Das irrige Gewissen. Predigt von Prof. Dr. Georg May vom

Ähnliche Dokumente
Matthias Claudius. Ich habe die Welt länger gesehen als Du...

Predigt zu Johannes 14, 12-31

HGM Hubert Grass Ministries

Offenbarung hat Folgen Predigt zu Mt 16,13-19 (Pfingsten 2015)

+ die Kirche. Eine Einführung. M.E., September Alle Bilder selbst produziert oder Gemeingut/Public Domain.

Biblischer Heilungsdienst

Das Gesetz: Die Lebensregel des Christen? Johannes 14,21; 1.Johannes 3,21-24; Römer 7 8

TAUFE VON MARKUS ENGFER GreifBar plus 307 am 15. April 2012 LIED: IN CHRIST ALONE BEGRÜßUNG WARUM TAUFEN WIR: MT 28,16-20

Gottesdienst im Januar 2018 Taufe Jesu (7.1.)

Predigt zum Vaterunser

Versöhnt mit dem Vater. Über das Geheimnis der Beichte Believe and Pray,

Predigt für die Weihnachtszeit

Version 25. Juni 2015 Heilsgewissheit Einbildung oder Wirklichkeit?

Predigt. Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus! Amen

Warum? Was wuerdest Du fuer eine Welt erschaffen Wenn Du Gott waerst?

HEILIGER ARNOLD JANSSEN, Priester, Ordensgründer Hochfest

Gottesdienst am Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit. Joh 1

Inhalt Warum wir das Buch zusammen geschrieben haben

Gottesdienst zum Jahresthema am 1. Advent 2010

Nimm und iss! Henry Allan Ironside

HGM Hubert Grass Ministries

Das war die eine Seite in mir. So selbstbewusst konnte sie sprechen. Aber da gab es auch noch eine andere Seite. Erinnert ihr euch? Ich hatte Angst.

Predigt über Joh 16,5-15, Pfingstsonntag, den

WORTGOTTESDIENST IM JULI 2016 Fest Mariä Heimsuchung ( 2. Juli )

jemand segnet? Wie werde ich für andere zum Segen? 1- Mein erster Gedanke: Die verfehlte Wahrheit,

Was ich lese, zeigt, was ich bin

Predigt für einen Sonntag in der Trinitatiszeit. Friede sei mit uns von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.

Predigt des Erzbischofs em. Friedrich Kardinal Wetter beim Gottesdienst zum Fest Peter und Paul in der Münchner Liebfrauenkirche am 29.

Rosenkranz zum Lob der Heiligen Apostel

Predigt für die Epiphaniaszeit (1.)

Predigt zum Sonntag Laetare über Johannes 6, 51 63

ERSTE LESUNG Ez 33, 7-9

ASCHERMITTWOCH

Beten mit Kindern. Für Väter, Mütter und Jugendleiter zusammengestellt von Helge Korell (2009) DIE 10 GEBOTE GOTTES

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Jesus kam für dich! - Echt krass!

Predigt am Patronatsfest in Engden 2017 Thema: Was uns Antonius heute sagen kann

Text: Epheser 5,8-9 Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.

Predigt zum Israelsonntag Am 10. Sonntag nach dem Trinitatisfest (31. Juli 2016) Predigttext: Johannes 4,19-25

Johannesevangelium 1,1

Liebe Gemeinde, können Sie sich nach an die Mauer, die so viele Jahrzehnte zwischen der BRD und der ehemaligen DDR stand, erinnern?

Predigt Matthäus 5,8 Glückselig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen (Zeichnung von Vivien)

Predigtthema: >>Gottes Willen erkennen & Nach Gottes Willen leben<<

Religion ist ein organisiertes Glaubenssystem mit Regeln, Zeremonien und Gott/Götter.

