Der Tag des Bergmanns und das Wunder von Bern



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Transkript:

1 Der Tag des Bergmanns und das Wunder von Bern Aus der Geschichte des Sports und vor allem von sportlichen Wettkämpfen sind außergewöhnliche Ereignisse und Ergebnisse bekannt, die kaum in Vergessenheit geraten und immer wieder zu besonderen Jahrestagen in den Medien präsent sind. In diesem Jahr 2014, dem Jahr der Fußball-Weltmeisterschafts-Endrunde in Brasilien, wird wiederum mit unterschiedlichen Akzenten an das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft zwischen Ungarn und der BRD erinnert werden, das vor 60 Jahren in Bern ausgetragen wurde und aus mehrfachen Gründen zur Kategorie außergewöhnlich zählt. Eingeordnet in die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der 50iger Jahre, die auf deutschem Territorium auch geprägt waren von der Entwicklung und dem Bestehen von zwei selbständigen deutschen Staaten, der DDR und der BRD, wird in den folgenden Seiten im Rückblick darüber berichtet, wie ich als junger Bürger und Sportler der DDR dieses Fußballspiel erlebte. Im Februar 1945 kam es für mich, damals 10 Jahre alt, zu einem ungewollten, von den damaligen Staatsorganen angeordneten Wohnortwechsel, den man als Flucht bezeichnete, von Breslau in das Dorf Lipprechterode im Kreis Nordhausen(Thüringen/Südharzgebiet). Der Kriegsschauplatzess des 2. Weltkrieges an der Ostfront hatte sich zum Jahreswechsel 1944/45 durch das erfolgreiche Vorrücken der Sowjetarmee nach Polen und weiter an und über die deutsche Grenze nach Schlesien verlagert. Lipprechterode lag nur ca. 2 km von Bleicherode entfernt, einem Städtchen mit etwa 10 000 Einwohnern. Der Kalibergbau war in der gesamten Region die dominierende Industrie, so auch in Bleicherode mit einem Kalibergwerk. Demzufolge bestand die berufstätige männliche Bevölkerung von Bleicherode und Umgebung überwiegend aus Fachkräften des Bergbaus und anderen handwerklichen Berufen, die im Kaliwerk Unter oder Über Tage tätig waren. In den 50iger Jahren hatte sich im Zuge der Bildung von Betriebssportgemeinschaften (BSG ) auch in Bleicherode eine leistungsfähige BSG Aktivist entwickelt, mit dem Kaliwerk als Trägerbetrieb. Die Sektion Fußball stand im Mittelpunkt. Ich hatte mich 1951 dieser Sektion angeschlossen, spielte in der B- und A- Jugend und danach in den Männermannschaften. Unser Trainer hieß Martin Schwendler, der ein effektives Training gestaltete, in späteren Jahren die DDR- Oberligamannschaften von Rotation Leipzig und Turbine Erfurt trainierte. Um die Möglichkeiten für das Training optimal wahrnehmen zu können, die das Kaliwerk seinen Sportlern bot, hatte ich meine berufliche Tätigkeit als Tischler in einer privaten Tischlerei aufgegeben und eine Arbeit als Grubenzimmermann im Trägerbetrieb der BSG begonnen. Ich war praktisch von diesem Zeitpunkt an Bergmann bis Mitte September 1954 und lernte Denken und Handeln im direkten

2 Kontakt mit den Bergleuten, die man im Volksmund auch Kumpel nannte, unmittelbar kennen, eine wesentliche Voraussetzung, um die das Erlebte möglichst objektiv einordnen und bewerten zu können. Mit dem Hineinwachsen in das Jugendalter und durch den Einfluss des Trainers, der Spieler und Arbeitskollegen, die überwiegend mehr als 10 Jahre älter waren als ich, erweiterte sich mein Blick für das sportliche Geschehen über das Territorium hinaus. Die Entwicklung des Fußballsports in der DDR, in der BRD und im internationalen Rahmen wurde nun