Emilie Zarte Sonnenstrahlen kitzeln Emilies Augen durch die geschlossenen Lider. Die Frühlingsluft dringt durch das gekippte Fenster und den lindgrünen Vorhang herein. Ein Lächeln spielt auf ihren spröden Lippen. Mit geschlossenen Augen und ihren neuen, viel zu großen Schuhen geht sie über das spärliche Gras, den rechten Arm weit nach vorn gestreckt. In der Linken trägt sie die mit Vaters altem Lederriemen zusammengeschnürten Schulbücher. Sie kennt den Weg in- und auswendig, dennoch pocht ihr Herz. Emilie! Vaters Stimme vibriert. Schau mal! Sie öffnet die Augen, die Sonne blendet, im Stolpern erkennt sie ein schwarzes Knäuel auf seinem Arm. Sie schluckt. Dann lässt sie den Riemen los und rennt mit großen Schritten auf den Vater zu. Vater, du hast... ist es wirklich... Groß und lachend steht er am Hoftor. Er winkt, doch mit jedem ihrer Schritte entschwindet er ein wenig mehr. Bleib! Warte... geh nicht! Mit aufgerissenen Augen sitzt Emilie im Sessel, ihre grauen Haare stehen wie elektrisiert vom Kopf ab. Unstet irrt ihr Blick über den braun melierten Läufer, dann aufwärts zum Bett, am Haltegriff entlang zur Notklingel, um schließlich an der Wand gegenüber zu verharren. Aus großen und kleinen Bilderrahmen starren sie fremde Menschen an. Sie versucht, mit der Zunge das Brennen auf den Lippen zu lindern. Es hilft nicht. Ihre spinnedünnen Finger schaben an der Armlehne. Von draußen dringen Wortfetzen an ihr Ohr. Sie kann schon wieder nicht einschlafen. Eigentlich ist sie dem Kinderbett entwachsen, doch Mutter sagt, sie soll sich schräg hineinlegen, dann geht es noch. Sie liegt schräg und kann trotzdem nicht schlafen. Vaters zornige Stimme 1
hält sie wach. Verdammt, ich kann nicht einfach so tun, als sei das normal! Dieser Mensch..., er stockt, dieser Hitler, das ist kein Mensch. Der lässt alle Juden verschwinden. Verstehst du? Wenn es stimmt, was die Leute erzählen, dann lässt er sie sogar um... Mit aller Kraft presst sich Emilie die Ohren zu und betet inbrünstig zum lieben Gott. Bitte mach, dass sie aufhören! Emilie fröstelt. Die Häkeldecke ist von ihrem Schoß geglitten. Unerreichbar. Gänsehaut krabbelt über die Oberarme hinauf zu den Schultern. Es klopft, die Tür geht auf. Ein großer junger Mann tritt ein. Emilie erschrickt. Er ist ein Riese. Ein Riese und seine Stimme so scharf wie ein Messer. Wie heißt du? Emilie gibt sich Mühe, ihren Namen zu nennen, doch die Angst vor dem SS- Mann hat ihr die Worte weggefangen. Er gibt ihr einen Stoß. Du bist Emilie? Emilie Moulin? Emilie nickt. Sicher sollst du sagen, du bist allein zu Haus, stimmt's? Emilie nickt wieder. Ein Fehler. Zu spät. Er stößt sie aus der Tür, sie fällt. Ich bin es, Großmutter, Thomás. Emilie drückt sich in den Sessel und kratzt an der Lehne. Ich bin es doch, Großmutter. Er hebt die Decke auf, legt sie in der Mitte zusammen und breitet sie über ihren Schoß. Erstaunt beobachtet sie ihn. Bitte, Vater, darf Seppi heute in meinem Bett schlafen? Bitte, nur ein Mal. Lächelnd deckt der Vater sie zu. Seppi sitzt neben ihrem Bett und schaut von einem zum andern. Seppi ist ein Hund und der gehört nicht ins Bett. Sei vernünftig. Es reicht doch, dass er bei dir im Zimmer schlafen darf. Emilie nickt. Bist du morgen früh zu Hause? Seine braunen Augen sind groß. Und traurig. Schlaf jetzt und frag nicht so viel. Er küsst sie auf die Stirn und zieht die Tür hinter sich zu. Eine Hand streichelt ihre Wange. Emilie blickt in große, traurige, braune Augen. 2
