Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan. Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan. Von Gert Ueding

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Transkript:

Von Gert Ueding Wir alle können nicht wissen, welche unbekannten Tiere durch die schreckliche Gewalt der Tatsachen in uns emporgerufen werden können, so wenig wir wissen, was wir im Falle eines Nervenfiebers reden oder tun würden. Adalbert Stifter Man glaubt ein Großes zu meinen, wenn man sagt, der Mensch sei gut, ein viel Größeres aber liegt in der Feststellung, der Mensch sei böse. G. W. F. Hegel Notizen zur Werkgeschichte Über die Entstehungsgeschichte des letzten großen Dramas, das wesentlich in Brechts skandinavischem Exil entstand und fertig wurde, sind wir inzwischen gut unterrichtet. 1 Es hatte schon eine lange Entwicklung durchgemacht, als Brecht am 6. Mai 1940 (gerade hatte er eine»kleine leere wohnung in tölö für einen monat ergattert«) in sein Arbeitsjournal schrieb:»wir zogen in der letzten april(woche) ein, und ich nahm die arbeit an Der gute Mensch von Sezuan ernstlich auf. das stück ist in berlin begonnen, in dänemark und schweden aufgenommen und beiseitegelegt worden. ich hoffe es hier

fertigzubekommen.«2 Der Berliner Entwurf, noch unter dem Titel»Die Ware Liebe«, entstand Ende der zwanziger Jahre aus einer schon älteren Idee:»Fanny Kress oder der Huren einziger Freund«hatte das Stück heißen sollen. Das punctum saliens des Guten Menschen von Sezuan, die zeitweilige Verwandlung des guten in einen schlechten Menschen aus Nächstenliebe und Solidarität mit den Schicksalsgenossen, ist in jenem frühen Entwurf schon vorweggenommen. Anderer Provenienz ist der Einfall, drei Götter versucherisch auf Erden wandeln zu lassen; wir finden ihn erstmals verwirklicht in dem Gelegenheitsgedicht aus dem Jahre 1926»Matinee in Dresden«: eine lyrische Revanche für allerlei Unbill, die der Autor zusammen mit Arnolt Bronnen und Alfred Döblin in der alten sächsischen Residenzstadt erfahren hatte. 3 Seit diesen Anfängen waren also fast anderthalb Jahrzehnte vergangen, als Brecht am 20. Juni 1940 erleichtert bemerkte:»im großen und ganzen fertig mit dem Guten Menschen von Sezuan. der Stoff bot große schwierigkeiten, und mehrere versuche, ihn zu meistern, seit ich ihn vor etwa 10 jahren angriff, schlugen fehl.«4 Doch das Feilen und Verbessern nahm dann noch mehr Zeit in Anspruch, als er vorausgesehen hatte, und erst Anfang des Jahres 1941 wird die Arbeit an dem Stück abgeschlossen. Da waren auch die Namen Shen Te und Shui Ta gefunden (vorher: Li Gung und Lao Go),»die gefahr der chinoiserie«5 durch Zurücktreten der exotischen Momente (Opiumhandel) gebannt und schließlich die Lieder vom Rauch und vom achten Elefanten geschrieben. In der Tat eine lange Entstehungsgeschichte, und erst Zug um Zug hat der Stoff die Konturen erhalten, die uns das fertige Stück heute zeigt. Sieht man von dem frühen Gelegenheitsgedicht ab, so steht am Anfang jene Handlungsskizze im Hurenmilieu, aus dem Fanny Kress durch die Verwandlung in einen Mann auszubrechen sucht; sie scheitert, weil ihre Schicksalsgenossinnen, denen sie helfen will, nur selbstsüchtig ihre eigenen Interessen verfolgen. In der zweiten Bearbeitungsphase erscheint die»ware Liebe«dann schon als das besonders krasse Exempel kapitalistischer Ökonomie, die im

Zur-Ware-Werden aller Menschen und Dinge kulminiert. 1939 verfolgt Brecht diese Idee weiter, und ihm schwebt»die Darstellung eines wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes zwischen den Einzelhändlern und dem Besitzer einer Tabakladenkette, zwischen Kleinbürger und Großbürger, Bourgois, vor«. 6 Erst im letzten, Anfang des Jahres 1940 beginnenden Arbeitsstadium wird das ökonomische Motiv durchsichtig für den Antagonismus zweier Klassen, für die Ausbeutung der Armen durch die Reichen, und Shui Ta wird zu dem erfolgreichen Unternehmer, der in seiner Tabakwarenfabrik die Verwandten, Freunde und andere Leidensgenossen Shen Tes zu seinen Arbeitssklaven macht. Erst in dieser letzten Fassung meint Brecht seine wichtigste Absicht verwirklicht zu haben,»dem schematischen [auszuweichen]«: li gung mußte ein mensch sein, damit sie ein guter mensch sein konnte. sie ist also nicht stereotyp gut, ganz gut, in jedem augenblick gut, auch als li gung nicht. und lao go ist nicht stereotyp böse usw. das ineinanderübergehen der beiden figuren, ihr ständiger zerfall usw. scheint nun halbwegs gelungen, das große experiment der götter, dem gebot der nächstenliebe das gebot der selbstliebe hinzuzufügen, dem du sollst zu andern gut sein das du sollst zu dir selbst gut sein mußte sich zugleich abheben von der fabel und sie doch beherrschen. 7 Das Stück wurde erstmals 1953 im zwölften Heft der Versuche veröffentlicht.