auch im Überblick verfolgt und mit den Sportfreunden und Arbeitskollegen diskutiert. Dabei standen die Berichte der Fußballwoche (FuWo), die Fußball-Fachzeitschrift der DDR, oftmals im Mittelpunkt von Gesprächen. Große Teile der männlichen Bevölkerung von Bleicherode und der umliegenden Dörfer waren sehr fußballbegeistert, bei Heimspielen der 1. Mannschaft, die in der Landesliga spielte, waren oft mehr als 1 000 Zuschauer anwesend. Folgerichtig rückte in der ersten Hälfte des Jahres 1954 auch das bevorstehende Endrundenturnier der Fußball- Weltmeisterschaft im Juni/Juli in der Schweiz mehr und mehr in das Zentrum der Kommunikation mit den Arbeitskollegen und Sportfreunden. Die westdeutsche Mannschaft hatte sich für das WM-Turnier in der Schweiz qualifiziert, gehörte aber nicht zu den von der Weltfußballorganisation (FIFA) gesetzten, leistungsmäßig besseren Mannschaften. Warum die DDR an den Qualifikationsspielen für die WM 1954 nicht teilnahm und damit auch in der Schweiz nicht präsent war, konnte damals in meinem Umfeld niemand erklären. Erst Jahre später im Sportstudium und als ich mich für sportpolitische Hintergründe interessierte, habe ich erfahren, dass die damalige Sektion Fußball der DDR erst zu einem Zeitpunkt in die FIFA als Vollmitglied aufgenommen wurde (1952), als die Gruppeneinteilung für die Qualifikationsspiele zur WM bereits vollzogen war. Westdeutsche Sportfunktionäre folgten dem bekannten Alleinvertretungsanspruch ihrer Politiker gegenüber dem gesamten deutschen Territorium und hatten durch ihren Einfluss in der FIFA nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass es zu Verzögerungen bei der Aufnahme der DDR in die FIFA kam. Der damalige Präsident Bauwens des westdeutschen Fußballbundes (DFB) erhielt u. a. von der FIFA im Ergebnis ihrer Einflussnahme mitgeteilt: Es ist selbstverständlich, dass Deutschland bei den Weltmeisterschaften nur durch eine Mannschaft vertreten werden kann.(deutschland Archiv; 3/2004; S. 391)

3 Die Nationalmannschaft der BRD hatte bis zum Zeitpunkt des WM- Endrundenturniers keine überdurchschnittlichen Leistungen bei Länderspielen gezeigt. Während des Turnierverlaufs steigerte sie sich aber von Spiel zu Spiel und kam überraschend in das Endspiel, das für den 4. 7. 1954 im Berner Wankdorf-Stadion angesetzt war. Endspielgegner war Ungarn, gegen sie hatte die westdeutsche Mannschaft schon in der Vorrunde gespielt und verlor 8 : 3. Trainer Herberger hatte bei diesem Spiel gepokert, setzte mehrere Reservespieler ein und kalkulierte mit einer Niederlage. Er ging davon aus, dass beide Mannschaften eventuell im Endspiel wiederum aufeinandertreffen könnten. So kam es dann auch. Die ungarische Mannschaft wurde in diesen Jahren als eine der besten Fußball-Nationalmannschaften der Welt bezeichnet. Sie hatte bis zu jenem Endspiel in 32 vorangegangenen Länderspielen nicht verloren. Ungarn wurde auch Fußball-Olympiasieger 1952 in Helsinki und gewann am 25. 11. 1953 im legendären Wembley-Stadion in London gegen England sensationell mit 6 : 3. Dieses Spiel wurde als Spiel des Jahrhunderts bezeichnet. Noch nie ist England bis zu diesem Zeitpunkt im eigenen Land von einer europäischen Mannschaft bezwungen worden. Auch im Rückspiel am 23. 5. 