Believe and Pray. 12. April Wer ist Jesus? Die Bergpredigt als Blick in sein Herz. Bergpredigt Teil I. Bischof Stefan Oster

1. Woche 4. Tag Hl. Geist. Aus dem Roman Die Hütte

Glaubensgrundkurs Lektion 7: Buße, Bekehrung, Rechtfertigung

A. Gebet zum Hl. Geist (und zur Gottesmutter Maria) Wann habe ich das letzte Mal das Sakrament der Versöhnung empfangen?

Gottes Sieg über mein Fleisch bzw. Leben im Geist Röm. 8, 2-9/12

B ibelstudium. Gnade und Glaube. Das Gesetz die Lebensregel für Christen? Teil 3. Christus das Lebensprogramm des Christen

Predigt über Johannes 4,46-54 am in Altdorf (Pfr. Bernd Rexer)

Es ist Zeit aufzustehen HIRTENBRIEF. zum 1. Adventssonntag 2016 Bischof Dr. Stefan Oster SDB

Vom Himmel geschenkte Gebete an Andrea, geringstes Rädchen im U(h)rwerk Gottes (Stand: )

Fürbitten 3. Russisch orthodoxe Kirchengemeinde Hl. Prophet Elias Stuttgart elias.com

Novene zur Ganzhingabe an Jesus

Der Grund, weshalb wir als christliche Kirche taufen, liegt also darin, dass Jesus es uns befohlen hat!

Predigt am 2. Adventssonntag 2015 Thema: Das Heilige Jahr der Barmherzigkeit

Josef. Auf Gott hören, vertrauen und handeln. Frauenfrühstück 19. März 2015 in Herxheim

«Ich will wissen, was ich glaube!»

Evangelisch-Lutherisches Pfarramt St. Christophorus Siegen Dienst am Wort. vor zwei Wochen habe ich euch schon gepredigt, dass das

Welche Gaben bekomme ich?

Novene zu Ehren des heiligen Antonius. Novene zu Ehren des heiligen Antonius Erster Tag - 4. Juni 2016

zum Beten mit der Liturgie

Die Gnade. Liebe Gemeinde! Der vorgeschlagene Predigttext für den diesjährigen 17.S.n.Tr. steht im Brief des Paulus an die Römer, im 10. Kapitel.

Bibelstellen zur Trauung Neues Testament

Jesus verspricht:... Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen.

Heilsgewissheit Aussagen in Gottes Wort

Das Offenbarwerden der Söhne Gottes Identität Teil 4

Jesaja 43, 1 7 Liebe Gemeinde, da haben wir eben aus dem Mund des Propheten Jesaja das wunderbare verheißungsvolle Wort Gottes gehört: Fürchte dich

Orientierungsfragen und -aufgaben für die Klausur zur Vorlesung über die Bedeutung der Wahrheit nach Thomas von Aquin.

Wie soll man beten? Erste Fragen zum Gebet. Das Geheimnis Jesu: das Gebet! 9

Arbeitsblatt 7: Verbindung nach oben zum 10. Textabschnitt

Believe and Pray. 16. November Sehnsucht und Feuer in Dir. Gebet Teil I. Bischof Stefan Oster

1. Johannes 4, 16b-21

Watchmann Nee. Das normale Christenleben

Mehr als alles hüte dein Herz; denn von ihm geht das Leben aus. Spr 4,23. Überlegungen zu einer Kultur des Herzens Priesterabend 16.1.

Es hat Gott wohl gefallen, dass in ihm alle Fülle wohnen sollte. Amen. Sonntag Exaudi, , 8.10 Uhr, Jakobuskirche Pfarrer Michael Seibt

22. Sonntag im Jahreskreis - LJ C 1. September 2013

GEMEINSCHAFT MIT GOTT BETEN 02-01

Liturgievorschlag für Weihnachten 2010

Die Person und das Wirken des Heiligen Geistes wurde lange: Ignoriert Missverstanden

Predigt Trinitatis. San Mateo Römer 11, 33-36

Taufe: Ein wichtiges Zeichen des Gehorsams

Mit Jesus gestorben und auferstanden!

