Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen I/2008 Spezialthema: Studienförderung SPEZIALTHEMA: STUDIENFÖRDERUNG Gesamtschule und Studienförderung Anfang Januar 2008 sorgte eine Untersuchung von Helmut Fend und seinen Kollegen an den Universitäten Zürich und Konstanz für Aufregung, Verwirrung und neuen Streit in der Bildungspolitik. Die Studie LIFE 12 machte deutlich, dass es zwar innerhalb integrierter Schulen gelingt, soziale Selektivität zurück zu drängen, dass aber nach dem Schulabschluss dieser schulische Einfluss wieder verloren geht und das familiäre Umfeld die Ausbildungs- und Berufschancen massiv beeinflussen. In der ZEIT Nr. 02/2008 schrieb Helmut Fend: Die Chancen eines Arbeiterkindes, einen Hochschulabschluss zu erreichen, stehen im Vergleich zu einem Kind aus den Bildungsschichten eins zu zwölf. 13 Im SPIEGEL brachte Jochen Leffers zur gleichen Zeit das Ergebnis der Studie auf die Formel: Gesamtschule folgenlos, Bildung wird vererbt. 14 Konservative Politik interpretiert die LIFE-Studie als Stütze für das tradierte gegliederte Schulwesen und schließt daraus, dass Gesamtschulen überflüssig sind. Das Anliegen der Gesamtschulen hingegen denen auch Fend bescheinigt, dass sie Kinder und Jugendliche besser fördern kann nur sein, dass diese Förderung der Benachteiligten nach dem Schulabschluss nicht aufhören darf. Der Vorstand der GGG NRW hat daher mit großer Zustimmung zur Kenntnis genommen, dass zwei bewährte Einrichtungen der Begabtenförderung sich mit Vorrang der Studienförderung von Jugendlichen aus bildungsbenachteiligten Elternhäusern widmen wollen und deswegen neuerdings gezielt Abiturientinnen und Abiturienten von Gesamtschulen und deren Lehrerinnen und Lehrer ansprechen möchten. Auf den folgenden Seiten haben die Böckler-Aktion Bildung und das Evangelische Studienwerk Villigst ihre Angebote dargestellt. Die GGG NRW möchte diese Angebote nach Kräften unterstützen und bittet insbesondere die Schulleitungen, die Informationen weiter zu geben. 12 13 14 LIFE - Lebensverläufe von der späten Kindheit ins frühe Erwachsenenalter http://www.paed-work.unizh.ch/pp1//follow-up/ Schwerer Weg nach oben http://www.zeit.de/2008/02/c-enttaeuschung Gesamtschule folgenlos, Bildung wird vererbt http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,526424,00.html - 26 -
Eike Hebecker Böckler-Aktion Bildung - Stipendien für Chancengleichheit Jürgen Theis Eike Hebecker Böckler-Aktion Bildung - Stipendien für Chancengleichheit Abitur oder Fachabitur und dann? Jugendliche aus bildungsbenachteiligten Elternhäusern finden nur relativ selten den Weg an die Universität oder Fachhochschule, selbst wenn sie es unter oft schwierigen Bedingungen geschafft haben, die Schule mit gutem Erfolg abzuschließen. Die aktuelle Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes macht das zum wiederholten Mal deutlich: 94 Prozent der Akademikerkinder, die die Sekundarstufe II abgeschlossen haben, studieren. Unter den Kindern von Nichtakademikern sind es lediglich 50 Prozent. Die gemeinnützige Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes will diesem Trend etwas entgegensetzen. Mit der Böckler-Aktion Bildung wendet sich das zweitgrößte deutsche Begabtenförderungswerk, das bisher vor allem Studierende mit Berufserfahrung gefördert hat, direkt an Schülerinnen und Schüler aus bildungsbenachteiligten Familien und natürlich an ihre Lehrerinnen und Lehrer. Denn die Erfahrungen mit der ersten Auswahlrunde zeigen, dass die direkte Ansprache durch Lehrkräfte der mit Abstand beste Weg ist, um geeignete Bewerberinnen und Bewerber auf das Angebot aufmerksam zu machen. Die Böckler-Aktion Bildung gibt es seit dem Februar 2007. Sie richtet