1954 in Budapest, nur wenige Wochen vor der WM in der Schweiz, ist England mit einem Ergebnis von 7 : 1 durch die ungarische Mannschaft geradezu gedemütigt worden. Im Endrundenturnier in Bern hatte sich Ungarn gegen die hocheingeschätzten Brasilianer und gegen den Titelverteidiger Uruguay durchgesetzt. Die Vorzeichen, um Weltmeister zu werden, standen für Ungarn somit sehr gut. Im Kreise der Sportfreunde und der Arbeitskollegen wurde lebhaft über den Ausgang des Spieles gesprochen. Überwiegend war die Sympathie vor dem Spiel auf Seiten der ungarischen Mannschaft auf Grund ihrer bisherigen Ergebnisse und ihrer Leistungsfähigkeit. Mit Ungarn wurde auch mehrfach die Tatsache verbunden, dass es zur sozialistischen Staatengemeinschaft gehörte und deshalb eine gewisse Zuneigung hatte. Das Einordnen der Länder auch bei sportlichen Vergleichen in politische Einflussbereiche hatte durch den Ost-West-Konflikt im Denken bei Teilen der Bevölkerung schon eine gewisse Rolle gespielt. Deshalb war der Verstand vor diesem politischem Hintergrund im Wesentlichen bei den ungarischen Spielern. Aber der Gegner der Ungarn war ja nicht irgendeine Mannschaft, es war die Nationalmannschaft des anderen deutschen Staates, der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb war im Kontakt mit den Bergleuten, den Kollegen und Sportfreunden ebenfalls auffällig, dass man mit dem Gefühl auch bei den deutschen Spielern gewesen ist, obwohl sie an sich chancenlos sein mussten. Von der mit dem Fußballsport verbundenen Bevölkerung spürte man, dass zwei Herzen in ihrer Brust schlugen. So wurde mit großer Spannung dem Ausgang des Spiels entgegengesehen.

4 Der Tag des Endspiels, der 4. 7. 1954, war ein Sonntag. Nach Festlegungen der Regierung der DDR war jeweils der erste Sonntag im Juli der Ehrentag der Bergleute, der Tag des Bergmanns der DDR. Im Jahre 1954 fiel das schon im Vorfeld mit Emotionen verbundene Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft mit dem Tag des Bergmanns zusammen. Für das Bergarbeiterstädtchen Bleicherode bekam dieser Tag noch eine besondere Aufwertung. Die zentrale Festveranstaltung der DDR-Regierung zum Tag des Bergmanns fand zu diesem Anlass im Jahre 1954 im Kulturhaus des Kaliwerkes in Bleicherode statt. Eine Regierungsdelegation mit dem damaligen Ministerpräsidenten Otto Grotewohl an der Spitze und Vertreter anderer Bergarbeiterstädte hielten sich an diesem Tag in Bleicherode auf. Grotewohl hielt die Rede während des Festaktes im Kulturhaus. Aus Gesprächen der Bergleute und der Bevölkerung von Bleicherode konnte man entnehmen, dass man sich auf den hohen Besuch aus Berlin freute. Mit einem Marsch der Bergleute, angeführt von Spielmannszügen, ging es am Nachmittag auf den großen Festplatz. Gefeiert wurde nach dem Motto: Ich bin Bergmann, wer ist mehr. Als Bergmann war ich ebenfalls Gast auf dem Festplatz, auf dem eine gute Stimmung herrschte. Man hatte den Eindruck, die Mehrheit der versammelten Bürger und Gäste zum Bergmannsfest identifizierten sich mit der Politik von Partei und Regierung. Sie hatten auch allen Grund dazu, es ging in diesen schweren Nachkriegsjahren wirtschaftlich und für alle Bürger spürbar aufwärts in der DDR. Am Nachmittag versammelten sich auf dem Festplatz besonders die Männer in zahlreichen Gruppen an kleinen Radios und verfolgten die Übertragung aus Bern. Ich drängte mich in eine dieser Gruppen. An Imbiss-Ständen, wo größere Radioapparate standen, war die Übertragung des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft zwischen der BRD und Ungarn nicht zu überhören. Als die BRD nach einem 0 : 2 Rückstand doch noch 3 :2 gewann, jubelten die Besucher lautstark auf dem Festplatz und riefen: Wir sind Weltmeister. Ob die Gruppe, zu der ich mich gestellt