Der Schöpfer und die Menschen in ihren Sünden Warum ein Menschenopfer nötig war (Teil 1)

Glaube kann man nicht erklären!

Evangelisch-Lutherisches Pfarramt Siegen und Lüdenscheid Dienst am Wort. (Erstes Kreuzwort Lukas 23, 34)

Umarmt von Gottes Barmherzigkeit den Ablass als geistlichen Schatz neu entdecken

100 Jahre Fatima. und heller als die Sonne" gewesen.

Römer 14, 7-9 Predigt zum Ewigkeitssonntag, in Landau und Crailsheim

Bedingungslose Liebe ist,

Wer ist Gott? Wie ist Gott? Mit Gott Kontakt aufnehmen

waren, die Türen aus Furcht vor den Juden verschlossen -, da kam Jesus und trat in ihre Mitte, und er sagt zu ihnen: Friede sei mit euch!

Psalm 84,2-3: Predigt zu Kirchweih: Gottes Wohnungen

David Kern Baptisten Gemeinde Hohenacker Predigt March 6, Wichtige biblische Worte

1 4. Sonntag / Fastenzeit Predigt 2010

GOTTESDIENSTORDNUNG ST. NIKOLAIKIRCHE PRITZWALK

Predigt zu allein die Schrift und allein aus Gnade am Reformationstag 2017

19. Sonntag im Jahreskreis A 10. August 2014

Gottes Wille eure Heiligung Predigt zu 1 Thess 4,1-8 (20. So n Trin, )

Transkript:

Das irrige Gewissen Predigt von Prof. Dr. Georg May vom 17.04.2016 Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Geliebte im Herrn! Am vergangenen Sonntag hatten wir versucht uns vorzustellen, was das Gewissen ist. Durch das Gewissen wird die objektive Gesetzesforderung subjektiviert und zur wirklichen Richtschnur menschlichen und menschenwürdigen Handelns. Die Vernunft hält dem Willen die Güter vor. Der Wille kommt der Erkenntnis entgegen, und so erfolgt die innere Bindung an die objektive Gesetzesverpflichtung und wird diese zur eigenen Forderung; sie zu verletzen ist Sünde. Das Gewissen ist eine Gabe Gottes. Es ist das in unser Inneres gelegte Mittel, den Weg zum Himmel zu finden. Dies geschieht, indem das Gewissen den Willen Gottes sucht und zu erfüllen versucht. Aber das Gewissen ist auch gefährdet wie alle Gaben Gottes. Es kann verbildet, missbraucht und verkehrt werden. Der Schriftsteller Erich Kästner hat einmal geschrieben: Das Gewissen ist um hundertachtzig Grad drehbar. Deswegen müssen wir heute darüber nachdenken, wie es um das irrige und wie es um das wachsame Gewissen steht. Erstens bedenken wir das irrige Gewissen. Wenn das Gewissen wie manche irrtümlich behaupten eine unmittelbare übernatürliche Stimme Gottes wäre, könnte es nicht irren, denn Gott irrt sich nicht. Aber es ist eben nur eine innere Leuchtkraft, die in den Menschen gelegt wurde als Gewissensanlage. Auf dieser Gewissenanlage erhebt sich das sittliche Wissen, und das sittliche Wissen führt bei der Gelegenheit des Handelns zum Gewissensurteil. Aber das sittliche Wissen und das Gewissensurteil schöpfen ihre Kenntnis aus menschlichen und damit aus fehlbaren Quellen; sie sind also Irrtümern zugänglich. Irrtum ist ein falsches Urteil infolge von Unwissenheit. Das wahre Gewissen beurteilt als gut, was objektiv gut ist, und böse, was objektiv böse ist. Das irrende Gewissen beurteilt als gut, was objektiv böse ist, und als böse, was in sich gut ist. Man unterscheidet zwei Arten des Irrtums: den unüberwindlichen und den überwindlichen. Der unüberwindliche Irrtum besteht darin, dass das Gewissen so vollständig von der irrigen Ansicht eingenommen ist, dass es keine Möglichkeit hat, sie abzulegen. Trotz gehöriger Sorgfalt kann der Irrtum nicht beseitigt werden. Der Irrtum ist unüberwindlich, wenn er entweder als solcher gar nicht erkannt wird, oder wenn er trotz dieser Erkenntnis nicht abgelegt werden kann, weil die Möglichkeit zur Belehrung durch eigenes Nachdenken oder durch Autorität fehlt. Anders der überwindliche Irrtum. Überwindlich ist ein Irrtum, bei dem das Gewissen imstande und verpflichtet ist, den Irrtum abzulegen, aber es wendet nicht die nötige Sorgfalt an. Der Irrtum könnte bei gehöriger Sorgfalt beseitigt werden, aber das Gewissen verschafft sich nicht die nötige Belehrung. Welches ist nun die pflichtmäßige Einstellung gegenüber dem irrigen Gewissen? Da lautet der erstaunliche Satz: Das unüberwindlich irrige Gewissen verpflichtet in derselben Weise wie das wahre Gewissen. Ich sage noch einmal diesen fundamentalen Satz: Das unüberwindlich irrige Gewissen verpflichtet in derselben Weise wie das wahre Gewissen. Warum und wieso? Ja, weil derjenige, der ein unüberwindlich irri- 1

