1 V Strukturen des Deutschen 4. Sitzung Satztypen, Satz und Illokution 1. Besprechung der Übungsfragen 2. Satztypen 2.1 Verbalklammer Wir betrachten folgende Beispiele: (1) Hat er denn heute noch nicht eingekauft? (2) Jetzt mach doch endlich mal die Tür zu! (3) Gestern habe ich mir den Krimi angesehen. (4) Peter den ganzen Tag geschlafen. (5) Wer soll das dann aufräumen? Wir stellen fest: In allen fünf Beispielen ist das Prädikat zweiteilig. Es besteht aus dem Finitum (dem nach Person, Tempus, Numerus und Modus flektierten Verb) und einem weiteren, infiniten Prädikatsteil: (6) eingekauft mach zu habe angesehen geschlafen soll aufräumen Zwischen dem finiten und dem infiniten Prädikatsteil besteht Distanzstellung, man kann nicht sagen: (6*) Hat eingekauft er denn heute noch nicht? Jetzt mach zu doch endlich mal die Tür! Gestern habe ich angesehen mir den Krimi. Wer soll aufräumen das dann? Zumindest markiert ist die Stellung Peter geschlafen den ganzen Tag. Während in den Beispielen (1) und (3)-(5) der zweite Prädikatsteil in einer infiniten Verbform besteht (Partizip II bzw. Infinitiv), ist die in Beispiel (2) nicht so. Betrachten wir einmal, ob es im Deutschen noch andere Möglichkeiten gibt, den zweiten Prädikatsteil durch Ausdrücke zu realisieren, die keine infiniten Verbformen sind:
2 (7) bringt auf Präposition behält da Deixis stellt zur Verfügung Präpositionalphrase erhebt Anklage Substantiv sitzt still Adjektiv Bei den unter (7) aufgeführten Verben handelt es sich um zweiteilige Verben. Die Beispiele sind von Harald Weinrich (1993, 43), der als erster diese Verbgruppe sinnvoll benannt. Zweiteilige Verben sind solche, deren finite Formen stets zwei Teile aufweisen. Wir haben es also im Deutschen mit einer Situation zu tun, in der das Prädikat oftmals zweiteilig realisiert wird. Diese Zweiteiligkeit entsteht, wie gesagt, aus zwei Gründen: Entweder handelt es sich um eine finite Form eines zweiteiligen Verbs wie in (7). Oder das Prädikat besteht aus grammatischen Gründen aus zwei Teilen: (8) geschlafen (Perfekt) ist gegangen (Perfekt) te geschlafen (Plusquamperfekt) war gegangen (Plusquamperfekt) muss arbeiten (Modalverb mit obligatorischem Infinitiv) ist Arzt (Seinsverb mit Prädikativ) Aus diesen Gründen sprechen wir davon, dass das Prädikat im Deutschen häufig durch eine Prädikatsklammer realisiert wird, die aus einem finiten und einem infiniten Prädikatsteil besteht. Diese Zweiteiligkeit des Prädikats wird zum Strukturprinzip für einige deutsche Satztypen. 2.2 Topologisches Grundmodell - Satztypen Durch die Zweiteiligkeit des Prädikats werden drei Orte eröffnet: Orte vor dem Finitum Finitum (Präd fin ) Ort zwischen finitem und infinitem Prädikatsteil Abb. I: Durch zweiteiliges Prädikat eröffnete Orte infiniter Prädikatsteil (Präd inf ) Ort nach dem infiniten Prädikatsteil Dies führt uns auf das topologische (topos = Ort) Grundmodell des deutschen Satzes, das in Ansätzen zum ersten Mal von Drach (1937) eingehender beschrieben wurde. Wir verwenden hierfür die heutige Terminologie (Weinrich 1993, Rehbein 1992, Eisenberg 2004): Vorfeld Präd fin Mittelfeld Präd nf Nachfeld Abb. II: Topologisches Grundmodell