hatte, die Übertragung des Reporters der BRD, Herbert Zimmermann, oder die vom DDR-Reporter Wolfgang Hempel hörte, kann ich nicht mehr sagen. Es war technisch möglich, die Reportage von Herbert Zimmermann zu verfolgen, da Bleicherode nur ca. 15 km von der Grenze zur BRD entfernt war und somit die Sendungen westdeutscher Rundfunkstationen empfangen werden konnten. Das nicht Erwartete war eingetreten. Die westdeutsche Mannschaft hatte ein sogenanntes Wunder vollbracht, das Wunder von Bern, wie westdeutsche Journalisten in den Medien den Erfolg gegen Ungarn bezeichneten. Als Wunder von Bern ging dieses Spiel auch in die Geschichtsbücher des Fußballsports ein. Mehrere Jahre nach diesem legendären Spiel fand ich die Mitteilung, dass auch die leitenden Funktionäre des Fußball-Verbandes der DDR Glückwünsche an den Kapitän der Mannschaft

5 der BRD, Fritz Walter, und an die anderen Spieler geschickt hatten. Die Berichterstattungen in den Medien der DDR waren von Sachlichkeit und Anerkennung der sportlichen Leistungen der Nationalmannschaft der BRD geprägt, wie auch in westdeutschen Presseorganen zu lesen gewesen ist (Deutschland Archiv; 3/2004; S.393). Ungarn war ein fairer Verlierer. Nach meiner Erinnerung wurde die Niederlage der ungarischen Mannschaft von der Bevölkerung bedauert, groß war die Enttäuschung. Der ungarische Fußball wurde noch einige Jahre ob ihrer Leistungen in der Vergangenheit geschätzt. Leider verlor die ungarische Nationalmannschaft schrittweise an Bedeutung in der Leistungsspitze der Fußballwelt. Bekannte Spieler des Vizeweltmeisters, wie z.b. Puskas, verließen ihr Heimatland und wurden Profis in kapitalistischen Ländern. Für die Mannschaft der BRD empfand man Anerkennung und einen gewissen Stolz, der auf Grund ihrer sportlichen Ausgangsposition und ihrer Leistungen während des Turniers in der Schweiz auch berechtigt war. Stolz war man also für eine Mannschaft und für ihre Spieler, obwohl sie Vertreter und Repräsentanten des anderen deutschen Staates gewesen sind. Gefeiert wurde also an einem Tag von dem gleichen Personenkreis, den Bergleuten, den Bürgern von Bleicherode und Umgebung sowie Gästen des Festes zwei recht unterschiedliche Ereignisse, die als gewisse Höhepunkte im Leben der Bevölkerung an diesem Sonntag im Juli 1954 empfunden wurden: Einmal der politisch und würdevoll gestaltete Tag des Bergmanns der DDR, und zum anderen der Sieg der Nationalmannschaft im Fußball der BRD gegenüber Ungarn bei der Weltmeisterschaftsendrunde 1954 in der Schweiz. Wie beide Ereignisse von den unmittelbar am Bergmannsfest teilgenommenen Menschen wahrgenommen und artikuliert wurden, belegen rückblickend und historisch betrachtet das allgemeine Stimmungsbild und Denkweisen von Teilen der DDR-Bevölkerung während der 50iger Jahre, die an diesem Beispiel widergespiegelt wurden. Eine Differenzierung und genauere Bewertung der Politik der beiden deutschen Staaten fand unter der Bevölkerung nur in Ansätzen in dieser Zeit statt. Politische Diskussionen haben damals oftmals mit der Auffassung geendet: Wir sind ja doch alle Deutsche. In der konkreten Situation, unmittelbar nach dem Schlusspfiff des Endspiels mit dem unerwarteten Sieg der bundesdeutschen Mannschaft, fühlten sich Teilnehmer des Bergmannsfestes nur als Deutsche, die Staatsangehörigkeit wurde außer Acht gelassen. Zwar fühlte man sich im Alltag mit der Politik der DDR in besserer gedanklicher Übereinstimmung, die eine antifaschistischdemokratische und sozialistische Gesellschaftsordnung nach Kriegsende und vor allem nach Gründung der DDR 1949 unter den Losungen Nie wieder Krieg, und Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen verfolgte. Mit der Politik der BRD war man dagegen mehr auf

