Hessischer Rundfunk: Sonntagsgedanken 16. Oktober Sonntag nach Trinitatis Pfarrer Christoph Wildfang. hr1-7:45 Uhr Arnoldshain

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Transkript:

Gedichte als Sehenswürdigkeit Heute werde ich über die Buchmesse in Frankfurt bummeln. Von mir aus könnte diese Messe ruhig länger dauern. Ich mag es, so langsam rumstöbern, überall mal stehenbleiben, grad bei den kleinen Verlagen. Mir gefällt auch das Schwerpunktthema Island in diesem Jahr. Vor einiger Zeit war ich mal in Island unterwegs. In aller Ruhe bin ich über diese raue Insel gefahren und bin lange durch einsame Gegenden gewandert. Viel Wind, viel Grün und: viele Geschichten! Ich hatte damals eine Menge Zeit für diesen Urlaub auf Island mitgebracht. Hatte mir extra die längsten Tage des Jahres ausgesucht, im Juni. Wo es dort überhaupt nicht dunkel wird. Wenn ich nun an Island denke, dann an viele schöne Märchen, Geschichten, Sprichwörter und Gedichte. Oft stehen diese Texte einfach so an Parkplätzen, Ausruhbuchten für Autos auf langen einsamen Straßen auf Tafeln als Sehenswürdigkeiten! Manchmal stehen so Schilder in Island eben so mitten im Nirgendwo. Was soll denn hier sein? Außer Schafen und Islandpferden und viel Grün? Im Hintergrund einer der vielen Wasserfälle? Also eingeparkt in die Leere einer gepflegten geteerten Ausbuchtung mit einigen leeren Picknicktischen aus Holz und ein großes Schild gelesen: Hier spielte folgendes Märchen Ich habe mich dann anfangs immer gewundert, wie jemand drauf kam, dass grad hier, wo man gar nichts Besonderes sieht, außer Grün und Grün und Wolken und Wind, dass grad hier eine besondere Geschichte, eine Fabel, ein Märchen gespielt haben soll. Ab und an waren es auch Geschichten über Trolle und Elfen. Je öfter ich aber an windigen Parkplätzen schöne und gruselige und absonderliche isländische Geschichten und Gedichte las, in die leere weite Landschaft schaute und meine Gedanken schweben ließ, umso mehr gefiel mir das. Geschichten als Sehenswürdigkeiten. Und ich fing an ein wenig zu bedauern, dass ich das bei uns nicht so kenne. Sind denn eigentlich nur Bauten etwas Besonderes? Schlösser, Burgen, Brücken und Dome? Geschichten einen Ort und einen Rastplatz zu geben, das finde ich richtig gut. Ich stelle mir vor, ich düse eine Bundesstraße entlang, überhole mehrfach ein wenig gestresst, und stehe dann bei einer Pause irgendwo an einer Schautafel mit Gedicht. Hier spielte dieses Märchen. Oder: Hier ist ein guter Ort für dieses Sprichwort. Hier in diesem Wald, an dieser Kurve wohnt ein Gedicht. Gedichte gehören nicht nur ins Literaturhaus Frankfurt - 1 -

oder in ein Schulbuch oder auf 3SAT. In Island haben mich die nordischen Märchen, Fabeln, Sprichwörter und Gedichte an der Straße beeindruckt. Welches Gedicht könnte ich für einen Parkplatz bei uns empfehlen, das mir wichtig ist? Teil II Welches Gedicht könnte ich für einen Parkplatz empfehlen? Jorge Luis Borges wird ein wunderschönes Gedicht zugeschrieben. Das bremst mich ab, lässt mich verschnaufen und gibt meinen um den stressigen Verkehr kreisenden Gedanken einen Rastplatz der ganz anderen Art. Das Gedicht von Borges beginnt so: Wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben. Falls du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben, nur aus Augenblicken, vergiss nicht den jetzigen! Jorge Luis Borges hat das verfasst oder es wird ihm zugeschrieben. Da war er 85 und schaute zurück. Das Gedicht von diesem argentinischen Poeten fiel mir während der letzten Frankfurter Buchmesse in die Hände. Es fasziniert und motiviert mich nun schon ein Jahr und ich habe versucht, es in meinem Leben auch mit Sinn zu erfüllen. Es geht so weiter: Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben, würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht mehr so perfekt sein wollen, ich würde mehr entspannen. Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen. Borges schließt mit: Aber sehen Sie ich bin 85 Jahre und ich weiß, dass ich bald sterben werde. Die Rückschau dieses großen argentinischen Dichters habe ich mir nun schon ein Jahr zu Herzen genommen. Wenn mich jemand fragen würde, ja, diesen Text würde ich für einen Parkplatz empfehlen, ohne wenn und aber, ob s nun ein Text aus Südamerika ist und was der an einem Parkplatz in Deutschland zu sagen hätte. Ich stelle mir das Borges-Gedicht so richtig optisch auf einem Schild vor, auf einer Tafel als Sehenswürdigkeit, eben wie ich das in Island sah. Menschen parken kurz, vielleicht einfach für ein menschliches Bedürfnis, schlackern ihre Beine aus, recken und räkeln sich, holen ein belegtes Brötchen raus und lesen. Und in ihrer reisenden Rastlosigkeit, auf ihrem Weg nach sonstwo denken sie - vielleicht: Ja, es ist wunderbar, 85 werden - 2 -

zu dürfen, aber ich möchte schon heute versuchen, Borges Ratschläge in die kleinen Münzen meines Alltags umsetzen.. Manche werden das Gefühl aus diesem Text Achtsamkeit nennen, eben mit Sorgfalt jeden Tag als von Gott geschenkt entgegen zu nehmen, als etwas immens Wertvolles. Nicht dazu gedacht: einen Tag, auch nur eine Stunde gedankenlos zu verschwenden, zu vergeuden. Viel zu schade, als dass ich sie mit Streit und Hektik verfülle. Wo keine Sorgen sind, dass ich mich trotzdem sorge und grübele, was vielleicht alles kommen oder passieren könnte. Das Borges-Gedicht muss ja nicht allein bleiben. Vielleicht finde ich auf einem anderen Parkplatz mal eine biblische Geschichte. Es gibt eine, die ich mir gut vorstellen kann., Teil III Ich stelle mir den nächsten Parkplatz vor mit Worten aus der Bibel, die ich im Alltag gerne bedenke, die mir Zuflucht geben. Es sind Worte von Jesus: Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? (Mt 6.26+27) Genau diesen Text stelle ich mir nun auf irgendeinem Parkplatz als Sehenswürdigkeit vor. Leute kommen, lesen, stocken. Ich muss nicht die jetzigen Augenblicke wie kostbare Münzen sammeln, horten, vielleicht gedanklich den Tag oder nur die Stunde auswringen, was nur drin stecken könnte. Gott schenkt mir zum Erleben meiner jetzigen Augenblicke auch Gelassenheit. Erinnert mich eben einfach hier und heute an meinen Wert bei Gott. Ich muss Gott gar nichts vorweisen, vorlegen können, ich bin gemocht, geschätzt, so wie ich bin. Ob ich nun erfolgreich irgendwo im Auto hinhetze, ob mein Termin klappt, ob ich gewinne oder überzeuge - ich bin gemocht. Wie bei dem Gedicht von Borges steckt auch im Jesus-Wort ein Hinweis auf meine begrenzte Lebenszeit. Die macht ja die einzelnen Augenblicke so besonders wertvoll. Borges kommt anscheinend erst mit 85 hinter ein wichtiges Geheimnis des Lebens, recht spät. Ich möchte mir das Jesus-Wort zu Herzen nehmen, dass niemand zu seiner Lebenszeit etwas dazu addieren kann und sich trotzdem von Gott geschätzt und gehalten weiß! Ich weiß ja, dass ich nicht noch mal einfach alles auf - 3 -

Null schalten kann und von vorne los leben kann. Ich muss mit meinen Fehlern und Schwächen leben, hoffentlich lernbereit, und endlich. Ich kann die Spuren meines Lebens nicht wie bei einem Computer formatieren und quasi ganz frisch absolut neu anfangen. Borges spürte im Alter, was schließlich wirklich wichtig ist, sicher mit einem Hauch von Wehmut, eben nicht alles richtig gemacht zu haben. Mir hilft dazu auch mein Glauben, ausgedrückt in dem Jesus-Wort: achtsam und sorgsam zu leben und zu erleben aber auch gehalten und geschätzt. - 4 -

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