Ich wollte nicht ein Jahr lang ein»yobiko«, eine Vorbereitungsschule, besuchen müssen. Schon in den ersten Tagen des Studiums wurden mir die angenehmen Seiten des Studentenlebens klar. In der Schule galt es, dauernd zu pauken, zu büffeln und sich diszipliniert zu verhalten. An der Uni hingegen ging alles viel lockerer zu. Jeder Student bekam einen Plan mit den Fächern, die er zu belegen hatte. Er konnte selbst entscheiden, ob er zu den Vorlesungen gehen wollte. Klar musste man sich zwischendurch sehen lassen und die vorgedruckten Karten ausfüllen, die vor jeder Stunde als Anwesenheitsbeweis eingesammelt wurden. Aber die konnte man zur Not auch von einem Freund oder einer Freundin ausfüllen lassen. Ob man lernte oder nicht, hing vom eigenen Willen ab. Nach vier
Jahren hatte man in Semesterprüfungen und schriftlichen Hausaufgaben eine Anzahl Punkte gesammelt, die durch eine Abschlussprüfung ergänzt wurden. Es gab kaum einen Studenten, der das nicht schaffte. In den zwei Wochen, in denen ich hier studierte, hatte ich erst wenige Studenten kennen gelernt. Meine früheren Mitschüler waren in alle Winde zerstreut. Yukiko, meine langjährige beste Freundin, war im Januar mit ihren Eltern fünfhundert Kilometer weiter nach Osaka gezogen. Wir schickten uns zwar noch Briefe und telefonierten oft, aber ich merkte, dass wir uns nicht mehr viel zu sagen hatten. Ich war etwas traurig, doch ich wusste gleichzeitig, dass für uns beide ein neuer Lebensabschnitt begonnen hatte. Auch an diesem Morgen war der Himmel von milchigem Blau; es würde ein warmer
Tag werden. Beim Gehen hob der Wind mein wippendes Haar, das ich wie die meisten jungen Japanerinnen täglich wusch und fönte. Ich trug es offen. Eine bunte Spange hielt eine Strähne fest, die mir ins Gesicht fiel, sobald ich den Kopf senkte. Ich hatte weiße Jeans und ein marineblaues T- Shirt an. Die Bücher trug ich in meinem Rucksack aus blauem Tuch. Ich ging mit raschen Schritten. Die Schuldisziplin saß mir noch in den Knochen. Jeden Morgen plagte mich die Angst, zu spät zu kommen, obwohl ich inzwischen festgestellt hatte, dass die Vorlesungen selten auf die Minute genau begannen. Ziemlich außer Atem erreichte ich das Fakultätsgebäude am anderen Ende des Campus. Die Studenten lachten und diskutierten in kleinen Gruppen vor dem Haupteingang oder drängten sich in der Halle
vor dem Aufzug. Ich blickte in die mir zumeist unbekannten Gesichter und winkte einigen Studentinnen zu. Die Morgensonne schien hell in den Hörsaal, die Klimaanlage lief bereits auf vollen Touren. Viele Studenten wie ich vom Pünktlichkeitsfieber befallen saßen bereits an ihren Plätzen. Die meisten trugen die weißen, engen Jeans, die in diesem Frühjahr Mode waren. Dazu führte man T- Shirts mit Phantasiewappen oder Goldstickereien spazieren und jeder wollte die witzigsten Turnschuhe haben. Meine waren rosa mit bunten Quasten an den Bändern. Während ich mich nach einem freien Platz umsah, fiel mein Blick auf ein Mädchen, das zufällig im selben Moment wie ich in den Hörsaal trat. Ich sah sie zum ersten Mal. Sie
war fast einen Kopf größer als ich und fest gebaut. Ihr kurzes kastanienbraunes Haar kam mir ungepflegt vor. Sie sah fremdländisch aus. Trotzdem hatte ihr Gesicht etwas Japanisches, doch ich hätte nicht sagen können, woran es lag vielleicht der volle Mund oder dass die Augen leicht schräg standen. Ihre Jeans waren nicht weiß, sondern blau und verwaschen. Dazu trug sie ein fast knielanges, unförmiges T-Shirt. Auch hatte sie nicht den üblichen Rucksack bei sich, sondern eine schäbige braune Ledermappe, die sie mit beiden Armen an sich drückte, als müsste sie sich daran festklammern. Rascher Atem hob und senkte ihre Brust. Als unsere Augen sich trafen, zuckten ihre Lippen. Sie schien gegen die eigene Verlegenheit zu kämpfen. Ihre mühsam herausgepresste Frage jedoch klang