ges Gewissen hat, überzeugt ist, die Stimme Gottes in diesem Gewissen zu vernehmen, weil er dem Gewissensspruch so gehorcht, als ob es der wahre Wille Gottes wäre. Wer dem unüberwindlich irrigen Gewissen folgt, ist der Überzeugung, Gottes Willen zu tun und tun zu müssen, er hält für geboten, was ihm das Gewissen vorstellt. Solche Beispiele für das unüberwindlich irrige Gewissen gibt es schon in der Heiligen Schrift. Jesus spricht einmal von den Verfolgern der Christen: Es kommt die Stunde, da jeder, der euch tötet, Gott einen Dienst zu tun meint die Folge eines unüberwindlich irrigen Gewissens. Paulus hat uns ein anderes Beispiel überliefert. Es lebten ja damals in der Mehrzahl die wenigen Christen mit Heiden zusammen, und die Heiden opferten den Götzen. Sie opferten ihnen Fleisch, Götzenopferfleisch. Die Juden verboten den Genuss des Götzenopferfleisches. Paulus war anderer Ansicht. Es gibt keine Götzen und deswegen gibt es auch kein Götzenopferfleisch. Das Fleisch ist genau dasselbe wie anderes Fleisch; man kann es unbedenklich essen. Aber, sagt er, wer beim Essen von Götzenopferfleisch daran zweifelt, ob er es essen darf, unsicher ist, ob er es essen darf, der ist verurteilt, wenn es isst, weil er gegen sein Gewissen handelt. Er hat zwar ein irrig gebildetes Gewissen, aber es schreibt ihm dies vor. Er handelt gegen seine Überzeugung, und alles, was gegen die Überzeugung ist, ist Sünde. Es ist ungenau, zu sagen, das Gewissen sei immer wahr. Wahrheit ist Übereinstimmung des Denkens mit der objektiven Norm. Aber ein irriges Gewissen ist eben nicht wahr, weil es mit der Norm nicht übereinstimmt. Es wäre auch ungenau zu sagen: Folge deinem Gewissen und betrachte alles als objektive Sünde, was gegen dein Gewissen ist. Diese Rede wäre nur dann gültig, wenn das Gewissensurteil im gefallenen Menschen stets wahr und sicher wäre. Aber der Mensch kann eben einen falschen Syllogismus, eine falsche Schlussfolgerung ziehen. Oder er kann auch den richtigen Grundsatz falsch anwenden, er kann die objektive Wirklichkeit verkennen. Häretisch wäre es zu sagen: Allein dein Gewissen entscheidet, weil man die objektive von der Kirche verkündete sittliche Ordnung nach Art der Protestanten ablehnt. Ein Katholik darf nie sein subjektives Gewissensurteil gegen die verpflichtende Norm der Kirche stellen, denn die Kirche verkündet im Auftrag Gottes die sittliche Wahrheit. Das überwindlich irrige Gewissen kann nur in sehr bedingter Weise Richtschnur des Handelns sein. Denn hier steht neben dem Urteil über eine zu vollziehende Handlung im Hintergrund eine Ahnung, dass es unrichtig sein könnte, eine Mahnung, es genauer zu prüfen. So darf die Vernunft sich hier nicht als Stellvertreterin Gottes ansehen. Man darf nicht gegen das überwindlich irrige Gewissen handeln. Man darf ihm aber auch nicht folgen. Es ist vielmehr Pflicht, den überwindlichen Irrtum zu überwinden. Wodurch? Durch Befragung von kompetenten Personen, durch eigenes Nachdenken, durch Gebet. Wie soll man sich im Gewissenszweifel verhalten, wenn man sich nicht sicher ist: darf man das tun, darf man es nicht tun? Nun, um sittlich einwandfrei zu handeln, ist es notwendig, dass das Gewissen zu der Folgerung kommt: Die Handlung ist unbedenklich, sie ist erlaubt. Es ist nicht gestattet, eine Handlung zu begehen, wenn man einen positiven Zweifel an der Erlaubtheit der Handlung hat. Da hat man die Pflicht, diesen Zweifel zu beheben, bis man die Gewissheit erlangt hat. Im anderen Falle würde man sich der sittlichen Weisung ent- 2

