Schnauze und spitzen Ohren. Anubis, Sohn des Osiris, Gott der Toten, der die Fürbitte für sie entgegennimmt. Heilige Jungfrau von Medjogorje, flüsterte Katalina und fügte vorsichtshalber noch Sveti Ante hinzu, den heiligen Antonius von Padua, einen Mann für alle Fälle. In ebendieser Sekunde berührten die Strahlen der Morgensonne den Scheitel des größten der Grabsteine und bekränzten Anubis. Die weiße Gestalt stand noch im Schatten. Wie eine Skulptur. Ein Götzenbild. Eine altägyptische Hohepriesterin. Wie etwas Uraltes, aufgestiegen aus der Krypta unter ihren Füßen. Und dann drehte sie sich, wandte Katalina langsam das Gesicht zu, ein Gesicht mit dunklen Tälern und scharfen Kanten unter den weißen Haaren, darin Spuren von Schönheit und Ebenmaß. Ein Gesicht, dessen Augen geschlossen zu sein schienen. Katalina hielt die Luft an.
Im nächsten Moment war die Vision vorbei. Anubis verwandelte sich in einen schwarzen Schäferhund, der sich niedersinken ließ und den Kopf auf die Vorderpfoten legte. Er trug ein weißgelbes Ledergeschirr, das Katalina vertraut war. Ein Hund, der so etwas trug, war etwas Besonderes. Anubis, der Gott der Toten, begegnete dem Reich der Lebenden als Blindenhund. Und die Gestalt, die sich in einer fließenden Bewegung wieder von Katalina abgewandt hatte, konnte nicht sehen. Sie trat ein paar Schritte zurück. Selbst der sonst so neugierige Zeus schien die Magie der Szene zu spüren und folgte ihr bereitwillig, fort von der Wiese, die jetzt im frischen Sonnenlicht schimmerte. Katalina fröstelte. Was für ein starker Zauber. Die weiße Frau übte ihren Kult ausgerechnet über der Stelle aus, unter der die Krypta lag. Und der schwarze Hund hatte direkt vor dem
größten und ältesten der Grabsteine gesessen. Natürlich ein Zufall, alles andere wäre Aberglauben. Natürlich, tönte ein spöttisches Echo in ihrem Inneren. Auf dem Rückweg gingen sie am Schloss vorbei. Die Sonne stand inzwischen hoch genug, um hier und da das Blätterdach der alten Bäume zu durchdringen, das sie so eifersüchtig zusammenhielten. Zeus trabte ebenso entschlossen nach Hause, wie er vorhin nach dem allmorgendlichen Spaziergang verlangt hatte. Nur Katalina zögerte, sie kämpfte mit dem Gefühl, auf Watte zu gehen. Oder auf Scherben. Die weiße Gestalt beunruhigte sie. Sie kam ihr vor wie ein Bote mit schlechten Nachrichten. Das Zeichen an der Wand. Zeus hob das Bein am großen Wegstein vor dem Traiteurshaus, das war ein feststehendes Ritual. Das Traiteurshaus lag direkt an der
Schlossmauer, vor dem Tor zum Hof; hier wohnte einst der Koch, der, wenn man nach Pracht und Größe des Hauses ging, etwas dargestellt haben musste im gräflichen Haushalt. Katalina schaute hoch zu den Fenstern im ersten Stock und bildete sich ein, das weiße Licht des Computerbildschirms zu sehen. Sie klingelte nicht. Früher wäre Moritz längst heruntergekommen, um Zeus und sie beim Morgenspaziergang zu begleiten. Früher. Aber seit Wochen schon saß er von morgens bis abends vor dem Computer und forschte in den Weiten des Netzes nach seiner seit Jahrzehnten verschollenen Mutter. Als ob ein Mann in den besten Jahren nicht auch noch anderes im Kopf haben sollte. Mich, zum Beispiel, dachte sie. Aber vielleicht hatte er längst genug von der Beziehung zu einer Tierärztin mit Neigung zu Schwermut?
Zeit zu gehen. Neue Stadt, neues Glück. Sie war schon viel zu lange hier und auch noch aus dem falschen Grund: ein Mann. Katalina folgte Zeus durch das große Tor in den Schlosshof. Neben Bergen von Sand und Kies blitzte die neue orangefarbene Mischmaschine. Der rechte Flügel des hufeisenförmig angelegten Barockbaus, der Gartentrakt, leuchtete frisch verputzt in warmen Ockertönen, auch die Rahmen der bodentiefen Fenster waren frisch gestrichen. Aus der Kapelle gegenüber wehte ein kühler Hauch. Nasses Mauerwerk. Der Putz, den man drinnen abgeschlagen hatte, wartete draußen neben dem Dixiklo auf den Abtransport. Es musste jahrelang hineingeregnet haben in die Familienkapelle, die Bücher aus der Bibliothek im ersten Stock hatte man wegwerfen müssen. Katalina war der Geruch vertraut. Nichts konnte ihn auslöschen. Sie war mit ihm