Inhalt 1 Anstoß 7 2 Dribbeln und Demokratie Ungarn nach 1945 15 3 Keine Nation, keine Mannschaft die Stunde Null der deutschen Fußballrepublik 29 4 Zwischen Volk und Regime die ungarische Nationalmannschaft als sozialer Kitt 43 5 Man spielt wieder mit uns Deutschland und die geknickte Souveränität 73 6 Ungarn zwischen Reform und Endspiel 103 7 Deutschland 1954: Sieg und Wirtschaftswunder 117 8 Die Bäume wachsen nicht bis zum Himmel Ein verlorenes Spiel und ein gescheiterter Volksaufstand 135 Inhalt 5
9 Sind wir wieder wer? Deutschland nach der Weltmeisterschaft 165 10 Wir gegen uns Die DDR zwischen brüderlicher Solidarität und nationaler Verbundenheit 191 11 Nach dem Spiel 205 Anhang Anmerkungen 213 Zeitzeugen 220 Ausgewählte Literatur 222 Danksagung 224 6 Inhalt
1 Anstoß Die Spieler unserer Goldenen Mannschaft waren für uns Nationalheilige. Dazu gehörte auch György Szepesi, der legendäre Rundfunkreporter. Er war der zwölfte Mann der Mannschaft. (...) Anfangs sah es so aus, als würde es ein absolut routinemäßiger Sieg werden genauso, wie wir es erwartet hatten. Wir waren gespannt, weil es an diesem Tag um nicht weniger als das Schicksal unserer Nation ging. ( ( ( György Dalos in der Erinnerung an das Finale von Bern 3:2 Der Titel von Fritz Walters Buch beschränkte sich auf das Notwendige und er ließ nichts offen. 3:2 so gewann die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im WM-Endspiel am 4. Juli 1954 in Bern. 3:2 und niemand hatte es erwartet. Für die Experten waren die Deutschen höchstens Außenseiter. Erst seit 1950 durften sie wieder international mitspielen und sie hatten es mehr schlecht als recht getan; durch die WM-Qualifikation hatten sie sich geschleppt, in der Vorrunde des Turniers 3:8 gegen Ungarn verloren und erst im Viertel- und Halbfinale des Turniers hatten sie wirklich überzeugt. 2:3 Ein Buch, das in Ungarn niemand schreiben wollte auch dieser Titel hätte nichts offen gelassen. 2:3 so verlor die ungarische Fußball-Nationalmannschaft im WM-Endspiel am 4. Juli 1954 in Bern. 2:3 und niemand hatte es erwartet.»goldene Mannschaft«nannte man sie. In 32 Spielen in Folge Anstoß 7
ungeschlagen, über vier Jahre lang; Olympiasieg in Helsinki; das Jahrhundertspiel in Wembley gewonnen; die Deutschen in der Vorrunde abgefertigt. Ungarn war der größte Favorit aller Zeiten. Und nun das... Deutschland war Weltmeister. Ungarn war nichts. Rein sportlich war das von der deutschen Warte aus gesehen höchst erfreulich und von der ungarischen aus mehr als betrüblich. Doch die Bedeutung des Endspiels von Bern ging über den rein fußballerischen Aspekt hinaus. Der Sieg wurde zum gesamtgesellschaftlichen Wunder, die Niederlage zur Katastrophe einige würden an dieser Stelle anfügen:»verklärt«. Tatsächlich geht es um Mythenbildung, wenn das»wunder von Bern«das deutsche Bewusstsein berauscht, und der Einfachheit zuliebe wird die Realität gerne ein bisschen zurechtgestutzt. Da heißt es schon mal, dass ohne das»wunder von Bern«das Wirtschaftswunder vermutlich später eingesetzt hätte, wenn es denn überhaupt gekommen wäre als ob ein gewonnenes Fußballspiel das Bruttosozialprodukt in die Höhe treiben könnte. Vom»eigentlichen Gründungsakt der Bundesrepublik«ist da schnell die Rede als ob ein Fußballspiel das Fundament eines Staates sein könnte. Wenn man beim Historiker Joachim Fest nachfragt, ob er diesen ihm zugeschriebenen Satz wirklich so gesagt hat, dann winkt er ab. Was er einmal in einer Fernsehsendung gesagt habe sei, dass es drei Gründungsväter der Republik gegeben habe: Adenauer im politischen, Erhard im wirtschaftlichen und Fritz Walter im mentalen Bereich. Das ist natürlich etwas anderes und damit kommt man dem Kern der Ereignisse von Bern ziemlich nahe: Mental ist das entscheidende Stichwort, sowohl für Deutschland, als auch für Ungarn, wiewohl sich das magische Dreieck Politik, Volk und Sport nicht auseinanderreißen lässt. Wenn Fußballmannschaften auf internationaler Ebene gegeneinander antreten, dann finden sich ganze Nationen 8 Anstoß