sich an junge Menschen, die gerade ihre Studienberechtigung erworben haben oder kurz vor dem Abschluss stehen. Die Schülerinnen und Schüler eines Abiturjahrgangs können sich bereits mit ihrem letzten Zwischenzeugnis bewerben. Das wesentliche Kriterium für die Förderung ist die wirtschaftliche Lage: Das Familieneinkommen muss so niedrig bemessen sein, dass der Anspruch auf den BAföG- Höchstsatz besteht, falls ein Antrag gestellt würde. Ein zweites wichtiges Kriterium ist die Begabung. Im Bewerbungsverfahren wird jedoch nicht abstrakt anhand der Noten ausgewählt, sondern es werden auch die Umstände berücksichtigt, unter denen die Leis- Bewerbungsschluss: 30.04.2008-27 -
Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen I/2008 Spezialthema: Studienförderung tungen erbracht wurden. Darüber hinaus wird die gesamte Persönlichkeit gewürdigt, von der auch soziale Sensibilität erwartet wird. Als Indikator dafür gilt ehrenamtliches Engagement, zum Beispiel in der Schule, Kirchengemeinde, im Sportverein, sozialen Einrichtungen, in der Familie oder Nachbarschaft. Ein gewisses Interesse an gewerkschaftspolitischen Fragen kann von Nutzen sein, denn für die Zukunft erwartet die Hans-Böckler- Stiftung gesellschaftspolitisches Engagement: Beispielsweise in Hochschulgruppen, in politischen Organisationen, die sich im Sinne gewerkschaftlicher Grundwerte betätigen oder eben den Gewerkschaften selbst. Das Konzept der Böckler-Aktion Bildung verbindet den Begriff der Begabung mit materieller Bedürftigkeit und verfolgt damit auf konsequente Weise den Gedanken der Chancengleichheit. Finanziert wird die Aktion durch zusätzliche Mittel, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den 11 Begabtenförderungswerken zur Verfügung stellt sowie aus Eigenmitteln der Hans- Böckler-Stiftung. Innerhalb des vergangenen Jahres haben sich mehr als 750 junge Menschen bei der Stiftung beworben. Das belegt nicht nur den Erfolg der Aktion, sondern auch die Notwendigkeit, an der Schwelle des Hochschulzugangs anzusetzen. Studiengebühren, Bildungskredite und auch das BAföG mit seinem Darlehensanteil wirken gerade auf Studienwillige aus einkommensschwachen Verhältnissen abschreckend. Im Zweifelsfall wird daher trotz der Qualifikation für ein Studium oft der Weg einer dualen Ausbildung eingeschlagen auch um die Familie finanziell nicht weiter zu belasten. 201 zusätzliche Stipendien hat die Stiftung in der ersten Auswahlrunde vergeben. Die neuen Stipendiatinnen und Stipendiaten haben im Oktober 2007 ihr Studium begonnen. - 28 -
Eike Hebecker Böckler-Aktion Bildung - Stipendien für Chancengleichheit Eine sozialstatistische Auswertung der neu Aufgenommenen zeigt, dass die Aktion ihre Zielgruppe erreicht: 63 Prozent sind weiblich. 45 Prozent kommen aus Familien mit Migrationshintergrund. Das mittlere Alter beträgt 19,2 Jahre. Die am häufigsten gewählten Fächer sind Wirtschaftswissenschaften (16 Prozent), Naturwissenschaften (15 Prozent) und Medizin (12,5 Prozent). 26 Prozent der neuen Stipendiatinnen und Stipendiaten stammen aus Familien, die auf Hartz IV oder Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind. Im Durchschnitt haben die neuen Stipendiatinnen und Stipendiaten zwei Geschwister. Die Böckler-Aktion Bildung wird auch in diesem Jahr fortgesetzt. Interessierte junge Menschen können sich bis zum 30. April 2008 für ein Stipendium zum Wintersemester 2008/2009 bewerben. und weitere stehen unter http://www.boeckler.de/stipendium bereit. Kontakt: Dr. Eike Hebecker (Projektleiter) Telefon: 0211-7778246 E-Mail: stipendium@boeckler.de - 29 -
Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen I/2008 Spezialthema: Studienförderung Katharina Semmler Das Evangelische Studienwerk Demokratische Studienförderung für kritische Geister Das Evangelische Studienwerk e.v. Villigst ist das Begabtenförderungswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland. Es wurde im Jahr 1948 gegründet und fördert zurzeit etwa 900 Studierende aller Fachrichtungen an Hochschulen und Fachhochschulen sowie 250 Promovierende. Das Evangelische Studienwerk wird häufig als das demokratischste unter den elf Begabtenförderungswerken in Deutschland bezeichnet. Der Grund: Die Stipendiatinnen und Stipendiaten sind in allen Gremien des Werks vertreten und auf allen Entscheidungsebenen einbezogen. Im Jahr des 60. Jubiläums lohnt ein Blick darauf, mit welchen Zielen das Studienwerk in die Zukunft geht. Dabei wird eines ganz deutlich: Das Evangelische Studienwerk will vermehrt Studierende aus bildungsfernen Familien fördern, die eine finanzielle Unterstützung für ihr Studium wirklich benötigen. Noch immer ist der Gedanke weit verbreitet, dass man in der Begabtenförderung nur willkommen ist, wenn die Eltern zur gesellschaftlichen Elite gehören. Dem tritt das Evangelische Studienwerk entschieden entgegen. Begabt? Ich doch nicht!, denken viele junge Menschen, die nicht wissen, dass Begabung sich nicht immer in erster Linie in Bestnoten ausdrückt. Für das Evangelische Studienwerk zählen gesellschaftliches Engagement, Mut zum eigenen Standpunkt und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, mindestens ebenso viel wie Noten. Begabung heißt auch, fähig sein zu hinterfragen, quer zu denken, Zukunftsvisionen zu entwickeln. Begabtenförderung steht inzwischen auf der Agenda in Gesellschaft und Politik ganz oben. Im Jahr 2006 hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Mittel für Begabtenförderung deutlich erhöht. Das Evangelische Studienwerk, das bis dahin seine Stipendiatinnen und Stipendiaten stets ausschließlich durch Selbstbewerbung erhielt, führte im gleichen Jahr ein Vorschlagsrecht ein. Die guten Erfahrungen haben gezeigt, dass so auch Abiturienten und Studierende erreicht werden können, die bislang nicht über eine Bewerbung nachgedacht haben. Das Evangelische Studienwerk plant nun, das Vorschlagsrecht gezielt auszuweiten. In - 30 -
Katharina Semmler Das Evangelische Studienwerk einem Pilotprojekt sollen im Jahr 2008 zunächst einige Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen angesprochen werden. Was bedeutet ein Stipendium des Evangelischen Studienwerks? In der Grundförderung werden die Stipendiaten mit bis zu 525 monatlich gefördert. Die Berechnung erfolgt familienabhängig nach den Richtlinien des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Hinzu kommen Büchergeld, Unterstützung für Auslandsaufenthalte oder Praxissemester. Neben der finanziellen Förderung gibt es im Evangelischen Studienwerk eine umfassende ideelle Förderung. Sie schließt ein breites Bildungsangebot, z.b. Workshops, Tagungen und die berühmte Sommeruniversität, eine intensive individuelle Betreuung und Beratung durch die Studienleiterinnen und Studienleiter sowie das Mitspracherecht der Stipendiatinnen und Stipendiaten auf allen Ebenen ein. Neue Stipendiatinnen und Stipendiaten werden ohne Probezeit für die Dauer ihres gesamten Studiums aufgenommen. Sie haben während dieser Zeit Gelegenheit, interdisziplinär zu arbeiten und sich dabei intensiv mit ethischen und gesellschaftlichen Fragen auseinander zu setzen. Fristen für eine Selbstbewerbung sind der 1. März und 1. September. Informationen zum Vorschlagsrecht bietet das Evangelische Studienwerk auf Anfrage unter bewerbung@evstudienwerk.de. Weitere Informationen zum Evangelischen Studienwerk allgemein gibt es im Internet unter www.evstudienwerk.de - 31 -