Von der Sozialwissenschaft zur sozialen Kunst Ulrich Rösch



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Transkript:

Fachtagung Anthroposophie im Hochschulkontext Fachhochschule Ottersberg, 22. + 23. September 2011 Von der Sozialwissenschaft zur sozialen Kunst Ulrich Rösch Wenn in der Einladung zu dieser Fachtagung konstatiert wird, dass sich anthroposophische Konzepte und Ansätze im Sozialen und in der Kunst weitgehend isoliert von der zeitgenössischen Kulturpraxis entwickelt hätten, will ich dem in meinem Beitrag eine andere Seite hinzufügen. Allerdings muss ich einräumen, dass wenn solche Impulse wirksam werden, die sogenannte Öffentlichkeit, der Mainstream, sich damit sehr schwer tut und die Tiefendimension eines solchen Impulses recht wenig versteht. Man kann den Eindruck bekommen, dass etwas unanständiges, ungehöriges passiert sei. Allerdings geht es den "rechtgläubigen" Anthroposophen genauso. Wenn der neue Impuls ihrem bisher gepflegten, ihrer "Orthodoxie" nicht entspricht, wird er ignoriert, abgelehnt oder gar bekämpft. Über einen solchen Ansatz will ich heute sprechen. Unser soziales Leben ist in eine tiefe Krise gekommen. Alles schreit nach Veränderung. Es bedarf Zukunftsbilder, Visionen. Der Begriff, die Idee als Grundlage unserer Vision sozialer Gestaltungen muss von jedem einzelnen individuell hervorgebracht werden. Hinzukommen muss aber die Verständigung mit einer genügend großen Zahl von Menschen, damit eine neue Idee sozial wirksam werden kann. Einige Grundelemente der Wissenschaft und des Erkenntnisprozesses Rudolf Steiner gibt eine Grundlegung für die Wissenschaft in seiner erkenntniswissenschaftlichen Grundschrift "Wahrheit und Wissenschaft" (1891): Die gesetzmäßige Harmonie, von der das Weltall beherrscht wird, kommt in der menschlichen Erkenntnis zur Erscheinung. Es gehört somit zum Berufe des Menschen, die Grundgesetze der Welt, die sonst zwar alles Dasein beherrschen, aber nie selbst zum Dasein kommen würden, in das Gebiet der erscheinenden Wirklichkeit zu versetzen. 1 Hiermit ist die Aufgabe für die Wissenschaftler auch für die Sozialwissenschaftler gestellt: die in der Welt erscheinenden Phänomene sind so wahrzunehmen, dass im erkennenden Denken ihre Gesetzmäßigkeit, ihre Idee, ihr Begriff zur Erscheinung gebracht werden kann. Anders gewendet, nur in unserem Denken spricht sich das Phänomen in seiner reinen Form aus. Diesen Weg beschreitet Steiner in seinen Vorträgen: Phänomene werden von ihm geschildert, es werden sozusagen die Erscheinungen der Welt illustriert und der Zuhörer muss (kann) durch seine eigene Willensanstrengung das Gesetz, den Begriff oder das Wesen in seinem eigenen Denken zur Erscheinung bringen. 1 Rudolf Steiner, Wahrheit und Wissenschaft, Dornach 1980, GA 3, S. 90 Ulrich Rösch Von der Sozialwissenschaft zur sozialen Kunst 1