6 Distanz, die zur Restauration militärischer und revanchistischer Kräfte führte und versuchte, eine Alleinvertretung aller Deutschen international durchzusetzen, so auch in den internationalen Sportbeziehungen. Es gab aber auch Stimmen unter der Bevölkerung, die einer gespaltenen deutschen Nation in zwei völlig selbständige, souveräne Staaten über nicht absehbare Zeiträume skeptisch in den 50iger Jahren gegenüberstanden. Die Politik hatte diese Sichtweise bewusst auch gefördert. So unterbreitete die Regierung der DDR mehrfach Vorschläge an die politische Führung der Bundesrepublik für eine Wiedervereinigung beider deutscher Staaten auf demokratischer Grundlage mit dem Aufruf Deutsche an einen Tisch. Aus unterschiedlichen Gründen kam es aber nicht dazu, weil vor allem die Adenauer-Regierung solche Vorschläge nicht beantwortete oder ablehnte. Auch die Zusammenarbeit mit den westdeutschen Sportverbänden war auf der Grundlage von Vereinbarungen mit den damaligen Sportverantwortlichen der DDR noch nicht völlig zum Erliegen gekommen. In einigen Sportarten gab es noch gesamtdeutsche Meisterschaften bis Mitte der 50iger Jahre. Erinnert sei in dem Zusammenhang. daran, dass an dem Berner Endspielwochenende in Bad Kreuznach die gesamtdeutschen Meisterschaften im Gewichtheben stattfanden. Insofern entsprach die Reaktion der Bergleute und der anderen Besucher des Bergmannsfestes in Bleicherode, wie ich sie am 4.7.1954 unmittelbar nach dem Erringen des Titels Fußball-Weltmeister durch die BRD erlebte, der weit verbreiteten, allgemeinen politischen Auffassung vieler Bürger dieser Jahre : Das Bestehen von zwei deutschen Staaten wird nur eine Übergangsperiode sein. Die Begeisterung für die Weltmeistermannschaft der BRD und ihrer Spieler nach dem gewonnenen Endspiel wich aber bald wieder der Realität des Alltags in der Gegenwart. Das Sportgeschehen und ihre Entwicklung in der DDR, besonders auch der Fußballsport, standen wieder im Mittelpunkt der Gespräche in meinem persönlichen Umfeld im Beruf und in der Sportorganisation. Die Fußball-Nationalmannschaft und die Fußball-Clubmannschaften der DDR wurden von nun an in der Öffentlichkeit im deutsch-deutschen Vergleich stets an den Leistungen der westdeutschen Weltmeister-Mannschaft und an den Ergebnissen der Vereinsmannschaften in Europäischen Wettbewerben gemessen. Leider konnte der DDR- Fußball das Leistungsniveau der BRD nicht erreichen. Der nicht erwartete Sieg der Nationalmannschaft der DDR gegen die Nationalmannschaft der BRD mit 1 : 0 während der Weltmeisterschaftsendrunde 1974 in Hamburg und einzelne beachtliche Ergebnisse der Clubmannschaften vom Magdeburg, Jena und Leipzig bei internationalen Wettbewerben entkräften nicht die generelle, vorangegangene Einschätzung über das Niveau des DDR- Fußballs. Darin liegt auch im Rückblick eine gewisse Tragik, weil wie hinreichend bekannt - in vielen anderen Sportarten der DDR-Leistungssport über Jahrzehnte hinweg, vor allem seit