3 Wir tragen nun die Beispiele (1)-(5) in das topologische Grundmodell ein und fügen noch einige weitere hinzu: Vorfeld Präd fin Mittelfeld Präd inf Nachfeld (a) Hat er denn heute noch nicht eingekauft? (b) Jetzt mach doch endlich mal die Tür zu! (c) Gestern habe ich mir den Krimi angesehen, weil sonst nichts kam. (d) Peter den ganzen Tag geschlafen. (e) Wer soll das denn aufräumen? (f) Nimm doch noch etwas Brot! Ø (g) Da er dann die Krise gekriegt, oder so. (h) Wenn das klappt, machen wir einen drauf. Abb. III: Topologisches Grundmodell Wir beobachten Folgendes: - Das Vorfeld ist in zwei Fällen nicht besetzt: Im Fall (a) und im Fall (f). In (a) handelt es sich um eine Frage, auf die die Antwort nein oder doch erwartet wird. Fall (f) ist eine Aufforderung. - Bis auf (b) und (e) ist das Vorfeld bei solchen Äußerungen besetzt, die den Charakter von Assertionen haben. - Das Vorfeld kann besetzt werden durch Adverbien (b), (c), (g), durch Eigennamen (d) und durch Interrogativa (e). - Wenn das Vorfeld nicht durch das Subjekt besetzt ist (das Subjekt ist diejenige sprachliche Einheit, mit der das Finitum in Person und Numerus kongruiert), dann tritt das Subjekt direkt nach dem Finitum auf (sog. Verbzweitstellung). Diese Beobachtungen führen uns auf folgende Erkenntnisse: Der Satzbegriff ist im Deutschen ganz wesentlich an das Vorhandensein von zwei Satzgliedern, Subjekt und Prädikat geknüpft. Das Prädikat besteht immer mindestens in einer finiten Verbform. Es gibt offenkundig folgende Satztypen, die zu unterscheiden sind:
4 i) Einen Satztyp mit Finitum und Subjekt, bei dem das Vorfeld nie besetzt ist. Entscheidungsfragesatz ii) iii) iv) Einen Satztyp mit Finitum und Subjekt, bei dem das Vorfeld durch ein Interrogativum besetzt ist. Ergänzungsfragesatz (W-Fragesatz ) Einen Satztyp mit Finitum und Subjekt, bei dem das Vorfeld immer besetzt ist. Aussagesatz, Deklarativsatz Einen Satztyp mit einer Verbform im Imperativ ohne Subjekt, bei dem das Vorfeld nicht besetzt sein muss. Aufforderungssatz Der sog. Aufforderungssatz (iv) kein sprachlich realisiertes Subjekt und nimmt in dieser Aufstellung eine Sonderstellung ein, die später diskutiert werden wird. 2.3 Zum Verhältnis von Illokution und Satztyp Um die Strukturen, die wir unter 2.2 beschrieben haben, zu benennen, haben wir von Illokutionsbegriffen Gebrauch gemacht: Frage, Aufforderung, Aussage. Wieso unterscheidet man überhaupt zwischen Illokution und Satztyp? Man tut dies, weil ein äußerst reiches Spektrum von Illokutionen mit einer sehr beschränkten Zahl von Satzformen realisiert wird. Hierzu zwei Beispiele: i) Die Äußerung Es ist acht Uhr. kann man sich als Antwort auf die Frage Entschuldigen Sie, wie spät ist es denn bitte? denken. In diesem Fall dient sie dem Transfer von Wissen; es handelt sich um eine Assertion. Ruft jemand dies aber z.b. seiner Freundin durch die Badezimmertür zu, weil man schon spät dran ist, dürfte es sich eher um eine Aufforderung, wenn nicht gar einen Vorwurf handeln. ii) Entscheidungsfragen werden typischerweise durch die Form des Entscheidungsfragesatzes realisiert. Dies gilt aber auch für Bitten: Kannst du mir mal bitte das Salz rüberreichen? Das Verhältnis von Satztyp und Illokution gestaltet sich mithin folgendermaßen: Mit den Satztypen Entscheidungsfragesatz, W-Fragesatz, Aussagesatz und Aufforderungssatz werden typischerweise die Illokutionen Entscheidungsfrage, Ergänzungsfrage, Assertion und Aufforderung realisiert. Umgekehrt gilt dies jedoch nicht: Nicht alle Äußerungen in der Form eines Aussagesatzes sind Assertionen, nicht alle in der Form eines Entscheidungsfragesatzes Entscheidungsfragen, etc.