Die Idee als Wirklichkeit In der Einleitung zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften formuliert Steiner es so (1887): Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen. 2 Und weiter: Die Welt als ein Reales, das nicht Idee ist, erklären zu wollen, ist ein solcher Widerspruch, dass man gar nicht begreift, wie es überhaupt möglich ist, dass er Anhänger gewinnen konnte. 3 Diese Erkenntnis- und Wissenschaftsmethodologie gilt wie jede Gesetzmäßigkeit für alle Gebiete, sie muss aber jeweils eine Modifizierung für ein spezielles Fachgebiet finden. Einen Hinweis auf diese spezielle Form der Wirtschaftswissenschaft als besondere Form einer Sozialwissenschaft gibt Rudolf Steiner im ersten Seminar zur Weltwirtschaftslehre (1922): In der Volkswirtschaft brauchen Sie durchaus eine charakterisierende Methode, die die Begriffe dadurch zu gewinnen sucht, dass man von verschiedenen Ausgangspunkten kommt, sie zusammenhält, sie in Begriffen gipfeln lässt... Also, in der Volkswirtschaft können Sie nur, indem Sie mit dem Denken einrücken in die Erscheinungen, charakterisieren Wie Goethe beim Begriff der Urpflanze: er hat natürlich ein Schema hingezeichnet, hat aber ein fortwährend sich Verwandelndes gemeint. Volkswirtschaftliche Begriffe müssen im Leben fortwährend Metamorphosen unterworfen werden. Das ist es, was ich meine Aber man muss sich auch bewusst sein, dass das volkswirtschaftliche Denken gerade den Anspruch erheben muss, ziemlich total zu sein, ein Denken sehr umfassender Art zu sein 4 Wir gewahren die Welt in vielfältigen Erscheinungsformen und können darin eine innere Kraft, etwas Wesenhaftes erfahren. Nehmen wir das Phänomen der Arbeitsteilung: in der wirtschaftlichen Tätigkeit in einer arbeitsteiligen Gesellschaft kann man eine umfassende Arbeitsgemeinschaft erkennen, in der alle jeweils wechselseitig für die Bedürfnisse der anderen tätig sind. Die tatsächlichen Produktionsverhältnisse schaffen erstmals in der Weltgeschichte die Möglichkeit für eine weltweit verbundene solidarische Zusammenarbeit. Adam Smith sieht die Bedeutung durchaus richtig, belegt das aber mit seiner noch aus der alten Produktionsweise kommenden Theorie einer Gemeinschaft, in der jeder nur unmittelbar für seinen eigenen Profit, aus seinem Egoismus tätig ist. Daraus wird von ihm dann die Jahrhunderte weiterwirkende Ideologie des "Liberalismus" kreiert. Im Tun, in der Tatsachenwelt praktizieren die Menschen schon eine zukünftige Wirklichkeit, in ihren Köpfen tragen sie aber noch eine Ideologie aus vergangenen Zeiten. Die daraus resultierende Wirtschaftspraxis wirkt zerstörerisch für den Menschen und die Natur, weil eine nicht der Wirklichkeit entsprechende Theorie terrorisierend wirkt. Adam Smith sah im Egoismus die Triebfeder für allen wirtschaftlichen Fortschritt. Wenn alle am Marktgeschehen Beteiligten ihren Eigennutz bestmöglich ausleben würden, so würde eine unsichtbare Hand (the invisible hand) das Geschehen so umstülpen, dass es sich zum Heile des Ganzen auswirken würde. Obwohl die Entwicklung insbesondere im 20. Jahrhundert diesen Gedanken ad absurdum geführt hat, hat er doch einen so magischen Charakter, dass noch heute mancher daran glaubt. 2 Rudolf Steiner, Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften, Dornach 1987, GA 1, S. 126 3 ebenda, Abschnitt: Dogmatische und immanente Methode, S. 179 4 Rudolf Steiner, Aufgaben einer neuen Wirtschaftswissenschaft, Band II, GA 341, S.12, S.14, S.20 Ulrich Rösch Von der Sozialwissenschaft zur sozialen Kunst 2

Vergangenheit, Zukunft und von der Aktualität Sozialer Kunst Vergangenheit Gegenwart Zukunft der gewordene der soziale Organismus das Freiheitswesen soziale Organismus wird zum Kunstwerk gestaltet des Menschen Sozial-Wissenschaft Soziale Kunst Soziale Mission Zu dem erkenntnismäßigen Erfahren des gesetzmäßig Wirkenden muss ein künstlerischkreativer Prozess des freien Entwerfens sozialer Möglichkeiten hinzukommen. Dieser künstlerische Prozess kann aber nicht vom Einzelnen vollzogen werden, sondern nur in der Gemeinschaft freier Individualitäten. Hier kann und muss die Soziale Plastik wachsen, ein erneuerter, erweiterter Kunstprozess, der sozial wirksam wird. So haben wir uns auf den Weg zu begeben von der Sozialwissenschaft zur Sozialen Kunst, d.h. wir müssen den Wissenschaftler mit dem Künstler in uns ergänzen. Die Dimension wird darin deutlich, wenn wir Rudolf Steiners Wirken für ein freies Schulwesen betrachten. Rudolf Steiner schuf mit der Waldorfschule ein Beispiel, wie man in Freiheit eine menschengemäße Schule gestalten kann, sein gesellschaftlicher Kampf ging jedoch für ein freies Schulwesen, in der Freie Schulen verschiedenster Ausgestaltungen miteinander für das bessere Konzept ringen sollten. Eine Wissenschaft der Freiheit führt dazu, die menschenkundlichen Grundlagen der Waldorfpädagogik zu erforschen, das freie Kulturleben ermöglicht jedoch vielfältige Schulen, die miteinander mit verschiedenen pädagogischen Konzepten im Wettstreit liegen. Im Zusammenwirken freier Individuen kann der soziale Organismus als Kunstwerk erscheinen. Nicht darum geht es ein Utopia zu schaffen, sondern die Welt nach ihren Gesetzmäßigkeiten so umzugestalten, dass sie den schönen Schein (Friedrich Schiller) einer dem Menschen würdigen Gesellschaft erhält. Joseph Beuys kann uns da als ein Vorbild gelten. Friedrich Schiller gibt uns in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen einen knappen aber genialen Ausblick (1795): " und der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeitumstände so nachdrücklich aufgefordert wird, sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen 5 5 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 2. Brief Ulrich Rösch Von der Sozialwissenschaft zur sozialen Kunst 3