Das Experiment der Götter Die Vorstellung von Göttern oder Gottesboten, die zu den Menschen kommen, sie zu prüfen und zu wägen, ist alt: ob die zwei Engel, die gen Sodom kamen oder die fremden Gäste, die bei Philemon und Baucis einkehrten, sie kommen den Menschen zur Probe, als Kundschafter, die über das Experiment Mensch Rechenschaft verlangen. Sie sind, wie bei Brecht, Beobachter, die sich nicht einmischen, weil das den Sinn ihrer Aufgabe verkehren würde und der gerade darin besteht, die selbständige menschliche Leistung herauszufinden. Dabei, so lehrt schon die alttestamentarische Geschichte, kommt es nicht auf die große Zahl der Gerechten an, ob es fünfzig oder nur zehn sind, bedeutet gleichviel:»ich will sie nicht verderben um der zehn willen.«8 Solange es überhaupt möglich ist, Gerechte zu finden, solange ist der Ausgang des Experiments streng genommen noch nicht entschieden. Die Götter in Brechts Stück wiederholen das große Experiment im Kleinen. Das Experiment, das Mensch und Welt insgesamt darstellen, wird projiziert in den Versuch, den die Götter mit Shen Te anstellen, indem sie ihr jene Morgengabe von»über tausend Silberdollar«(185) 9 zukommen lassen, von denen sie sich dann drei Tage später den Tabakladen kauft. Ein im Übrigen auch doppelsinnig zu verstehendes Geschenk, weshalb der erste Gott»verlegen«zu Shen Te bemerkt:»sprich aber zu niemand darüber, daß wir bezahlten. Es könnte mißdeutet werden«(184). Von fern klingt hier noch das erotische Motiv an, das zum Thema des Götterbesuchs spätestens seit den antiken Mythen gehört, aber in anderen Kulturkreisen ebenso verbreitet ist. Goethe hat den Stoff in seiner Ballade»Der Gott und die Bajadere«(»er bequemt sich, hier zu wohnen, / Läßt sich alles selbst geschehn. / Soll er strafen oder schonen / Muß er Menschen menschlich sehn«10 ) einer indischen Legende entnommen.

In diesen alten, populären, auch in Märchen und Sagen verbreiteten Vorstellungen, die noch in säkularisierten Zeiten die kollektiven Tagträume der Menschen formten, sind zwei wichtige Voraussetzungen enthalten: dass ein Gott zwar der Schöpfer und Herr der Welt und des Menschen ist, beide dann aber sich selber überlassen hat, weshalb sie sich ihren verschiedenen, auch widersprüchlichen Möglichkeiten und Anlagen gemäß verwirklichen können; und dass der Mensch frei ist, sich seiner positiven oder negativen Anlagen gemäß zu entwickeln, und er daher die Verantwortung trägt für sein Tun und Sosein, also auch zur Verantwortung gezogen werden kann. In einem der berühmtesten deutschen Dramen stehen eben diese beiden Grundannahmen zur Diskussion: In Goethes Faust wird der Mensch ebenfalls als ein göttliches Experiment besichtigt, und der Prolog im Himmel, das Gespräch zwischen Mephistopheles und dem Herrn, konzentriert sich auf dieses Thema. Dem göttlichen Vertrauen in die Gottebenbildlichkeit des Menschen steht die teuflische Anthropologie gegenüber, für die Mephistopheles das sprechende Bild von den»langbeinigen Zikaden«gefunden hat: wie eine von ihnen,»die immer fliegt und fliegend springt / Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt«, erscheint ihm der Mensch,»der kleine Gott der Welt«. 11 Freilich hat Goethe eine besondere Pointe für das überlieferte Modell gefunden. Mensch und Welt bleiben nicht sich selber überlassen, sie haben teil nicht nur am»schein des Himmelslichts«, sondern auch der Abweg, der Irrtum, die Verworrenheit sind göttlichen Ursprungs. Ja, gerade sie und das ist die dialektische Ironie des»prologs im Himmel«halten das Experiment nicht nur im Gange, sondern sind die Bedingung der Möglichkeit, dass es gut ausgeht: Der Herr zu Mephistopheles: