Geisteswissenschaft Karin Ulrich Zu Gustave Le Bons: "Psychologie der Massen" Die Massenseele - Über Massenbildung und ihre wichtigsten Dispositionen Essay
Technische Universität Darmstadt Institut für Philosophie Proseminar Wintersemester 2009/2010 Essay: Gustave Le Bon: Psychologie der Massen Die Massenseele Über Massenbildung und ihre wichtigsten Dispositionen Vorgelegt von: Karin Ulrich Studiengang: JBA Soziologie/Philosophie
2 Le Bon: Unter bestimmten Umständen, und nur unter diesen Umständen, besitzt eine Versammlung von Menschen neue, von den Eigenschaften der einzelnen, die diese Gesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten. Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele, die wohl veränderlich, aber von ganz bestimmter Art ist. Die Gemeinsamkeit ist nun das geworden, was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder, wenn man lieber sagen will, als psychologische Masse bezeichnen werde. Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Massen. 1 Diese erste allgemeine Beschreibung von Le Bon beinhaltet bereits alle wesentlichen Aspekte, die hier näher betrachtet werden sollen. Vor allem möchte ich mich mit dem Grundprozessen in der Bildung organisierter Massen und ihren eigentümlichen Eigenschaften im Detail auseinander setzen. Dazu werde ich Le Bons Grundannahme einer Opposition von Masse und Individuum, Unbewusstheit und Bewusstsein, mit Unterstützung des Textes, konkret sichtbar machen. Als zentrales Merkmal, in diesem Zusammenhang, steht die Ersetzung der bewussten Aktivität des Einzelnen durch die unbewusste Masse und dem, was Le Bon mit der Bildung einer Gemeinschaftsseele bezeichnet. Abschließend werde ich versuchen die herausgearbeiteten Kernhypothesen Le Bons exemplarisch anhand von Beispielen kritisch zu hinterfragen. Grundsätzlich benötigt eine organisierte Masse bestimmte Voraussetzungen um überhaupt entstehen zu können. Dabei reicht die alleinige Tatsache, dass viele Individuen sich zufällig zusammenfinden noch lange nicht aus, um zu einer organisierten Masse zu werden. Diese unterscheidet sich in mehreren Punkten von einer bloßen Ansammlung von Menschen. Das von Le Bon formulierte Gesetz von der seelischen Einheit der Masse scheint konstituierend für die Massenbildung zu sein. Die Gemeinschaftsseele ist das, was die Masse gegenüber einer bloßen Ansammlung einzelner Individuen im besonderen unterscheidet, denn durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zu Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele, vermöge deren sie in ganz andrer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde. 2 Allein die Gemeinschaftsseele ermöglicht das Zusammengehen oder Zusammenschmelzen der Individuen zur Masse. Sie ist das mentales Element das vereinheitlichend wirkt und das stiftet, was man als Bindungen beschreiben kann. Der Prozess der Konstitution der Masse als Subsumierung der Individuen zu einer Gemeinschaftsseele wird auf der Seite des Individuums ermöglicht durch das Schwinden der bewussten Persönlichkeit und Orientie- 1 Le Bon: Psychologie der Massen, S. 29 2 Ebenda, S. 32
3 rung der Gefühle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung. 3 Die Bildung der Gemeinschaftsseele als maßgebliches Moment für die Entstehung einer Masse bleibt demnach nicht ohne Konsequenzen für das Individuum innerhalb der Masse, so Le Bon, denn in der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandesfähigkeiten und damit auch die Persönlichkeit eines jeden. Das Ungleichartige versinkt im Gleichartigen, und die unbewussten Eigenschaften überwiegen. 4 Mit anderen Worten, um Teil einer Masse werden zu können, müssen die Individuen ihre bewusste Persönlichkeit, die sie im Alltagsleben voneinander trennt, aufgeben, um das Ziel der Gemeinschaftsseele zu erreichen. Eben diesen Vorgang denkt Le Bon, wenn er von der oben zitierten Ausrichtung der Gedanken und Gefühle auf eine Richtung hin spricht. Die Masse zeichnet sich also durch eine gedanklich-innere und eine nach außen hin sichtbare Homogenität aus, die die Heterogenität der einzelnen verschwinden lässt. Die Aufgabe der eigenen Persönlichkeit macht es erst möglich, die Masse als ein beseeltes Wesen entstehen zu lassen und noch mehr, es kommt, so le Bon, zur Bildung emergenter Eigenschaften mit der Organisation der Massen. Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen, das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht, die sich für einen Augenblick miteinander verbunden haben, genauso wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden. 5 Anders formuliert, es bilden sich mit der Organisation der Masse neue Dispositionen heraus, die sich nicht auf Dispositionen der Individuen reduzieren lassen. Da sich die Masse als beseeltes Wesen aber immer noch aus Individuen konstituiert, müssen die Eigenschaften des Individuums in der Masse näher bestimmt werden, um von diesen auf den Charakter der Masse schließen zu können. Die Hauptmerkmale des einzelnen in der Masse sind also: Schwinden der bewussten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewussten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflößten Ideen. Der einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat. 6 Signifikant für das Individuum in der Masse ist demnach, dass es vom Unbewussten beherrscht wird, und gerade dieses im Individuum angelegte Unbewusste tritt hervor und steuert die Handlungen. Das Bewusstsein, das den einzelnen als selbstständiges Subjekt kennzeichnet, verschwindet in der Masse. Man könnte an dieser Stelle auch von einer Entpersönlichung sprechen. Eine zentrale Frage in diesem Kontext ist die nach den neuen Dispositionen, die eine Masse bildet, wenn sie nicht lediglich als Summe ihrer Teile verstanden wird. Le Bon geht sogar 3 Le Bon: Psychologie der Massen, S. 30 4 Vgl. ebenda, S. 34 5 Ebenda, S. 33 6 Ebenda, S. 37f