ziehen, man würde unsittlich handeln. Ja, das zweifelnde Gewissen weist selbst auf einen Irrweg hin, es erkennt die Möglichkeit der Sünde. Es setzt sich dann der Mensch auch bewusst der Gefahr der Sünde aus. Nein, man muss den praktischen Zweifel beseitigen. Aber wenn es nicht möglich ist, ihn zu beseitigen, was dann? Kann der Zweifel nicht gelöst werden, und muss man sich doch entscheiden, dann ist der sichere Weg zu gehen, also der Weg, der mit größerer Wahrscheinlichkeit von Gott gewollt ist. Man muss, wenn man zwischen zwei Übeln zu wählen hat, das geringere Übel wählen. Das sind die Grundsätze, meine lieben Freunde, über das irrige Gewissen. Nun zweitens: das wachsame Gewissen, die Wachsamkeit des Gewissens, die Zartheit des Gewissens; das Gewissen soll nämlich wachsam und zart sein. Das Gewissen ist wachsam, wenn es nicht nur durch schwere Anstöße, durch außergewöhnliche Fragen, sondern auch durch kleinere Anlässe geweckt und zum Nachdenken angeregt wird. Das stumpfe, das schlafende Gewissen regt sich selten. Es warnt nicht vor der Tat und es macht auch nachher keine Vorwürfe. Dagegen das wache Gewissen bewirkt ein Aufmerken, ein rasches und leichtes Aufmerken auf die sittliche Seite des Verhaltens, eine gewissenhafte Fragestellung. Der Gegensatz des zarten Gewissens ist das laxe Gewissen. Das laxe Gewissen schwächt die Forderung ab. Ich habe einmal einen Herrn kennengelernt, der fortwährend die Rede führte: Es ist alles Wurscht. Nein, meine lieben Freunde, es ist nicht alles Wurscht. Der Gegensatz des zarten und leichtfertigen Gewissens betrifft die rechte Antwort auf die gestellte Frage. Er bezieht sich auf den sittlichen Inhalt des zum Akt erwachten Denkens. Ein zartes Gewissen ist geneigt, auch die feinen Unterschiede in der Sittlichkeit zu beobachten. Der Mensch mit dem laxen Gewissen wird die Sittenregeln in weniger wichtigen Fragen abschwächen oder gar leugnen. Ein zartes Gewissen ist eben die Folge davon, dass man Gott ernst nimmt, dass man Gott liebt und dass man auch in geringen Dingen sich weigert, ihn zu betrüben. Das zarte Gewissen fällt einem nicht in den Schoß; es muss ausgebildet werden. Wodurch? Indem man sich belehren lässt, indem man durch Erziehung das Gewissen schult, indem man die niederen Leidenschaften beherrscht, indem man edle Gefühle pflegt und indem man beharrlich der Stimme des Gewissens folgt. Zu diesen psychologisch-ethischen Bedingungen kommt die religiöse Lebensführung. Wer von vornherein entschlossen ist, Gott zu dienen und zu folgen, der wird auch ein zartes Gewissen ausbilden. Wer regelmäßig Gewissenserforschung hält jeden Abend und vor jeder heiligen Beichte, wer sich prüft, der wird zu einem zarten Gewissen kommen. Das stumpfe Gewissen dagegen entsteht, wenn man die innere Selbstzucht vernachlässigt, wenn man großzügig ist gegenüber der sittlichen Forderung, wenn man sich den Sinnen überlässt und natürlich auch durch schlechte Erziehung. Im stark abgestumpften Gewissen erhebt sich sogar bei schweren Sünden kein fühlbarer, kein lebhafter Widerspruch. Es gibt Auswüchse und Fehlformen des wachen und zarten Gewissens. Das ist das ängstliche oder skrupulöse Gewissen. Skrupulosität ist eine Verfassung des Gewissens, bei der aus Furcht vor der Sünde sowohl die Wachsamkeit als auch die Zartheit des Gewissens krankhaft gesteigert sind. Das wachsame Gewissen reagiert auf ernste berechtigte Anlässe durch Aufmerken und Fragen, dagegen das skrupulöse 3

