Nimmt die Kinderarmut ab? - Eine Analyse aus aktuellem Anlass- Jahrestagung der AG Nordwest des VDSt, Osnabrück, 4. Mai 2012 Prof. Lothar Eichhorn, LSKN lothar.eichhorn@lskn.niedersachsen.de
Problemstellung Weniger Kinderarmut in Niedersachsen Schlagzeile der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, 26. 1. 2012 Der Boom am deutschen Arbeitsmarkt lindert die Kinderarmut: Weil mehr Eltern im wirtschaftlichen Aufschwung einen Job finden, sind weniger Kinder auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen. In Niedersachsen sank die Zahl der armen Kinder um 20%. Nimmt die Kinderarmut ab? 2
Die HAZ weiter Gab es im September 2006 noch 201600 Hartz-IV- Empfänger unter 15 Jahre, waren es im September 2011 noch rund 161800 ein Rückgang um 19,8%... Die Entwicklung in Niedersachsen zeigt, dass das Gesamtkonzept der vergangenen Jahre Früchte trägt, sagte die niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan. Nimmt die Kinderarmut ab? 3
Sozialberichterstattung sagt aber anderes aus Laut amtlicher Sozialberichterstattung lag die Armutsgefährdungsquote der Kinder unter 18 in Niedersachsen 2006 bei 20,1%, 2010 bei 19,4%. Was ist nun richtig? Nimmt die Kinderarmut um 20% rasch ab und stagniert sie bei leichter Abnahme? Datenquellen, Methoden, demografische Effekte, und Auswirkungen von Rechtsänderungen auf die Statistik Nimmt die Kinderarmut ab? 4
Amtliche Sozialberichterstattung I Konzept der relativen Armutsmessung liegt zugrunde; dieses Konzept wiederum basiert auf normativen Wertentscheidungen Armutsgefährdungsquote: Anteil der Menschen mit weniger als 60% des durchschnittlichen niedersächsischen Einkommens (Nettoäquivalenzeinkommen) Datenbasis: Haushaltsnettoeinkommen lt. Mikrozensus; Nettoäquivalenzeinkommen wird berechnet nach neuer OECD- Skala (Skalenwerte von 1,0-0,5 0,3) Gemeinsame Berechnung der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Quelle: Amtliche-Sozialberichterstattung.de Hier: Daten für Niedersachsen nach Regionalkonzept Nimmt die Kinderarmut ab? 5
Amtliche Sozialberichterstattung II Langjähriger Trend zur sozialen Spaltung war bis 2005 messbar. Seit 2005 aber stagniert die Armutsgefährdungsquote bzw. ist sogar leicht zurückgegangen: 2005: 15,1% 2006: 14,3% 2009: 14,6 % 2010: 14,5 % Aber für Kinder und Jugendliche unter 18, für große Familien und vor allem für Alleinerziehende liegen die Armutsgefährdungsquoten deutlich höher: Nimmt die Kinderarmut ab? 6
Ausgewählte Armutsgefährdungsquoten Haushalte mit 2 Erwachsenen und 3 und mehr Kindern 2006: 29,4 % 2010: 26,7% Alleinerziehende 2006: 38,5% 2010: 39,9% Kinder und Jugendliche unter 18 2005: 20,2% 2006: 20,1% 2007: 20,1% 2008: 20,1% 2009: 19,9% 2010: 19,4% Nimmt die Kinderarmut ab? 7
Entwicklung von Kinderarmut (SGB II-Bezug) im Fünfjahresvergleich Daten über SGB-II-Empfänger sind Daten über bekämpfte Armut (behördlich wahrgenommene) Armut, die mit Sozialleistungen bekämpft wird. Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die in Haushalten von SGB II-Empfängern leben, (Quelle: BA für Arbeit) September 2006: 201592 September 2011: 161748 Rückgang um 19,8% bzw. -39844 Personen Bundesweit gab es einen Rückgang um 13,6 %. Nimmt die Kinderarmut ab? 8
Regionalstruktur der Kinderarmut 2010 Nimmt die Kinderarmut ab? 9
Gründe für den Rückgang: Demografische Entwicklung Die Zahl der Kinder unter 15 sank von 2006 bis 2011 (jeweils Jahresanfang ) um 9,6 % 1.1.2006: 1236981 1.1.2011: 1118029 Die Quote der bekämpften Kinderarmut ( Anteil der Kinder unter 15 in SGB II-Bedarfsgemeinschaften an allen Kindern dieser Altersklasse) sank damit um 1,8 Prozentpunkte: 2006: 16,3% 2011: 14,5% Die Zahl der armen Kinder ging also unter anderem darum zurück, weil es weniger Kinder gibt. Nimmt die Kinderamut ab? 10
Gründe für den Rückgang: Rechtsänderungen Eine Neuregelung beim Kinderzuschlag trat 2008 in Kraft. Den Kinderzuschlag bekommen Eltern, wenn bestimmte Ober- und Untergrenzen des Einkommens nicht über- oder unterschritten werden und wenn nach Zahlung des Kinderzuschlags kein Anspruch mehr auf SGB-II-Zahlungen mehr besteht. Durch den Kinderzuschlag stehen die Betroffenen rechtlich besser da, haben aber kaum mehr Geld als vorher. Die Rechtsänderung beeinflusst die Zeitreihen über den SGB II-Bezug. Die Entwicklung sieht besser aus, als sie war. Es gibt eine schlechte Datenlage über den Kinderzuschlag. Die Statistik-Abteilung der BA ist nicht zuständig, sondern die Familienkasse. Nimmt die Kinderamut ab? 11
Der Effekt des Kinderzuschlags Kinder im Sinne des Kinderzuschlags sind Kinder im steuerrechtlichen Sinne bis zu 25 Jahre. Es sind nur wenige Daten über die Altersstruktur der Empfänger publiziert; diese beziehen sich auf das ganze Jahr. 2006 gab es in Niedersachsen 7382 Kinder, die Kinderzuschlag bekamen. 2011 waren es schon 26496, ein Zuwachs von 19114 Personen. Das ist ein Zuwachs von +259%; bundesweit sogar um +394%. Der Zuwachs tritt vor allem ab 2008 auf. Die Zahl der Kinder unter 15, die Kinderzuschlag beziehen, stieg geschätzt von 6390 (2006) auf 22935 (2011). Nimmt die Kinderarmut ab? 12
Zusammenfassung Nimmt man alle Informationen über die Entwicklung der Quote der bekämpften Kinderarmut zusammen, ergibt sich: 2006: 201592 SGB II-Bezug + 6390 KiZ = 207982 2011: 161748 SGB II-Bezug + 22935 KiZ = 184683 Die Quote sank demnach von 16,8 auf 16,5%. Damit ist der scheinbare Widerspruch geklärt: Die Zahl der armen Kinder ist tatsächlich stark gesunken, aber die Armutsquote ist nahezu unverändert geblieben. Die Daten der Sozialberichterstattung und die der BA für Arbeit widersprechen sich nicht, sondern ergänzen sich. Nimmt die Kinderarmut ab? 13
Weitere Informationen www.amtliche-sozialberichterstattung.de www.arbeitsagentur.de www.lskn.niedersachsen.de, hier: Statistische Monatshefte Niedersachsen, Heft 3/2012 Bei Interesse: Lothar.Eichhorn@lskn.niedersachsen.de Nimmt die Kindearmut ab? 14