hinter ihren Teams zusammen.»wir haben gewonnen«, heißt es dann, oder»wir haben verloren«. Politisch waren die Spiele der deutschen und der ungarischen Mannschaft bereits vor dem Endspiel von Bern. Wenn Deutschland auf Frankreich oder auf Jugoslawien traf, dann traf es auf eine Nation, der sie während des Krieges Ungeheuerliches angetan hatte. Wenn Ungarn auf Österreich traf, dann fand die Rivalität der k. u. k.-zeit ihre subtile Fortsetzung. Nur die politische Klasse selbst ging in beiden Ländern auf ganz unterschiedliche Weise mit dieser Rolle um. In Deutschland leugnete man von Seiten der Politik zwanghaft jegliche politische Bedeutung des Sportes in Ungarn wurde der Sport am Volk vorbei zum Zeichen der Überlegenheit eines ganzen Gesellschaftssystems stilisiert. Woher diese Unterschiede in der politischen Bewertung? Welche Rolle nahmen die Mannschaften in beiden Gesellschaften ein? Es war der Kalte Krieg, der das Schicksal beider Nationen bestimmte. Ihre neuen Gesellschaftsordnungen hatten beide nicht aus freien Stücken gewählt, sie wurden ihnen von den Alliierten vorgegeben: die kommunistische auf der einen, die demokratische auf der anderen Seite. In Ungarn war es bald der pure Hass auf den stalinistischen Terrorstaat, in Deutschland eine apolitische Reserviertheit der ungewohnten Demokratie gegenüber, die auf ganz gegensätzliche Weise die Entfremdung zwischen Staat und Volk kennzeichneten. Die Nationalmannschaften nahmen in beiden Ländern eine Mittlerposition ein. Die Spieler um ihren Kapitän Ferenc»Öcsi«Puskás waren so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner zwischen stalinistischem Regime und ungarischem Volk eine Art nationaler Kitt. Auch wenn die Partei die Fußballer als Waffe im Propagandakrieg nutzte die Menschen standen zu ihren Jungens. Die Siege Anstoß 9
der Mannschaft waren auch ihre Siege, sie sorgten für Selbstbewusstsein und für Augenblicke nationaler Zusammengehörigkeit. In Bern war dieser Kitt mürbe geworden: Nach dem Schlusspfiff brach sich die Wut des Volkes Bahn. In Ungarn kam es zu den ersten Ausschreitungen, seitdem die Kommunisten die Herrschaft inne hatten und sie fielen in eine Zeit, da bereits ein Machtkampf zwischen Stalinisten und Reformern in der kommunistischen Partei brodelte. Die Niederlage im Fußball war der Auslöser, die Ursachen lagen tiefer: Die Proteste richteten sich gegen die Stalinisten um Parteichef Mátyás Rákosi und sie waren das Vorspiel zum Volksaufstand zwei Jahre später. So wie die ungarische Mannschaft nach der Niederlage in Bern ihre Funktion als Vermittler eingebüßt hatte, so manifestierte sich diese Rolle in Deutschland erst nach dem Sieg der Fußballer um Fritz Walter. Der Weltmeistertitel bescherte den Menschen ein Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit und auch der Identifikation mit ihrem Staat. Weniger neues Selbstbewusstsein, als viel mehr ein neues Bewusstsein von sich selbst hätten die Deutschen bekommen, urteilt Joachim Fest. Dass es etwas anderes war als die plumpe Wir-sind-wieder-wer-Floskel, das bestätigen auch die anderen für dieses Buch befragten deutschen Zeitzeugen. Um die Bedeutung dieses Endspieles für beide Nationen zu begreifen, um die völlig unterschiedlichen Erwartungen an die Mannschaften zu verstehen, muss man ihre Entwicklung vor dem Hintergrund der jeweiligen Nachkriegsgesellschaften sehen. Vergleicht man sportliche und gesellschaftliche Tendenzen jener Jahre, so wird deutlich, auf welch unterschiedliche Weise Fußball Geschichte spielen kann. Die Reportagen des Endspiels sind in beiden Ländern zu Legenden geworden»kinder, ist das eine Aufregung. Ihnen an 10 Anstoß
Der ungarische Nationaltorhüter Gyula Grosics beim»jahrhundertspiel«im Wembley-Stadion, das die Ungarn 6:3 gegen England gewannen. den Lautsprechern wird es genauso gehen, wie den 30.000 Schlachtenbummlern, die sicherlich aus Deutschland wieder hergekommen sind, und wie uns drei, vier Leuten in der engen Rundfunkkabine. Wir haben heute übrigens die beste Rundfunkkabine. Zum ersten Mal, aber auch begründet, denn wir sind Anstoß 11