Gewissen ist ungesund erregbar. Es stellt sittliche Erwägungen über Dinge an, die gar keine Sünde sind, die zweifellos erlaubt sind und bereits durch Belehrung oder eigenes Urteil sichergestellt sind. Ebenso ist hier die Zartheit des Gewissens einseitig überspannt. Es wird regelmäßig das Schlimmere angenommen und grundlos werden Sünden und Sündengefahren vermutet. Die näheren Merkmale der Ängstlichkeit sind also Erforschung des Gewissens über kleinliche, oft lächerliche Dinge, ruhelose Wiederholung des Nachdenkens, unnötige Fragen an den Priester, ängstliches Abwägen vor der Tat und Niedergeschlagenheit nach der Tat, grundlose Annahme einer schweren Sünde oder einer ungültigen Beichte, allgemeine zaghafte Besorgnis Gott gegenüber. Nun will ich nicht bestreiten, dass auch ganz normale Menschen gelegentlich solche Skrupel haben können. Man kann sich fragen: Habe ich alles richtig gebeichtet? Ehrlich gebeichtet? Vollständig gebeichtet? Aber was hier gemeint ist, dieser Zustand der Ängstlichkeit, das ist eine krankhafte seelische Erscheinung; man könnte sie als Angstneurose bezeichnen. Die Skrupel reihen sich den Zwangsvorstellungen an, also Vorstellungen, die sich als fremdartige und peinliche Elemente in das Seelenleben eindrängen und trotz hartnäckiger Bekämpfung immer wiederkehren. Die psychologische Wurzel ist eine krankhafte Furcht, und diese Furcht gewinnt neue Nahrung, indem man den Trieb hat, über immer neues Nachdenken zur Ruhe zu kommen. Ich habe einmal einen Priester kennengelernt, und ihn zu betreuen versucht, der Skrupulant war. Er hatte bei der Feier der heiligen Messe den Kelch mit dem kostbaren Blut des Herrn aus Versehen umgeschüttet. Er kam nicht darüber hinweg. Er war überzeugt, dass er sich die Exkommunikation zugezogen hatte, die dem Apostolischen Stuhl zur Lossprechung vorbehalten ist. Er veranlasste mich, den Papst anzugehen, um von der Strafe losgesprochen zu werden. Der Papst sprach ihn los, er gab ihm die Absolution, aber weit gefehlt, damit fand er keine Ruhe. Er hatte Zweifel, ob er den Vorgang richtig dargestellt hatte, ob er vielleicht doch aus Absicht gehandelt hatte und nicht aus Versehen. Er fand keine Ruhe. Skrupulosität kann man bekämpfen und heilen. Das wichtigste Heilmittel für Skrupulanten ist der willige und vertrauensvolle Gehorsam gegenüber dem Seelenführer, also normalerweise gegenüber dem Beichtvater. Dieser muss freilich eine besondere pastorale Klugheit besitzen. Er muss auch Liebe und Geduld beweisen, denn die Skrupulanten sind nicht mit einem Male zu heilen; das Leiden dauert oft lange Zeit. Gleichzeitig muss der Beichtvater entschieden und fest sein. Der Ängstliche soll das Urteil seines geistlichen Führers als sein eigenes wahres Gewissen betrachten. Weil sein Gewissen krank ist, muss er gewissermaßen stellvertretend das Gewissen des Beichtvaters als sein eigenes gelten lassen. Man kann ihm Regeln geben, z.b. die Regel, nie auf bloße Zweifel zu achten, sondern ausschließlich auf die klaren Gebote des Gewissens und dabei rückhaltlos den Befehlen des Beichtvaters zu folgen. Jede Selbsterforschung nach der Handlung, zumal nach inneren Versuchungen, ist zu meiden. Im Allgemeinen geschieht die Heilung durch Ablenkung des Geistes vom Ich. Denn manchmal sind Skrupulanten von einem geheimen Stolz erfüllt, sie bilden sich etwas ein auf ihre Skrupulosität, sie sind eben besonders gewissenhaft, meinen sie. Aber die Heilung muss statt des ängstlichen Strebens nach Heilsgewissheit die Ehre Gottes als Höchstes suchen, sie muss in ihrem Lichte sich ihrer kleinlich armse- 4

