen, deren Handeln uns einen Aspekt von dem eröffnet, was unser Ziel oder Sinn des Lebens ist. Maria sagt kein Wort, sie nimmt das kostbare Öl und salbt denjenigen, der ihr Leben mit dem Kostbarsten erfüllt hat. Sie wagt eine Menge: Sie übergeht Konventionen ihrer Gesellschaft, sie setzt sich aus dem Gerede und dem Gespött der Leute, sie macht sich verletzlich. Sie öffnet sich ihrer Liebe ganz und gibt ihr Raum, in diesem kostbaren Moment. Sie denkt nicht an Zahlen und Fakten, an Vernünftiges oder Dogmatisches sie begibt sich einfach so in den Moment der Beziehung sie zeigt ohne Scheu ihre Dankbarkeit und Liebe. Der Duft des Öles wird den Raum erfüllt haben und jedem, der dabei war, stieg der Duft in die Sinne und jeder hatte Anteil an der sich verströmenden Liebe. Das kostbare Öl schafft eine Verbindung unter diesen Menschen, die diesen Augenblick für den, der sich darauf einlässt, zu einem einmaligen Augenblick macht. Es ist die Liebe im
5 Angesicht des Todes, den Jesus selbst anspricht. Und was er sich gefallen lässt ist das, was er sie gelehrt hat die Freude an der Beziehung, an der Lebendigkeit und den Mut sich über die Rechner und Selbstgerechten hinweg zu setzen, die das Leben nur als Pflicht und Rechnen und Tun betrachten. Das Öl ist das Symbol für die Botschaft Jesu, die er uns für unser Leben gibt: Nimm die Liebe und die Freundschaft als das Kostbarste, was das Leben dir zu bieten hat, denn im Angesicht des Todes zählt nur das. Wir denken an diesem Tag an die Menschen, die wir verloren haben und die wir vermissen an die kostbaren Augenblicke, die wir teilten und die Liebe, die diese Beziehungen in unser Leben verströmen ließen. Aber wir denken auch darüber nach, was uns das Leben bedeutet im Angesicht unseres Todes, von dem wir nicht wissen, wann er kommt. Und ich wünsche uns, dass wir selbst Teil solcher Bilder werden, in denen wir einmalige Augenblicke der Liebe und Freundschaft erleben und dass der Judas in uns allen, der gegen die Verschwendung von Zeit und Geld die Stimme erhebt, kleiner wird angesichts der Großartigkeit des Lebens, das Jesus uns zeigt. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.