Beuys steht mit seiner plastischen Theorie in der Tradition Schillers Schiller beschreibt, wie der Mensch den Notwendigkeiten des Stofftriebes und auf der anderen Seite der Vernunftnotwendigkeit, den logischen Gesetzen im Formtrieb folgt. Beide Triebe unterwerfen den Menschen einem Zwang. Nur wenn er im freien Spiel eine Mitte findet, kann er die Freiheit verwirklichen. Schiller fängt hier an, den Kunstbegriff zu einer Lebenskunst zu erweitern. Kunst und Leben müssen eine Synthese bilden. Beuys folgt diesem Gedankenweg in seiner plastischen Theorie und zeigt insbesondere die sozialen Konsequenzen auf. Zwischen den Polen energetisches Chaos bei Beuys oftmals durch Fett oder Margarine repräsentiert, und der für Klarheit sorgenden Form der Raum- oder Gegenstandsecke, liegt die das Leben und zugleich die Freiheit ermöglichende Bewegung. 6 Komprimiert findet man diesen Beuys schen Ansatz auch in seinem Fettstuhl. Das amorphe Fett, das aber Träger der Energie ist, wird in einer freien, künstlerischen Weise in eine Form gebracht. Es entsteht der Stuhl mit Fett. 6 Joseph Beuys, aus einer Zeichnung zur Plastischen Theorie, in Johannes Stüttgen, Der ganze Riemen, Köln 2009 Ulrich Rösch Von der Sozialwissenschaft zur sozialen Kunst 4

7 Beuys führt dann seinen sozial-künstlerischen Ansatz bis in tiefste Gründe und die höchste Form hinein: "Wie kann jedermann, das heißt jeder lebende Mensch auf der Erde ein Gestalter, ein Plastiker, ein Former am sozialen Organismus werden? Dann ist man an einer Stufe der Kunstentwicklung angelangt, die viel spiritueller ist als jede Kunstentwicklung zuvor. Man arbeitet dann in einem wirklich lebendigen Material... Es muss ein weiteres Wirtschaftswachstum geben, aber in der Wirtschaft muss eben die soziale Skulptur wachsen. Da wo gegenwärtig die Entfremdung zwischen den Menschen sitzt - man könnte fast sagen als eine Kälteplastik -, da muss eben die Wärmeplastik hinein. Die zwischenmenschliche Wärme muss da erzeugt werden. Das ist die Liebe. Das ist das, was in diesem geheimnisvollen Christusbegriff steckt." 8 Beuys hat das konsequent gelebt. Während der Documenta in Kassel hat er 100 Tage mit den Menschen diskutiert - er war ein Gesprächskünstler. 7 Joseph Beuys, Stuhl mit Fett (1963), Heidelberg 8 Joseph Beuys, in Soziale Plastik, Achberg 1984, S. 21 Ulrich Rösch Von der Sozialwissenschaft zur sozialen Kunst 5

Immer mehr Studenten wollten bei ihm studieren, diesen genialen Künstler als Menschen kennen lernen und seinen erweiterten Kunstbegriff verstehen lernen. Das hat dann dazu geführt, dass ihm von der Bürokratie untersagt wurde mehr Studenten in seine Klasse aufzunehmen. Er hat daraufhin mit seinen Studenten das Büro der Hochschule besetzt, um ihre Einschreibung zu erzwingen. Der Rationalität der Staatsmacht folgend wurde er mit seinen Studenten von der Kultusbürokratie durch die Polizei aus der Hochschule entfernt. Der spätere Bundespräsident Johannes Rau trat in unsäglicher Weise als Repräsentant dieser Staatsmacht auf und entließ Beuys im Oktober 1972 fristlos aus dem Hochschuldienst. Beuys der geschätzte Lehrer und kreative Künstler hat daraufhin als FIU (Free International University) seine Arbeit auf der Straße vor der Akademie fortgesetzt und der Hoheitsakt der Polizei wurde in ein künstlerisches Multiple "Demokratie ist lustig" umgesetzt. Nach langem Prozess bis zum Bundesarbeitsgericht, bekam Beuys erst wieder 1978 seine Rechte als Professor zuerkannt und konnte seine Tätigkeit an der Kunstakademie fortsetzen. Fazit: Freies Wirken ist in staatlichen Instituten nicht möglich - freies Wirken braucht freie, staatsunabhängige, selbstverwaltete Einrichtungen. Noch genauer, es braucht eine Gesellschaft, die nach den Gesetzen des dreigegliederten sozialen Organismus eingerichtet ist: Freies Geistesleben - Demokratischer Rechtsstaat - Solidarische Wirtschaft. In der sozialen Kunst der Zukunft wird es nicht mehr darum gehen andere Bilder zu malen oder Skulpturen zu plastizieren, sondern den sozialen Organismus so zu gestalten, dass er den menschlichen Notwendigkeiten und Bedingungen und vor allem seinem Freiheitswesen entspricht. Ulrich Rösch Von der Sozialwissenschaft zur sozialen Kunst 6