ligen Haltung schämen. Die beste Ablenkung geschieht durch Arbeit, durch regelmäßige, fesselnde Arbeit. Das Gewissen, meine lieben Freunde, ist eine Wirklichkeit. Wir spüren es alle. Wir haben das aktuelle Gewissen erkannt als jene Funktion im Menschen, in der die persönlich verpflichtende Forderung des sittlichen Sollens zum Bewusstsein kommt. Der Dichter Matthias Claudius hat einmal an seinen Sohn geschrieben: Schaue immer so wenig wie möglich auf dich selbst. Scheue niemand so viel als dich selbst. Inwendig in uns wohnt der Richter, der nicht trügt, und an dessen Stimme uns mehr gelegen ist als an dem Beifall der ganzen Welt. Nimm dir vor, nichts wider seine Stimme zu tun. Was du sinnest und vorhast, schlage zuvor an deine Stirn und frage ihn um Rat. Er spricht anfangs nur leise und stammelt wie ein unschuldiges Kind, doch wenn du seine Unschuld ehrst, löst er gemach seine Zunge und wird dir vernehmlicher sprechen. So Matthias Claudius an seinen Sohn. Das Gewissen, meine lieben Christen, ist eine Gabe Gottes. Es soll uns der Führer zum Himmel sein. Aber es wird dies nur können, wenn wir immer beten: Neige, o Herr, mein Herz zu deinen Geboten! Amen. 5