7 1972, der BRD im internationalen Wettkampfgeschehen überlegen gewesen ist, augenscheinlich bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften. Die Maßnahmen zur Förderung des Leistungssports in der DDR konnten aus unterschiedlichen Gründen nicht im Fußballsport umgesetzt werden. Zweimal konnte die BRD nach 1954 nochmals Fußballweltmeister werden, 1974 und 1990. Bei dem Fußballweltmeisterschaft-Turnier in Brasilien in diesem Jahr wird der Titel Fußball-Weltmeister erneut sehr zielstrebig mit intensiver Vorbereitung der Mannschaft angestrebt, wie von den Verantwortlichen des DFB der BRD und dem Trainer in den Medien verbreitet wird. Dem Gewinn der WM 1954 der westdeutschen Mannschaft bleibt ein gewisser Mythos bis in die jüngste Gegenwart erhalten. Viele Geschichten und Legenden ranken sich um dieses Spiel. Die Politik der BRD, transportiert von den Medien, hat den Sieg über Ungarn und damit den Gewinn des Weltmeistertitels für nationalistische Ziele in der Aufbauphase ihres Staates genutzt. Bei großen Teilen der Bevölkerung der BRD fand die propagandistische Aufbereitung des Weltmeistertitels Resonanz nach dem 2. Weltkrieg, weil ihre sozial-ökonomische Situation schwierig gewesen ist und dieser sportliche Erfolg, mit Leistungen und Kampf errungen, auf das zukünftige, gesamte gesellschaftliche Leben übertragen wurde. Es kam in der westdeutschen Bevölkerung gut an, wenn u. a. in den Medien zu lesen war: Wir sind wieder wer. Völlig aus der Deckung kamen auch jene revanchistischen Kräfte, die vom Verspäteten Endsieg, von der Auferstandenen Nation und vom Symbol unzerstörbarer deutscher Tugenden sprachen (Deutschland Archiv; 3/2004; S. 392). Die Spieler wurden zu Helden hochstilisiert, obwohl sie es selbst nicht wollten, wie man lesen und hören konnte. Deshalb war es für mich wohltuend, dass sowohl der Film von Sönke Wortmann als auch der Roman von Christof Siemes, beide ebenfalls mit dem Titel Das Wunder von Bern, dieser überzogenen politisch und sportpolitisch einseitigen Interpretation nach meiner Auffassung nicht folgten. Film und Buch zeigen auch sehr realistisch die Lebensumstände und die Denkweisen von Sportlern, Fußballspielern und Menschen von Arbeiterfamilien, vor allem im Ruhrgebiet der 50iger Jahre. Im Film und im Buch stellte ich gewisse Parallelen im sozialen und politischen Umfeld der Bergarbeiterregion um Bleicherode, in der ich damals lebte, aufwuchs, arbeitete und Fußball spielte, im Vergleich zum Ruhrgebiet dieser Jahre fest. Auch das war ein weiterer Anlass, Erlebtes, über den sportlichen Wert dieses Endspiels hinaus, schriftlich festzuhalten und zu bewerten. Mit der Teilnahme an den Feierlichkeiten zum Tag des Bergmanns am 4. 7. 1954 in Bleicherode und der geschilderten Möglichkeit, die Radio-Übertragung des Fußball-Endspiels zwischen der BRD und Ungarn auf dem Festplatz verfolgen zu können, verabschiedete ich

8 mich praktisch von meinem Umfeld als Bergmann und von meiner aktiven Zeit als Fußball- Spieler der BSG Aktivist Bleicherode. Ich hatte bereits vor mehreren Wochen die Bestätigung erhalten, das Abitur an der ABF der DHfK nachholen zu können, um danach das Direktstudium an dieser Hochschule aufzunehmen. Anfang September 1954 reiste ich somit nach Leipzig und nahm das Erlebte des Bergmannsfestes, an das ich mich bis in die Gegenwart gut erinnern kann, gedanklich mit an den Hochschulort. Beide Ereignisse, politisch und sportpolitisch unterschiedlich bedeutungsvoll, die sich durch einen Zufall an einem Tag ereigneten, markierten auch einen Abschluss meiner bisherigen Entwicklung und Lebensumstände und waren gleichzeitg der Beginn einer neuen Phase meiner beruflichen Qualifizierung auf dem Gebiet des Sports. Auch deshalb haben sie in den folgenden Jahrzehnten auch einen Platz in meinen Erinnerungen gefunden.