Oh! Sie berührt sein Kinn mit zitternden Fingern. Ich bin es. Thomás, dein Enkelsohn. Erinnerst du dich? Verwirrt schüttelt Emilie den Kopf. Der Riese steht seufzend auf und bürstet ihr die Haare. Weißt du noch? Als ich klein war, haben deine langen Haare den ganzen Rücken bedeckt. Er lächelt. Damals wollte ich Frisör werden. Es ziept, als Mutter ihre störrischen Haare zu Zöpfen flicht. Kurze Zeit später geht Emilie an Mutters kalter Hand einen langen, weißen Korridor entlang. Überrascht betrachtet sie die Bahren mit den seltsamen Säcken auf dem Flur. Abrupt bleibt Mutter stehen. Ihr durchdringender Schrei lässt Emilie erstarren. Ahhhh! Großmutter, hab ich dir wehgetan? Entschuldige! Mit zwei großen Schritten geht der Riese um Emilies Sessel herum und kniet vor ihr nieder. Zärtlich blickt er zu ihr auf. Erstaunt erkennt sie die vertrauten Augen: Hab... hab... hab... verr... verr...aten dich. Ihre Hände zittern, es gelingt ihr nicht, sein Gesicht zu berühren. Verraten? Mich? Du hast mich nicht verraten, Großmutter. Er hält ihre Hände, langsam lässt das Zittern nach und ihr magerer Körper entspannt sich. Durch die dünne Zimmerwand hört sie die Mutter weinen. Emilie liegt auf dem Boden, sie passt schon lange nicht mehr in das Bett. Auch nicht schräg. Seppi fehlt ihr. Mutter musste ihn hergeben. Sie kann kaum für sie beide sorgen. Emilie hält sich die Ohren zu und schließt die Augen: Lieber Gott... Wo bist du, Großmutter? Warm umspült sein Atem ihr Ohr. Ich, ich wollte nicht... Ihre Stimme versagt den Dienst. Was wolltest du nicht? Mutter, wann kommt Vater wieder? Das fragst ausgerechnet du? Emilies Tränen erfrieren. 3
Großmutter, was wolltest du nicht? Hierher ins Heim? Erstaunt sucht ihr Blick nach dem Ursprung der Stimme. Ich, ich... Es tut mir so Leid, sagt er leise. Du bist also Ruths Tochter? Die viel zu klein gewordenen Schuhe drücken. Emilie versucht die Zehen stillzuhalten. Es drückt trotzdem. Ja, antwortet sie der Bäuerin, die vor ihr hergeht. Plötzlich bleibt die Frau stehen und dreht sich zu ihr um. Emilie heißt du? Emilie lächelt unsicher. Nun, hier wirst du Magda heißen. Alle Mägde heißen hier so. Verstanden? Entgeistert nickt Emilie, die Bäuerin öffnet die Tür. Bei uns beginnt der Tag um fünf. Hast du verstanden, Magda? Emilie weint. Vorsichtig reibt sie ihren rechten Fuß an der linken Wade. Schmerzen die Zehen wieder? Behutsam zieht Thomás ihr die grauen Wollhausschuhe von den Füßen und massiert sanft die verkrümmten Zehen. Wenn ich nur wüsste..., flüstert er. Emile lehnt sich zurück. Sind deine Füße noch kalt? Nein, Vater, du hast sie warm gerubbelt. Emilie strahlt übers ganze Gesicht und ihre Wangen glühen von der Wärme des Ofens. Müdigkeit schleicht sich in ihre Augen. Sie wehrt sich, will nicht schlafen. Der Vater lacht und trägt sie in ihre Kammer. Sie kuschelt sich an ihn, er riecht nach Winter. Bumm bum, bumm bum, schlägt ruhig sein Herz. Morgen ist ein neuer Tag, Prinzessin. Sanft wischt Thomás Emilies Tränen fort. Sie schläft. Er hebt sie hoch und trägt sie zum Bett. Die Gummibundhose hängt schlaff um ihren zerbrechlichen Leib. Emilie hört sein Herz, bumm bum, bumm bum, und seufzt. In seine Trauer schleicht sich ein unsicheres Lächeln. 4
Er deckt sie zu und küsst sie auf die Stirn. Emilies Atem ist flach und ruhig. Sachte schleicht sich die Sonne aus dem Raum. Petra Endres, März 2006 Mundingerstr. 59 79312 Emmendingen Tel: +49 (0)7641/ 9359475 petra_endres@hotmail.com 5