5 2.4 Nebensätze Ein Satztyp, der sich grundlegend von den bisherigen unterscheidet, ist bisher noch nicht besprochen worden: der Nebensatz. Nebensätze haben eine völlig andere topologische Struktur: einleitendes Element Mittelfeld Präd inf Präd fin weil er gestern im Kino war als Peter ihn dann schließlich in der Menge entdeckt te obwohl er das nicht tun wollte den er gestern im Supermarkt gekauft Abb. IV: Nebensatztopologie Nebensätze bestehen aus einem einleitenden Element, typischerweise einer Konjunktion oder einem Relativpronomen, durch das sie in den Hauptsatz integriert werden. Ferner haben sie ein Mittelfeld, das mindestens das Subjekt enthält, und das Finitum an letzter Stelle, dem, wenn vorhanden, der infinite Prädikatsteil voraufgeht. Bei komplexeren Prädikaten kann sich diese Reihenfolge ändern: als ob er das sofort hätte tun müssen. Die Funktion, die diese Struktur im Deutschen, kann man sich klar machen, wenn man die sprachgeschichtlich sehr junge weil+hauptsatz-struktur betrachtet, die Sprachkritikern häufig immer noch ein Dorn im Auge ist: (9) Also weil mit Hauptsatz, das kannst du doch nicht machen, weil das ist doch falsch! (Hörbeleg) Dieses schöne Beispiel, das ich einem Sprachkritiker verdanke, zeigt sehr deutlich die Funktion der deutschen Nebensatzstruktur. Wird es nämlich mit dieser realisiert, verliert es völlig seine Wirkung: (9 ) Also weil mit Hauptsatz, das kannst du doch nicht machen, weil das doch falsch ist. In (9 ) muss man auch anders interpungieren. In (9) man den Fall, dass weil vor dem Vorfeld, im sog. Satzanfangsrahmen positioniert ist (eine Position, die normalerweise den Konjunktionen denn, aber, und sowie oder vorbehalten ist):
6 SAR Vorfeld Präd fin Mittelfeld Präd inf Nachfeld Denn er gestern keine Zeit gehabt.. Und Oder Weil das ist doch Abb. IV: Konjunktionen im Satzanfangsrahmen falsch!. Wir sehen, in (9) der Sprecher das Bedürfnis, nach weil eine Illokution, einen Vorwurf, anzuschließen. Diese Vorwurfsqualität fehlt in (9 ) völlig. Wir schließen hieraus: i) Nebensätze haben keine Illokutionen. ii) Die Funktion der deutschen Nebensatzstellung ist es, propositionale Gehalte (also dasjenige, was durch Subjekt und Prädikat ausgedrückt wird), illokutionsfrei in den Hauptsatz zu integrieren. 3. Fazit Im Deutschen werden Prädikate häufig zweiteilig realisiert entweder, weil sie aus zweiteiligen Verben bestehen oder aus grammatischen Gründen. In Äußerungen treten Finitum und infiniter Verbteil in der Regel in Distanzstellung auf, wodurch ein topologisches Grundschema entsteht, das aus Vorfeld, Finitum, Mittelfeld, infinitem Prädikatsteil und Nachfeld besteht. Dieses Schema wird für vier Satztypen (Entscheidungsfragesatz, Ergänzungsfragesatz, Aussagesatz und Aufforderungssatz) genutzt, die sich im wesentlichen durch die Art der Vorfeldbesetzung unterscheiden. Mit diesen Satztypen werden die entsprechenden Basisillokutionen, aber darüber hinaus noch ein sehr reiches weiteres Illokutionsspektrum abgedeckt. Demgegenüber sind Nebensätze durch die Verbendstellung ihrer illokutiven Qualität beraubt. Übungsfragen: 1. Ist kennenlernen ein zweiteiliges Verb? Begründen Sie Ihre Antwort. 2. Tragen Sie folgenden Satz (Eisenberg 2004, 403) in das topologische Schema ein: Dass tatsächlich der gesamte Bereich zwischen Einleitewort und Verbalkomplex des Spannsatzes zum Mittelfeld gehört und insbesondere nicht die Erstposition wie eine Vorfeldposition auszeichnet, zeigt [Beispiel] 21.
7 3. Charakterisieren Sie das Verhältnis von Satztyp und Illokution an folgendem Beispiel: Reich mir doch mal bitte das Salz rüber. 4. Versuchen Sie, das folgende Beispiel in das topologische Grundschema einzutragen. Wo treten Probleme auf? 1 Weil Herr Klimmt gesagt, er wolle sich selbst und der Partei 2 die Belastungen, die mit dem Gerichtsverfahren verbunden sind, 3 auch sicherlich die öffentliche Diskussion nicht zumuten 4 und er ist deshalb zurückgetreten 5 und ich finde, das muß man respektieren. (Bundeskanzler Schröder in Das Journal anlässlich des Rücktritts von Verkehrsminister Klimmt) Literatur Drach, Erich (1937 ND 1963) Grundgedanken der deutschen Satzlehre. Darmstadt: WBG Eisenberg, P. (2004 2 ) Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. I: Das Wort. Bd. II: Der Satz Stuttgart: Metzler Rehbein, J. (1992) Zur Wortstellung im komplexen deutschen Satz. In: Hoffmann, L. (Hg.) Deutsche Syntax. Ansichten und Aussichten. Berlin: de Gruyter, 523-574 Weinrich, H. (1993) Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim: Dudenverlag